Quorum sensing is a democratic type of decision-making process used by bacterias and revolutionaries. Photo: quorum-sensing.com
Peter Berz merkte zum letzten blog-eintrag an:
„Ob wir nicht vielleicht doch auch im Fall Kairo mehr auf die Bakterien als auf Viren setzen sollten?
Grad les ich über das Quorum Sensing der Bakterien. Sie wachsen ja nicht so einzeln vor sich hin, sondern kommunizieren in Biofilmen, auch über die Arten hinweg, untereinander. Bei einer „kritischen Signalmolekülkonzentration“ wird eine „Verhaltungsänderung der gesamten Population ausgelöst“. Das eben nennen die Biologen „Quorum sensing (engl. quorum: zur Beschlußfähigkeit erforderliche Teilnehmerzahl, to sense: fühlen, spüren)“.
Die entsprechenden Signalmoleküle kommen aus den Familien (ja, so heißts) LuxI und LuxR. Mitte der 60er – man darf fragen, warum grad zu dieser Zeit! – hat man das Quorum Sensing entdeckt und zwar bei der Leuchtbakterie Vibrio Fischeri. Die lebt in Symbiose mit bestimmten Fischen und wenn das Quorum Sensing eine genügende Bakteriendichte signalisiert, dann wird die Luciferase aktiviert und das entsprechende Organ des Fischleins leuchtet. Lichtsignale – vom Organ des Fisches, vom Platz einer Stadt aus.“
Das „Quorum Sensing“ bedarf also der Signalmoleküle. Beim Arabischen Aufstand waren das Facebook- und Twitter-Worte mit mobilisierender Signalwirkung, so dass sich die Angesprochenen auf dem (Tahrir)-Platz trafen.
Ihre Revolution hat nach einem relativ schnellen Erfolg erst einmal wieder einen neuen Anlauf nehmen müssen. Bis zum vergangenen Freitag, als sich wieder Zigtausende auf dem Tahrir-Platz versammelten.
AP meldete heute:
Auf dem Kairoer Tahrir-Platz hat es am Wochenende die schwersten Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften seit dem Sturz des langjährigen Machthabers Husni Mubarak vor zwei Monaten gegeben. In der Nacht zum Samstag gingen nach Augenzeugenberichten Hunderte Sicherheitsbeamte mit Tränengas, Gummigeschossen und scharfer Munition gegen Demonstranten vor. Mindestens ein Mensch wurde nach amtlichen Angaben getötet und 71 wurden verletzt. Augenzeugen sprachen von mindestens einem weiteren Toten.
Führer der Protestbewegung waren danach bemüht, die Lage zu beruhigen. Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei erklärte auf seiner Facebook-Seite, zwischen Militär und Volk müsse weiterhin Vertrauen herrschen. Das sei eine „rote Linie zum Schutz der Nation“. Zum Dialog gebe es keine Alternative.
Die Militärführung, die seit Mubaraks Rücktritt am 11. Februar praktisch die Macht in Ägypten ausübt, versuchte, die Zusammenstöße auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz herunterzuspielen. In einer Erklärung wurde dementiert, dass es einen Toten gegeben habe. Offenbar um sich von dem Zwischenfall zu distanzieren, hieß es weiter, nicht Soldaten, sondern Polizisten unter der Kontrolle des Innenministeriums hätten den Platz gestürmt.
Das Gesundheitsministerium bestätigte dagegen, dass eine Person auf dem Tahrir-Platz ums Leben gekommen sei. Ärzte im Krankenhaus Kasr el Aini sagten, am Samstag seien zwei Menschen erschossen worden und sie hätten 35 Verletzte behandelt.
Nach der gewaltsamen Räumung strömten Tausende Demonstranten auf den Tahrir-Platz zurück. Sie ignorierten dabei ein Ausgehverbot, weitere Zusammenstöße gab es aber nicht. Die Demonstranten blockierten die Straßen, die zu dem Platz führen und sperrten die Eingänge mit Stacheldraht ab. Sie kündigten an, dort auszuharren, bis Verteidigungsminister Hussein Tantawi zurücktritt. Er regiert das Land derzeit an der Spitze eines Militärrats.
Die Militärpolizei, die ein Zeltlager auf dem Platz stürmte, wurde unterstützt von gepanzerten Fahrzeugen. Augenzeugen sagten, die Soldaten hätten zahlreiche Menschen in Polizeifahrzeuge gezerrt. Die Demonstranten hatten eine Menschenkette um mehrere Heeresoffiziere gebildet, die sich entgegen dem Befehl ihrer Vorgesetzten dem Protest angeschlossen hatten.
Zahlreiche Demonstranten flüchteten in eine nahegelegene Moschee, die von den Soldaten umstellt wurde. Über Stunden waren Schüsse zu hören.
Nur wenige Stunden zuvor hatten Zehntausende auf dem Tahrir-Platz demonstriert. Es war eine der größten Kundgebungen seit Wochen. Die Demonstranten forderten die strafrechtliche Verfolgung von Mubarak und seiner Regierung. Stärker als bei früheren Protesten übten die Demonstranten auch direkte Kritik am Obersten Rat der Streitkräfte und an Tantawi, einem früheren Parteigänger Mubaraks.
Mubarak und seine Familie stehen in einem Präsidentenpalast im Badeort Scharm el Scheich am Roten Meer unter Hausarrest. Ihr Vermögen wurde eingefroren. Bei vielen Ägyptern wächst aber die Ungeduld, weil immer noch keine Schritte gegen Mubarak und seine Familie unternommen wurden.
Noch brutaler ging es auf einigen öffentlichen Plätzen im Jemen und in Syrien ab Freitag zu – wie AP meldet:
Im Jemen und in Syrien sind Sicherheitskräfte am Wochenende erneut gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen. In der jemenitischen Hauptstadt Sanaa und anderen Städten des Landes eröffneten loyal zu Präsident Ali Abdullah Saleh stehende Sicherheitskräfte am Samstag das Feuer auf Demonstranten, die zu Hunderttausenden protestiert hatten. In Syrien schossen Sicherheitskräfte laut Menschenrechtsaktivisten mit scharfer Munition auf einen Trauerzug. Es gab mehrere Verletzte. In den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde ein Demokratie-Aktivist festgenommen.
In Sanaa wurden mindestens elf Menschen von Kugeln getroffen und viele weitere verletzt, als Polizisten in Zivil auf Demonstranten schossen, auf sie einschlugen oder mit Steinen bewarfen, wie ein Arzt mitteilte, der die Verletzten behandelte.
Zu Gewalt kam es auch wieder in der südlichen Stadt Tais, wo Zehntausende wegen des Todes von vier Demonstranten protestierten, die am Freitag ums Leben gekommen waren. Die Menschenmenge machte den örtlichen Gouverneur, den Sicherheitschef und den Vorsitzenden der regierenden Partei für den Tod der Demonstranten verantwortlich. Seit Beginn der Proteste im Februar wurden im Jemen mehr als 120 Menschen getötet.
Auch in anderen Städten im Jemen zogen Tausende Menschen auf die Straßen, um sich solidarisch mit den Demonstranten in Tais zu zeigen. In Aden kam das öffentliche Leben zum Stillstand. Regierungsstellen, Schulen und Geschäfte blieben geschlossen.
Syrische Sicherheitskräfte schossen nach Angaben einer Menschenrechtsorganisation mit scharfer Munition auf einen Trauerzug in Daraa. Dabei seien mehrere Menschen verletzt worden, berichtete der Leiter der Nationalen Organisation für Menschenrechte, Ammar Kurabi.
Am Vortag waren bei Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten landesweit 37 Menschen getötet worden. Es war der bislang blutigste Tag seit Beginn der Unruhen im März. Die meisten Opfer gab es in Daraa. Menschenrechtsaktivisten und Augenzeugen in der Stadt erklärten am Freitag, Sicherheitskräfte hätten auf Zehntausende Demonstranten geschossen. 25 Menschen seien ums Leben gekommen und Hunderte weitere verletzt worden.
Das staatliche Fernsehen berichtete dagegen, aus den Reihen der Demonstranten sei zuerst geschossen worden. 19 Beamte seien getötet worden. Die Chefredakteurin der staatlichen Zeitung „Tischrin“ wurde am Samstag entlassen, weil sie in einem Interview des arabischen Fernsehsenders Al Dschasira die Sicherheitskräfte für die Gewalt am Freitag verantwortlich gemacht hatte.
Auch in der Hafenstadt Latakia wurden offenbar Scharfschützen gegen Hunderte Demonstranten eingesetzt. Anwohner berichteten, in der Nacht stundenlang Schüsse gehört zu haben, während Sicherheitskräfte mit Gewalt Sitzblockaden auflösten. Berichte über Tote oder Verletzte gab es zunächst nicht. „Die Schießerei dauerte fast zwei Stunden. Es war angsteinflößend“, sagte ein Anwohner, der aus Angst vor Repressionen nicht namentlich genannt werden wollte.
Haitham al Maleh von der syrischen Opposition sagte am Sonntag, Sicherheitskräfte hätten die Hafenstadt Banias umstellt, wo sich Demonstranten für weitere Proteste gegen die Regierung versammelt hätten. Truppen hätten Kontrollpunkte am Eingang zur Stadt errichtet. Die Nationale Organisation für Menschenrechte teilte mit, ein Mensch sei verletzt worden. Es sei aber unklar, ob er von Polizisten angeschossen worden sei.
Menschenrechtsaktivisten riefen zu täglichen Protesten gegen die syrische Regierung auf. Entsprechende Appelle tauchten am Samstag in sozialen Netzwerken im Internet auf. Die syrische Protestbewegung ruft seit drei Wochen jeden Freitag zu Kundgebungen gegen die Regierung von Baschar Assad auf, dessen Familie seit nunmehr fast 40 Jahren in Damaskus regiert. Menschenrechtsorganisationen zufolge kamen bei der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste bislang mehr als 170 Menschen ums Leben.
Auch in einigen Golfstaaten wurden wieder Oppositionelle verfolgt:
So nahmen die Behörden in den Vereinigten Arabischen Emiraten einen weiteren Demokratie-Aktivisten fest. Zuvor war bereits der Blogger und Menschenrechtsaktivist Ahmed Mansur in Dubai festgenommen worden, der sich für Reformen eingesetzt hatte, wie ein Anwalt und ein politischer Aktivist am Sonntag sagten.
Fahad Salem al Schehhi sei am späten Samstagabend (Ortszeit) in Adschman, einem Emirat nördlich von Dubai, in Gewahrsam genommen worden, sagte der Menschenrechtsaktivist Mohammed al Mansuri. Er habe sich an einem Forum im Internet beteiligt, in dem demokratische Reformen in Emiraten gefordert worden seien.
In den von Scheichs regierten Emiraten gibt es keine offiziellen Oppositionsgruppen und politische Parteien sind verboten.
Der Funke (Iskra) des Arabischen Aufstands sprang unterdes auf Europa über:
Reuters meldete aus Kroatien:
Anti-government protesters demonstrate along a street in central Zagreb March 19, 2011. protesters are demanding for an early election because they are unhappy about the government’s policies and the economic woes of the EU candidate. Unemployment in croatia rose further in February as rallies continued across the Balkan state demanding an early election in protest against falling living standards and the almost 20 percent jobless rate.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 7.April über die Situation in Spanien:
Der 19-jährige Jura-Student Fabio Cortese hockt auf einer Treppe der Complutense-Universität und sagt, mehr als 2000 Menschen hätten in den letzten Tagen den Aufruf zur Demonstration unterzeichnet: Rocker, Professoren, linke Schriftsteller, Künstler. Und Studenten, viele Studenten, die sich in dem Protest-Motto wiederfinden: ‚Keine Wohnung. Keine Arbeit. Keine Rente. Keine Angst.‘ Die Resonanz, sagt Cortese, deute darauf hin, ‚dass sehr viele nur auf das Zünden eines Funken gewartet haben, um zu zeigen, dass es sehr wohl Opposition gibt gegen das, was in diesem Land passiert.‘
In kaum einem Land hat die Wirtschafts- und Finanzkrise so heftig zugeschlagen wie in Spanien, wo sie mit dem jähen Ende des Immobilienbooms zusammenfiel. Die Arbeitslosigkeit hat längst die 20-Prozent-Marke überschritten; die Ökonomen streiten über die Frage, ob die Fünf-Millionen-Marke noch in diesem Jahr erreicht wird. Unter jungen Erwachsenen liegt die Erwerbslosigkeit noch höher, bei den Unter-25jährigen sogar bei 40 Prozent – europäischer Rekord. Die Medien haben dafür einen eigenen Begriff geprägt: ‚Generaciãn Ni-ni‘, die ‚Weder-noch-Generation‘. Es sind Menschen, die weder studieren noch arbeiten. Aber bislang haben sie kaum protestiert. Massendemonstrationen wie in Frankreich, England, Italien oder zuletzt Portugal, wo Zehntausende Jugendliche mit den größten Protestmärschen seit dem Ende der Salazar-Diktatur überraschten, hat es hier nicht gegeben.
Zwei Wochen haben sie in Gesprächszirkeln und Kommissionen um ihren Text gerungen: 40, vielleicht 50 Studenten aus diversen Verbänden, die nun fast täglich in der Eingangshalle der Philosophischen Fakultät im Kreis hocken und diskutieren, Plakate malen, die Notwendigkeit neuer Kommissionen prüfen. Die Strategien und Instrumente der Mobilisierung haben sie sich bei ihren arabischen Altersgenossen abgeschaut: Facebook, Twitter oder eine Homepage, die mit einem Youtube-Video verlinkt ist, auf dem zwei Dutzend junger Männer und Frauen die Fensterfront einer Filiale der Santander-Bank mit Aufklebern vollpappen.
Reuters meldete dann aus Madrid:
Protesters shout slogans during a demonstration in Madrid April 7, 2011. Youth groups gathered in downtown Madrid under the slogan „Youth with no future“ to protest against spain’s high youth unemployment rate and government spending cuts.
Die taz berichtete am Wochenende aus Kairo:
Schon gegen sieben Uhr morgens haben sich mehrere Hundert auf dem Tahrirplatz in Kairos Zentrum versammelt. Verschlafen stehen sie in kleinen Gruppen herum, füllen Wasser in Flaschen, bereiten Transparente vor. Manche sind gleich über Nacht geblieben und gerade dabei, sich aus ihren Decken zu schälen, andere proben schon eine kleine Demonstration.
Es ist Freitag, und wie schon in der Woche zuvor haben zahlreiche Parteien, Gruppen und Bündnisse zu der Kundgebung aufgerufen, um Druck auf die Armee auszuüben, die in Ägypten seit dem Rücktritt von Präsident Husni Mubarak am 11. Februar herrscht. Die Demonstranten fordern, dass die Verantwortlichen der alten Regierung endlich vor Gericht gestellt und ihre Organisationen wie die Staatspartei NDP oder der Sicherheitsdienst endlich aufgelöst werden. Einige Protestierende haben Schildkröten mitgebracht, die symbolisieren, dass ihnen die Umsetzung der Revolutionsforderungen deutlich zu langsam geht. Die Proteste richten sich aber auch gegen die Armee, die den seit dreißig Jahren geltenden Ausnahmezustand nicht aufhebt, sondern mit neuen Gesetzen gar verschärft hat.
Die Breite der Proteste ist an diesem zweiten großen Protesttag im April deutlich größer geworden. Auch die Muslimbrüder haben diese Woche zur Teilnahme aufgerufen, viele ihrer Anhänger sind dem Ruf gefolgt. Die Jugendbewegungen treten dieses Mal geschlossen auf: Vor wenigen Tagen haben sich Delegierte von über 100 Organisationen getroffen, um den Aufruf und den Ablauf der Proteste abzustimmen und zu koordinieren. Dabei sind auch Studenten, die gegen die brutale Räumung der besetzten Kairoer Universität demonstrieren, und Gewerkschaften, denn das Militär geht hart gegen Streikende im ganzen Land vor und die Medien scheuen sich, darüber zu berichten.
Selbst aus dem Militär gab es offenbar Unterstützung. Auf YouTube tauchte ein Video auf, in dem ein angeblicher Offizier die Soldaten aufruft, sich an den Protesten zu beteiligen. Die Armee dementierte am Donnerstagabend, dass es sich um einen Offizier handele, wollte aber keine näheren Angaben machen. Stattdessen drohte sie, jeder Soldat, der in Uniform an den Protesten teilnimmt, werde sofort vor ein Militärgericht gestellt.
Dennoch kamen viele Soldaten zu den Protesten. Die Demonstranten begrüßten sie jubelnd und trugen sie auf Händen über den Platz. Die breite Mobilisierung hatte trotz des sperrigen Namens „Freitag der Reinigung und des Gerichts“ Erfolg. Waren es vergangene Woche je nach Quelle 50.000 bis eine Million Menschen, die auf den Platz strömten, so waren es jetzt deutlich mehr.
An den Eingängen zum Tahrirplatz in Kairo kontrollieren Freiwillige die Menschen sorgfältig nach gefährlichen Gegenständen, auf dem Platz selbst ist kein Durchkommen mehr. Die Jugendbewegungen haben angekündigt, sollte die Armee sich weiterhin weigern mit ihnen über ihre Forderungen zu sprechen, den Platz auch am Abend nicht zu verlassen, sondern erneut zu besetzen – wie vor zwei Monaten zu Beginn der ägyptischen Revolution.
In einem Interview sagte der Befreiungstheologe und ehemalige nicaraguanische Kulturminister Ernesto Cardenal, dass solche Aufstände wie in Arabien in Lateinamerika noch nicht möglich seien: Dort verlangen die Massen charismatische Führer. Ohne Führer gehe es dort nicht los. In Lateinamerika wird noch immer leninistisch gedacht – in Anführern und geführten Massen. Cardenal erwähnt als ein solches positives Führer-Beispiel den intelligenten, ganz lange Reden haltenden Chavez, der sich jetzt jedoch mit seiner unbeirrbaren Parteinahme für die Massenmörder Gaddafi und Assad als ein Superarschloch entpuppt hat, was Cardenal freilich mit Nichtwissen bestreitet. Er gibt allerdings zu, dass man in Lateinamerika nach wie vor einem (sowjetisch inspirierten) antiimperialistischen Blockdenken anhängt. Und da darf eben kein Stein (Schwein) rausgehauen werden.
In der Wochenendausgabe der taz schreibt demgegenüber der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun:
In Debatten im Fernsehen oder im Rundfunk wird oft „das Schweigen der arabischen Intellektuellen“ bedauert. Doch seit die arabische Welt in ihrer Vielfalt und Komplexität unter mehr oder weniger unverhohlen diktatorischen Regimen leidet (also seit etwa einem halben Jahrhundert), sind die Intellektuellen nie verstummt und haben sich auch nicht damit abgefunden, verachtet und gedemütigt zu werden.
Viele haben für ihr Engagement mit jahrelanger Haft samt Folter und jeder Form sadistisch motivierten Entzugs bezahlt. Es gibt eine lange Liste von mutigen Menschen, die die Verteidigung der Menschenrechte mit dem Tod bezahlt haben. Ihr einziges Verbrechen besteht darin, Gerechtigkeit und Freiheit für die arabischen Bürger gefordert und sich für die Anerkennung der unantastbaren Rechte des Individuums eingesetzt zu haben. Bücher sind verfasst worden, die meisten wurden verboten und nur wenige übersetzt. Einige Medien aus Ägypten, Libanon, Algerien und Marokko haben unaufhörlich informiert und ebenjene politischen Systeme angeprangert, die nun Konkurs angemeldet haben; immerhin zwei der am festesten etablierten Diktatoren sind in der Folge zurückgetreten beziehungsweise geflüchtet.
Wir möchten also aus Europa bitte nie mehr zu hören bekommen: „Die arabischen Intellektuellen wehren sich nicht.“ Denn der Satz entbehrt jeder Grundlage. Sie wehren sich nicht nur, sie gehen auch jedes Mal Risiken ein, die kein westlicher Intellektueller sich vorstellen kann.
Bleibt noch Gaddafi, der Abscheuliche. Sein Fall ist am tragischsten, denn hier haben wir es mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun. Diese Verbrechen begeht er seit Jahrzehnten ungestört und ungestraft. Er wird nur vor Gewalt weichen. Doch die Aufständischen, die versucht haben, den Osten des Landes zu befreien, sind weder organisiert noch gut ausgebildet. Gaddafi behandelt sie wie einen äußeren Feind und bekämpft sie mit der Luftwaffe und schwerem Geschütz. Im Fall Libyen wird es keine schnelle radikale Lösung geben. Doch über kurz oder lang müssen auch dieser groteske Diktator und sein Clan abziehen (sollten sie einen Abnehmer finden) oder einfach von der Bühne verschwinden wie in einer von einem gefälligen Dramaturgen schlecht inszenierten Tragödie: Sie werden vom Wüstensand verschluckt werden.
Es gibt eine erdrückende Verantwortung der USA und Europas für den Fortbestand dieses Regimes seit der Zeit, als es offen Terrorismus verübte. In der Nacht vom 17. auf den 18.März 2011 hat der UNO-Sicherheitsrat – einige Mitglieder mit Vorbehalt, in jedem Fall sehr spät und nur auf Drängen Frankreichs – die Resolution 1973 verabschiedet, um die libysche Zivilbevölkerung vor der mörderischen Häme Gaddafis und seiner Söldner zu retten. Die Verzögerung und das Zaudern der internationalen Gemeinschaft kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden: Zu einem bestimmten Zeitpunkt konnte man den Eindruck gewinnen, Gaddafi könne in Ruhe sein Volk abschlachten, weil sowohl die Arabische Liga als auch die USA dem saudischen Druck nachgegeben hätten, den Sturm des Aufstands aufzuhalten.
Die saudische Armee ist den immer stärker von Massenprotesten angeschlagenen Machthabern in Bahrain zu Hilfe geeilt. Laut der Agentur Reuters vom 15. März 2011 wurden mindestens 200 Menschen bei den Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften in Manama getötet.
Die Resolution 1973 wird nicht alle Probleme lösen können, insbesondere weil die USA nicht noch in einem dritten islamischen Land direkt „eingreifen“ wollen. Gaddafi ist eine Art intelligenterer und perverserer Saddam Hussein. Er ist nicht verrückt, auch wenn er bestimmte psychische Störungen hat; sagen wir, es handelt sich um einen Psychopathen, der verschiedene Elemente mehrerer die Geschichte in Trauer versetzender Diktatoren in sich vereint: eine Prise Mussolini, ein wenig Stalin, ein wenig Saddam und viel eigene Perversität.
Gaddafi ist fasziniert von Nasser. Er wird niemals so viel Anerkennung und Prestige erlangen (selbst wenn Nasser auch ein Diktator war). Gaddafi hat seine psychischen Komplexe in großspurige Trümpfe umgewandelt. Er hat schon immer aus der Distanz zur ihn umgebenden Wirklichkeit heraus gehandelt. Er agierte aus der Schräge, selten von vorne. Libyen ist sein persönliches „Hab und Gut“. Er versteht gar nicht, wie man ihm das streitig machen oder ihm seine Haltung vorwerfen kann. Er wird bis zum Ende kämpfen, alle Register ziehen, seine Schläferzellen auf der ganzen Welt wecken, um Terrorakte zu begehen.
Am besten wäre es, wenn Gaddafi verhaftet und vor Gericht gestellt würde. Doch er bereitet sich wohl auf alles Mögliche vor, wie sonst hätte er sich 42 Jahre an der Macht halten können?
Es erheben sich Proteste gegen die westliche Armada gegen Gaddafi. Sicher prägt die Erinnerung an den März 2003 (die US-amerikanische Intervention im Irak) als endlose Tragödie das arabische Gedächtnis. Doch heute handelt es sich um Hilfeleistung für ein bedrohtes Volk. Wer ertrinkt, ergreift jede Hand, die sich ihm entgegenstreckt: Man rettet sich an Land und diskutiert später. Das Unglück will, dass die arabische Welt seit mehr als einem halben Jahrhundert unter einer Art Fluch leidet. Illegitime Regime, mehr oder weniger unverhohlene Diktaturen, Erniedrigungen der Völker, Unrecht so gut wie überall. Nun weht ein Wind der Freiheit in diesen Ländern; er bringt auch Würde und die Anerkennung des Einzelnen mit sich. Natürlich klingt das alles nicht wie in einer Symphonie, wo jede Note ihren Platz hat. Es gibt Improvisation, Impulse, Ungeduld, schöpferische Kreativität, und man kann noch nicht wissen, worauf das alles hinausläuft. Sicher ist nur, dass kein einziges arabisches Staatsoberhaupt absolute diktatorische Macht mehr ausüben kann. Die Angst ist verschwunden, wie weggeblasen.
Männer und Frauen haben ihr Leben gegeben, damit dieser Frühling zu einer Befreiung werden kann. Die Ängste der Machthaber vor den möglichen Entwicklungen in Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien sind verständlich. Manche Staatssysteme werden härteren Widerstand leisten als andere. Doch das Ende des Films kennen wir bereits: Die arabische Welt befindet sich mitten in einem Befreiungsprozess.
Der größte Sieg des arabischen Frühlings liegt in seiner Reife; seit Langem häufen sich die Demütigungen, wird die Verachtung immer unerträglicher, ist das Fass am Überlaufen und droht sogar in tausend Teile zu zerbersten. Doch die Geschichte hat ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene Logik, die nicht immer denen der Historiker entsprechen.
Die Menschen sind spontan auf die Straße geströmt, entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten, ohne die Befehle irgendeiner Führungsfigur, eines Parteiverantwortlichen oder gar religiösen Oberhaupts zu befolgen. Der Sieg ist errungen: eine natürliche Revolution, die von allein vom Baum gefallen ist wie eine reife Frucht an einem Wintertag. Ihr Fall hat andere Früchte mitgerissen, und die Bäume haben zu tanzen begonnen wie zu einem glückbringenden Fest.
Niemand kann diese Bewegung vereinnahmen, deren Druckwelle bis nach China durchgedrungen ist und die wahrscheinlich auch nicht vor den kränkelnden multikulturellen Vororten europäischer Großstädte haltmachen wird.
In erster Linie bedeutet diese Bewegung die Niederlage des Islamismus. Die islamistischen Aktivisten wurden vom Ausmaß der Proteste überrumpelt und waren größtenteils nicht vertreten. Neue Werte, die eigentlich alte Werte sind, haben das Terrain der arabischen Protestbewegung erobert: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit. Das islamistische Softwarepaket – wie es einige nennen – hat den Anschluss verpasst. Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den einschläfernden, anachronistischen und stumpfsinnigen Diskurs des Islamismus hinweggefegt, der zu seiner Verbreitung auf das Irrationale und einen neurotischen Fanatismus setzte.
Bei den großen Demonstrationen hat es an keiner Stelle eine Parole gegen die anderen gegeben: die Ausländer, die Europäer oder die Israelis. Diesmal haben die Araber ihr Schicksal in die eigene Hand genommen und beschlossen, den Zug der Moderne zu besteigen, ohne sich hinter einem Alibi zu verstecken oder dem Rest der Welt Schuldgefühle einzuimpfen. Was sie aus dieser neu entdeckten Würde machen, ist ihre Sache. Sie werden improvisieren und wahrscheinlich Fehler machen, doch sie wissen, dass sie nie wieder unter dem Joch eines aufgeklärten oder finsteren, lächerlichen oder grausamen Diktators leben werden. Wir sollten uns aber keinerlei Illusionen hingeben: Die Regime in den verschiedenen arabischen Ländern werden alles tun, um diese Befreiungswelle aufzuhalten.
Diese Revolte erreicht nach und nach den Status einer Revolution, sie weitet sich auf immer mehr Länder aus, und vor allem ist sie zuerst und insbesondere ethisch und moralisch.
Heute sind sie alle verstört: die alten Bärte, die Diktatoren, die Sicherheitssheriffs, die Muchabarats (Geheimdienstleute), alle, die gewaltsam Macht ausgeübt und Verbrechen verübt haben, aber bisher ungestraft davongekommen sind. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Nie im Leben hätten sie sich vorstellen können, dass das Volk eines Tages aufbegehrt. Sie gingen davon aus, dass sie die Menschen endgültig niedergeschlagen, erniedrigt und am Boden zerstört hätten und sich niemand mehr aufrichten könne.
Diese Methoden hatten sich ja lange bewährt: in Lateinamerika, in den kommunistischen Ländern unter Sowjetregimen, in Afrika. Sie übten ausgeklügelte Strategien der Diktatur aus, sicherten sich nach allen Seiten ab, und der Zeitgeist sowie die westliche Welt gaben ihnen recht oder widersprachen zumindest nicht. Ihnen war nie der Gedanke gekommen, dass ihr Niedergang hart und unaufhaltsam sein würde. Nun verfallen sie in Panik, lassen in die Menge schießen, morden, halten beharrlich an ihrer Dummheit fest und handeln grausamer denn je. Sie mussten feststellen, dass der aus einem kleinen Land aufgezogene Sturm der Freiheit stärker und gewaltiger ist als alle Windböen, die sie ausgelöst haben, wenn sie Bürger unterdrückten, folterten und töteten, deren einziges Verbrechen darin bestand, sich für Freiheit und Würde einzusetzen.
Nach Libyen ist die Reihe nun an Syrien, einer alten vom Vater auf den Sohn übergegangenen Diktatur, die seit 41 Jahren besteht. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert strömen die Menschen auf die Straße und prangern dieses unmenschliche Regime an. Unmenschlich war auch dessen Reaktion: Am 15. März 2011 wurden in Daraa, einer hundert Kilometer südlich von Damaskus gelegenen Stadt, hundert Demonstranten getötet, darunter auch Kinder.
Diese Regime werden sich mit allen Mitteln verteidigen, denn ihre Vertreter wissen, dass sie keinerlei Legitimität besitzen und auch keinen Zufluchtsort finden werden. So ergeht es heute Gaddafi, und so wird es auch Baschar al-Assad ergehen, wenn er weiter auf Gewalt und Verbrechen setzt.
Keine Repression der Welt kann die befreiende Wucht der Bewegung des arabischen Frühlings aufhalten. Die Bewegung ist lebendig und kreativ. Getragen wird sie von einer neuen Generation von jungen Menschen, von denen einige im Ausland gelebt haben und die alle im Gegensatz zu ihren Eltern die Fenster zur Außenwelt aufgerissen haben. Sie haben gesehen, wie junge Menschen in anderen Ländern leben; sie haben festgestellt, dass Freiheit eine Voraussetzung für wahres Leben ist. Wie im Traum hatten sie Eingebungen: Ihr könnt ein besseres Leben haben; ihr könnt den Diktaturen ein Ende setzen; es ist möglich, in Würde zu leben. Aber wie? Mit welchen Mitteln? Einfach indem man kommuniziert, Ideen austauscht, Pläne schmiedet. Die ganze Welt ist nur einen Mausklick entfernt. Sie ist riesig, diese Welt, doch die Zeit hat sich beschleunigt.
Die jungen Menschen haben sich gefragt, wie ihre Eltern sich damit abfinden konnten, unter schändlichen Diktaturen zu leben. Diese Regime haben sich durch Terror und Gewaltverbrechen an der Macht gehalten. Unendlich viele oppositionelle Männer und Frauen sind verschwunden, andere starben an der Folter, wieder andere leben im Exil. Das Besondere an der neuen Generation ist: Sie hat keine Angst! Das illustriert zum Beispiel das Schicksal des Libyers Mohammed Nabus. In Syrien haben Jugendliche Parolen gegen das Regime an die Mauern gesprüht; sie wurden verhaftet und brutal gefoltert. Doch andere Jugendliche machen an ihrer Stelle weiter.
Diese neue Generation ist überall. Sie ist vielfältig und dennoch gleich. Sie ist in den verschiedenen Ländern verankert und hat doch ein Bein in der Außenwelt. Sie ist beseelt von den gleichen Ansprüchen und Idealen. Nicht nur dass die autoritären Regime das nicht voraussehen konnten, sie begreifen es nicht einmal. Sie entdecken plötzlich, dass dieser Aufstand nicht verhandelbar ist, sie müssen jeden Tag erneut feststellen, dass nichts die jungen Menschen aufhalten wird. Das ist das Neue und Historische an der jetzigen Situation.
Niemand kann heute wissen, was aus diesen Aufständen entstehen wird. Es wird Irrtümer, Versuche, vielleicht auch Unrecht geben, doch eines ist sicher: Nie wieder wird ein Diktator die Würde des arabischen Menschen mit Füßen treten können.
Diese Aufstände lehren uns etwas Einfaches, was die Dichter schon so oft besungen haben: Wer erniedrigt wird, weigert sich früher oder später, auf den Knien zu rutschen, und setzt sich unter Lebensgefahr für Freiheit und Würde ein. Diese Wahrheit ist allgemeingültig. Es ist eine große Freude, dass nun gerade die arabischen Völker die Welt daran erinnern.
Auf dem taz-Medienkongreß am Wochenende „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“ kam die „Key-Note“ vom US-Internet-Experten Jewgenij Morozow:
Er sprach über die große Internet-Euphorie seit 2005 in bezug auf Demokratisierung der Schweinesysteme – und das sind ja genaugenommen alle Staaten der Erde. Und deswegen haben sie sich auch sofort aufgeschwungen, um 1001 Tricks gegen die Internet-Kommunikation von unten sich einfallen zu lassen. Und nun tobt dort ein „Cyber-War“. Morozow meint, die online-Welt können diese Drecksäcke inzwischen leichter manipulieren als die Offline-Medien. „Die Regierungen nutzen bereits die Macht der Revolutionen für sich.“
Aus Tunesien und Ägypten hatte die taz zwei Bloggerinnen eingeladen: die aus kommunistischem Elternhaus stammende Kairoer Biologin Mona Seif und die Linguistin Lin ben Mhenni aus Tunis. Letztere meinte:
„Die Frauen waren immer mit als erste dabei. Es haben mehr Frauen als Männer demonstriert.“ Nun sei das „Chaos“ überall – aber wir sollten alle nach Tunesien kommen, es sei wunderbar. Die alte Schweinebande versuche zwar, wieder an die Macht zu kommen, sie haben eine eigene Miliz, aber die Tuinesier bekämpfen sie. Noch sei also nichts verloren. Im übrigen halte sie die Anti-AKW-Proteste in Deutschland für ein „luxurious trouble“.
Das christliche Medienmagazin „pro“ schreibt über sie:
Lina ben Mhenni könnte eine junge Frau sein, die gerne auf Rockkonzerte geht, in ihrem Blog über ihre Pläne für den nächsten Sommerurlaub schreibt und ab und an twittert, wie ihr der letzte Kinobesuch gefallen hat. Doch die kleine Tunesierin ist eine der wichtigsten Figuren einer Revolution, die im Internet begonnen hat. Unter echtem Namen bloggt sie über die Zustände in ihrem Land, ihre Lebensbedingungen und ihren Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, nach Freiheit. Dafür wurde sie zwei Jahre lang von der Polizei verfolgt, bedroht, sogar misshandelt. Nur festnehmen wollte sie keiner. „Die Öffentlichkeit hat mich geschützt“, sagt sie. Denn Lina ben Mhenni ist bekannt. Die Tunesier, aber auch viele ausländische Journalisten kennen ihren Namen, verlassen sich auf die Informationen, die sie über das Netz vermittelt. Wer weiß, was sonst mit ihr geschehen wäre.
Die Kairoer Bloggerin meinte: Phase Eins der Revolution sei nun vorbei, „now its getting difficult because we have to struggle with the military“.
Da der kubanischen Bloggerin Yoani Sánchez die Ausreise verweigert wurde, bestand ihr Diskussionsbeitrag aus einer Video-Botschaft, die ebenso kämpferisch wie anrührend war:
Ich möchte diese Minuten nutzen. Es wird recht kurz werden, weil die Internetverbindung in Kuba sehr langsam und schwer zugänglich sind, so dass sich der Zugang oft zu einer echten Odysee entwickelt. Ich will Euch kurz ein wenig über die alternative Blogosphäre in Kuba erzählen, über die Möglichkeiten, die neuen Technologien zu nutzen und darüber, wie sich das auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft auswirkt.
Als ich 2007 anfing, meinen Blog „Generation Y“ zu schreiben, fühlte ich mich ziemlich unsicher. Ich hatte das Gefühl, dass ich da zur Pionierin eines Phänomens geworden war, dessen Einflussmöglichkeiten auf die wirkliche Welt noch nicht abzuschätzen waren. Für mich war es damals eher eine innere Motivation, mit dem Blog zu beginnen, als dass ich das als eine sozial oder zivilgesellschaftlich wichtige Aufgabe angesehen hätte. In den ersten Monaten hab ich den Blog immer meinen „persönlichen Exorzismus“ genannt, meine Therapie, um all das loszuwerden, was sich aufgestaut hatte. Ich hab das gemacht, um nicht verrückt zu werden, und um mein Heil weder in der Flucht noch in der Indifferenz zu suchen.
Diese sehr individuelle Entscheidung am Anfang verwandelte sich allerdings bald in eine ansteckende Gruppenerfahrung, die dann immer mehr gesellschaftliche Zielsetzungen bekam. Es entstand eine kleine Blogosphäre.
Die kubanische Blogosphäre hat einige besondere Charakteristiken, von denen ich euch berichten möchte. Zunächst hat sie eine völlig horizontale Struktur. Sie hat keinen Anführer. Auch wenn viele inner- und außerhalb Kubas in mir das Gesicht der kubanischen Bloggerszene sehen, so sind wir doch einfach Menschen, die Gedanken, Argumente und Kriterien miteinander austauschen. Niemand ordnet sich irgendjemandem unter. Das war wahrscheinlich auch der Schlüssel dafür, dass es uns noch gibt, dass wir leben und uns weiterentwickeln.
Regierungen wie das kubanische Regime, also vertikale Strukturen mit einer sehr klar definierten Führungspersönlichkeit, mit einer klar strukturierten Befehlskette von oben nach unten, solche totalitären Regimes sind sehr effektiv darin, Strukturen zu bekämpfen, die so ähnlich sind wie sie selbst. Deshalb fällt es ihnen so schwer, die Blogosphäre auszuschalten oder zu neutralisieren. Bloggen ist wie ein Virus: Einer steckt den anderen an, und die Bloggergrippe verbreitet sich immer weiter. Aber es gibt keinen Kopf, den man abtrennen könnte, keinen Chef, den man einsperren könnte, keinen Führer, den man zum Schweigen bringen könnte, damit alle schweigen.
Eine andere Charakteristik der kubanischen Bloggerszene ist, dass sie auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko ins Netz geht. In einem Land mit dem niedrigsten Internetzugang in der gesamten Hemisphäre wird es zu einem schwierigen Abenteuer, ins Netz zu gehen und zum Internauten zu werden. Nicht nur wegen der Zensur, den gesperrten Webseiten und den zensierten Inhalten, sondern einfach weil wir zuhause keinen eigenen Internetzugang haben. Von zuhause oder vom Arbeitsplatz aus können nur die hohen Funktionäre und die Vertrauensleute des Systems ins Internet gehen. Wir alternativen Blogger müssen uns behelfen: Internetcafés, die internationalen Hotels. Einige nutzen kleine Räume mit Internetzugang, die es in einigen europäischen Botschaften gibt. Wir machen das alles, haben aber immer Angst, dass sie uns eines Tages am Eingang eines Internetcafés aufhalten, dass sie uns den Einlass in ein Hotel verweigern, Dazu kommt, dass eine Stunde Internet im Hotel umgerechnet 6 Euro kostet – das entspricht etwa einem Drittel eines Monatsgehalts einer ausgebildeten Fachkraft in Kuba.
Wenn man also das Pro und Contra abwägt, kann man schon überlegen, warum man alternativer Blogger in einem Land sein sollte, wo alles so teuer ist. Damit meine ich nicht nur das Geld. Auch die sozialen Kosten sind hoch. Warum soll man die roten Linien übertreten und die übliche Maske ablegen, wenn damit so viele Probleme verbunden sind? In meinem Fall zum Beispiel Verteufelungs- und Stigmatisierungskampagnen, die Überwachung meines Hauses, das Abhören meines Telefonanschlusses. Wer von Euch früher in der DDR gelebt hat, wird sich erinnern, wie es sich anfühlt, wenn die Repressionsorgane ins Privatleben eindringen. Ihr hattet die Stasi, wir haben unsere Staatssicherheit, die viel daran setzt uns glauben zu machen, dass wir in einer Glaskugel leben, in der der Große Bruder uns jederzeit überwacht.
Jeder in Kuba weiß, dass der Staat mit seinem ganzen Gewicht über ihn herfällt, wenn er bestimmte rote Linien übertritt: Mit staatlicher Propaganda, Diffamierungen, mit Gesetzen und politischer Polizei. Wir alternativen Blogger haben all das am eigenen Leib schon erlebt, wie alle, die es in Kuba gewagt haben, die Regierung herauszufordern oder ihr offen zu widersprechen. Bei mir kommt noch die Verurteilung zum Inselarrest dazu. Deshalb bin ich hier hinter dieser Kamera, und ihr seid dort, tauscht Ideen und Gedanken aus und verhaltet Euch wie freie Bürger. Ich bin dafür bestraft worden, dass ich eine Meinung habe, dass ich sie sage, dass ich von meiner Realität erzähle. Genauso geht es vielen alternativen Bloggern. Trotzdem: Statt damit das Phänomen des Bloggens zu beseitigen, statt uns zu entmutigen, statt uns dazu zu bringen, nicht mehr zu sagen, was wir denken, hat das alles uns vielmehr ermuntert. In dem Maße, wie ich die Mauern verstanden habe, die mich umgeben, die Enge, die uns einzwängt, umso mehr habe ich auch begriffen, wie notwendig es ist, dass jemand darüber spricht. Dass es jemand aus seiner eigenen Erfahrung berichtet.
Ich habe auch wundervolle Momente erlebt, nicht nur solche der Repression. Es gibt Augenblicke, die sind Balsam für die Seele. Ich habe die alternative Bloggerszene wachsen sehen. Sicher, das sind immer noch Zahlen, die Euch, die ihr individuellen Zugang zum Internet habt, sehr klein erscheinen mögen. Aber es ist dennoch eine Riesenentwicklung: Von wortwörtlich einer Handvoll Bloggern zu Beginn sind wir auf heute mehr als 200 angewachsen, die überall auf der Insel – wenngleich vor allem in den Provinzhauptstädten – von ihrer Realität berichten, Alltagschroniken, kleine Eingaben. Sie alle wollen sich mit dem staatlichen Informationsmonopol nicht abfinden, das in Kuba schon seit so vielen Jahrzehnten besteht.
Dazu kommt, dass es seit etwas über einem Jahr ein weiteres wunderbares Werkzeug für uns gibt: Twitter. Die meisten Leute auf der Welt nutzen Twitter von ihrem Internetzugang aus oder von ihren Smartphones mit den entsprechenden Apps fürs Iphone, Blackberry oder Nokia. Wir Kubaner haben eine kleine Lücke in der staatlichen Kontrolle entdeckt: Twitter kann man auch per SMS betreiben. Und so gibt es seit Mitte 2009 die Invasion einer kleinen Twittosphäre im Netz mit ihren Kurznachrichten, ihren Rettungsrufen und ihren Anklagen. Wir twittern aus Not: Ihr werdet nie einen alternativen kubanischen Twitterer sehen, der schreibt, wie lecker doch der Kaffee sei, den er gerade zum Frühstück trinkt oder wie schön der Regenbogen nach dem Platzregen sei. Wir twittern auf 140 Zeichen Notrufe, Anklagen, dringende Bitten. Wir twittern nicht aus Frivolität, sondern aus Notwendigkeit.
Damit komplettiert sich das Bild: Auch wenn die Regierung uns gern zum Schweigen bringen will, auch wenn sie uns bekämpft oder uns nicht reisen lässt, können sie doch nicht verhindern, dass unsere Stimmen auf der Welt gehört werden. Ihr dort drüben beschützt uns, indem ihr uns lest, uns zitiert, uns verlinkt oder indem ihr uns zu solchen Veranstaltungen wie dieser hier einladet. Nur aufgrund dieses Schutzes sind wir so weit gekommen. Es ist uns gelungen, das Informationsmonopol ein wenig aufzubrechen, das diese Insel für so viele Jahre zu einer Art geschlossener Anstalt gemacht hatte und die stets in der Message bestand, dass alles auf der Insel großartig sei und alles in der Welt draußen die Hölle. Die Kubaner begreifen langsam, dass wir belogen und betrogen worden sind, dass uns Information vorenthalten wurde.
Und ich habe den Eindruck, dass wir Blogger und Twitterer nicht mehr nur in der virtuellen Welt bleiben. Es ist nicht mehr nur im Cyberspace, sondern hat seinen Einfluss auf das wirkliche Leben. Wenn ich durch die Straßen gehe, passiert es immer öfter, dass Leute mich erkennen. Oft werde ich um Kopien meines Blogs gebeten, oder jemand spricht mich auf einen Text von mir an, den er gelesen hat. Leute, die sich nicht trauen, mich offen anzusprechen, machen mir ein Zeichen oder zwinkern mir zu, als wollten sie sagen: Ich bin auf deiner Seite. All das scheint mir ein Beweis dafür, dass sie uns lesen. Das einzige, was die kubanische Regierung damit erreicht hat, dass sie unsere Seiten wie desdecuba.com oder Vocescubanas.com mehr als drei Jahre lang blockierte, war, dass der Wunsch, unsere Texte lesen zu können, immer größer wurde.
Ich glaube nicht, dass sie die Blogosphäre kontrollieren können. Sie wird sich weiterentwickeln, und es wird immer neue technische Möglichkeiten geben. Heute freuen wir uns über Twitter – wer weiß, was es morgen gibt. Und das gibt Hoffnung.
Trotzdem bleibt eine Menge zu tun in der wirklichen Welt, dem Kuba, das man anfassen kann. Aber Stück für Stück lernen wir, uns in der virtuellen Welt wie Bürger zu bewegen.
Das ist die große Rolle, die Twitter, Facebook und so weiter in Kuba spielen, trotz aller Zensur. Es hilft uns, die Grenzen der Ideologie zu überwinden, andere kennenzulernen, uns zu versammeln. Das Internet erlaubt uns all das, was auf den öffentlichen Plätzen Kubas verboten ist. Und jemand, der den Geruch der freien Meinungsäußerung einmal kennengelernt hat, wird sich nie wieder diese Maske des Schweigens aufsetzen. Die kubanische Blogosphäre hilft uns, und ich hoffe, noch viele Jahre lang, das Schweigen zu überwinden.
Ich sende Euch viele Grüße, ich bedauere sehr, dass ich nicht bei euch sein kann. Eines Tages werden wir Gelegenheit bekommen, die verlorene Zeit nachzuholen. Aber ich habe hier auch viel zu tun. Jeder Tag, den ich in Kuba bin, verschicke ich mehr Twitternachrichten, jeden Tag habe ich neue Ideen, und jeder Spaziergang durch Havanna gibt mir neues Rohmaterial für mein Schreiben. Und jeden Tag gibt es neue Blogger, denen ich die Technik beibringen kann. Und immer mehr Bürger, die das Twittern lernen.
So glaube ich, dass ihr Versuch, mich durch den Entzug der Reisefreiheit zu bestrafen, voll nach hinten losgegangen ist. Hier bin ich stärker, hier komme ich auf Ideen, und hier versuche ich jeden Tag neue Wege zu finden, um die Zensur zu umgehen.
Eine große Umarmung, bis bald, ich wünsche euch eine wunderbare Veranstaltung, und dass ihr uns dabei helfen könnt, unsere Stimmen zu verbreiten, Denn das bedeutet, klar und direkt, Schutz für uns. Danke
Erwähnenswert ist noch die irakische Ethnologin Isabel Schayani, die WDR-Monitor-Redakteurin sprach über den grassierenden Sarrazinismus der hiesigen Angst-vor-sozialem-Abstieg-Bürger: eine kritische Masse/schweigende Mehrheit. Was früher die soziale Misere war, sind heute Ängste und Depressionen. Und die „Abgehängten“ ressentimieren nun. Isabel Schayani meinte: Die Sarrazin-Debatte habe die deutschen Türken und Araber nicht groß erschüttert, sie sind bereits gedemütigt und frustriert. In Arabien treten die muslimischen Frauen in die Öffentlichkeit – und hier verschwinden sie daraus, weil überall bald das Kopftuch-Verbot gilt.
Aus Libyen berichtet AP heute:
In Libyen sind bei Gefechten um die Stadt Adschadibja am Wochenende mindestens 13 Menschen getötet wurden. Auch aus der von Truppen des Machthabers Muammar al Gaddafi belagerten Stadt Misrata wurden erneut heftige Gefechte gemeldet. Die NATO zerstörte eigenen Angaben zufolge 42 Panzer der libyschen Regierungstruppen. Der libysche Außenminister Chaled Kaim meldete am Sonntag den Abschuss von zwei Hubschraubern der Aufständischen. Vertreter der Afrikanischen Union kündigten unterdessen den Beginn von Vermittlungsgesprächen an.
Zwei Militärhubschrauber vom Typ Chinook seien im Osten des Landes in der Nähe der Ölanlagen von Brega abgeschossen worden, sagte Kaim. Der Außenminister kritisierte, dass die internationale Gemeinschaft trotz der Flugverbotszone über Libyen den Rebellen die Nutzung von Hubschraubern offenbar gestatte. Die Aufständischen bestätigten den Abschuss zunächst nicht.
Während der Großteil der libyschen Luftwaffe unter der Kontrolle der Regierungstruppen steht, verfügen die Rebellen über einige Flugzeuge und Hubschrauber, die ihnen von Überläufern zur Verfügung gestellt wurden.
chaotische Wirbel. Photo: mpimet.mpg.de