vonHelmut Höge 19.06.2009

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Eben kam ich auf dem Alexanderplatz an einem Werbestand der Scientologen vorbei, nein: der La -Rouche-Sekte „Europäische Arbeiterpartei“ – jetzt „BÜSO“ genannt: „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“. „Hallo, mein Herr!“ sprach mich eine kleine Blondine an. Ich schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei. „Wir haben eine Krise zu bewältigen!“ rief sie mir nach.

Nach „Ein neues Bretton Woods“ und einen „Eurasischen Transrapid“ fordern diese Amiirren jetzt erst mal nichts mehr, sondern behaupten auf allen ihren Plakaten: „Die Zukunft liegt in Afrika!“

Schon während des EU-Wahlkampfs waren mir in Frankfurt ihre diesbezüglichen Wahlplakate aufgefallen: „Hessens Zukunft liegt in Afrika!“ hieß ihre Parole dort. Und zwar deswegen, weil dieser Kontingent jede Menge Atomkraftwerke braucht, um aus dem Knick zu kommen – z.B. um damit Meerwasserentsalzungsanlagen zu betreiben.

Beim Umsteigen in Stadtmitte ging ich an zwei Punkern vorbei – und bekam mit, wie der eine den anderen fragte: „Weißt du, dass an der Schweinegrippe nur Leute erkranken, die nicht immun gegen das Schweinesystem sind?!“

In der U6 dann lag ein ausgelesener „Tagesspitzel“. Gleich auf Seite 1 sprang mich die „Meinung“ meines alten taz-redakteurs gerd nowakowski über die „Aktionswochen“ der Autonomen an. Er wohnt jetzt am Wannsee und ist tsp-redakteur. Wegen des Abfackelns von Autos habe sich „das Klima längst nachhaltig verschlechtert“, meint er, „nicht nur bei Investoren“. Er denkt dabei jedoch nicht an den globalen CO2-Ausstoß, sondern: „Erst bewies eine Gruppe Roma, wie man die Verwaltung der Hauptstadt an den Rand der Lächerlichkeit bringt, nun führen [auch noch] gewaltbereite Chaoten die Landesregierung vor.“ Also Zigeuner und Linke verschlechtern das Klima! Das hören die Tagesspitzel-Leser in Steglitz und Wilmersdorf gerne. „Ihre pseudorevolutionäre Gewalt“ begründen sie perfiderweise mit „politischen Begriffen“ – wie: „Protest gegen Mietsteigerungen und die Verdrängung einkommensschwacher Menschen, Repressionen gegen Ausländer und Asylbewerber, Kampf gegen Neonazis.“ Was ist an diesen Protesten „pseudorevolutionär“. An diesem Wort stieß ich mich. Läßt er jetzt nur noch die „Revolution“ – in der Mobilfunktechnik, bei Geschirrspülern, Waschmitteln und Volkswagen z.B. gelten? Die Autonomen werden jedenfalls „jeden Tag“ stärker – mit ihrer „pseudorevolutionären Gewalt“, und „das Vertrauen in die Sicherheit der Stadt“ schwindet, deswegen müssen Politik, Polizei und Staatssicherheit endlich losschlagen.

Was für eine grauenhafte Wandlung hat Nowakowski da vollzogen – schlimmer als die ganzen 68er- und 89er-Wendehälse.

Aber dann las ich weiter: Eine ganze Seite über Dahrendorf, den der Tagesspiegel als „Einen, der Epoche machte“ bezeichnet. Mit der Epoche muß die Zeit von den Sechzigerjahren bis jetzt – zu seinem Tod, gemeint sein. Aber das ist grober Unfug, denn Dahrendorf, genauso wie sein kongenialer Langweiler Habermas, der noch lebt, haben gerade keine Epoche gemacht, da die Frankfurter Schule und vor allem die Studentenbewegung ihnen zum Glück den Wind aus den Segeln nahm.

Es kommt aber noch dicker – im „Kultur“-Teil: Eine Seite über die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie: Bilder aus der „privatesten Sammlung“ (was ist das überhaupt für ein Blödsinn: eine Privatsammlung ist eine einfach Privatsammlung) Und in diesem Fall sogar eine fast öffentliche, denn der Sammler Heinz Pietzsch errichtete gleich nach der Wende sein „Pietzsch-Palais“ Unter den Blinden, wo er Uecker und andere Großformate an eine über mehrere Stockwerke reichende Wand hängte, die man sich von außen durch die Scheiben ankucken konnte. Pietzsch ist oder war im Verein „Freunde der neuen Nationalgalerie“, der von Westberliner Immobilienspekulanten dominiert wurde und vielleicht noch wird. Da war es für ihn wohl ein leichtes, mit seiner Sammlung auch irgendwann dort zu landen. Wie der einst reichste Mann Westberlins Karsten Klingbeil und der „betrügerische Baulöwe“ Dietrich Garski, der nach der Wende in Potsdam noch einmal groß rauskam, möchte anscheinend auch Pietzsch ein Museum von der Stadt für seine Kunstsammlung haben: Er „gäbe seine Bilder gern, aber nicht fürs Depot“, schreibt die tsp-autorin und sie zählt auch gleich die „Lücken“ auf, die derzeit noch in den staatlichen Bildersammlungen klaffen – bei den Surrealisten und den abstrakten Expressionisten. Und genau da könne die „Sammlung Pietzsch“ gewissermaßen aushelfen.

Kein einziges Wort darüber, dass Pietzsch 1991 zusammen mit Karsten Klingbeil und Reinhard Müller auf eine derart üble Weise in den Besitz der Riesenimmobilie von Narva an der Oberbaumbrücke gekommen waren, dass die Treuhandanstalt aufgrund der „pseudorevolutionären Proteste“ in der Öffentlichkeit diesen „Deal“ schließlich schweren Herzens und unter erheblichem Gesichtsverlust wieder rückgängig machen mußte. U.a. hatte dieses unverschämte Trio damals in ihrem „Übernahmeangebot“ versprochen, die bis dahin noch existierenden etwa 1500 Arbeitsplätze „im Licht“, d.h. in der Lampenfertigung, zu erhalten. Aber bevor noch die Unterschrift unter den Kaufvertrag vorlag, hatten sie die besten Fließreihen schon Osram sozusagen heimlich zum Kauf angeboten. Dies flog dank des Osram-Betriebsrats dann auf. Es kam noch hinzu: Die beste und neueste dieser Osram 1991 zum Kauf angebotenen Fließreihen, zur Herstellung von Energiesparlampen, hatte Narva erst Anfang 1990 von Osram geliefert bekommen. Dazu wußte der damalige von der Treuhand als Aufsichtsratsvorsitzender bei Narva eingesetzte Kudamm-Anwalt Dr. Abshagen zu berichten: Sie kostete 1988 6 Millionen DM. Da es sich dabei um ein Embargogut handelte, sei das Geschäft über den Stasi-Bereich „KoKo“ (Kommerzielle Koordination) abgewickelt worden, jedoch nicht über den KoKo-Chef Schalck-Golodkowski, sondern über die dazugehörige DDR-GmbH in Pankow „F.C.Gerlach“, bzw. über deren Geschäftsführer Michael Wischnewski. Wischnewski ist der Schwager von Heinz Pietzsch. Als man ihn 1990 wegen seiner krummen Geschäfte verhaften wollte, setzte er sich nach Israel ab. Vielleicht ist er dort inzwischen gestorben – er war damals schon krank.

Über diese ganzen Pietzsch-Connections und -Deals steht im Tagesspiegel-Artikel natürlich kein einziges Wort. Die Autorin schwärmt bloß eine ganze Seite voll über die „Bilderträume“ des „Baustoffhändlers“ Pietzsch: „Mit der Sammlung Pietzsch wird ein gewaltiger Bilderschatz gehoben“. Der Tagesspitzel macht sich damit zu einem blöden Vereinsorgan der „Freunde der italienischen Nationalgalerie“, wie die taz dieses einflußreiche Westberliner „Netzwerk“ früher nannte. Aber mit der Stasi beschäftigt er sich natürlich als geharnischtes Antikommunistenforum auch immer wieder gerne. In der heutigen Ausgabe findet sich u.a. auf der „Berlin Kultur“-Seite unter der Überschrift „Zentrale der Angst“ eine ganze Seite über einen Künstler, der „Bilder in den Fußboden des Stasi-Museums ritzt“. Na toll!

Der dickste und dämlichste Hammer kommt aber auf der letzten tsp-seite „Weltspiegel“: Nachdem seit der Krise Politik und Wirtschaftswissenschaftler monatelang Ursachenforschung betrieben haben, wobei idiotischerweise herauskam: Es lag an der zu großen „Gier“ der Banker. Haben nun irgendwelche Amiwissenschaftler herausgefunden: „Die Gier im Finanzverhalten ist genbedingt!“ Es gibt also nicht nur ein Neid-, sondern auch ein Gier-Gen. Die tsp-überschrift dazu lautet nun: „Gentest für Führungskräfte gefordert“ – fordern tut das der „Frankfurter Zukunftsrat“ whateverthatis. Wahrscheinlich ein elitärer Sauhaufen von debilen Elder Statesmen and Capitalists. Vorsitzende ist Marie-Elisabeth Schaeffler, auf der Liste der reichsten Deutschen steht sie an 22. Stelle. Die „deutsche Unternehmerin“ (Wikipedia) stützt sich laut tsp bei ihrem Vorschlag – Gentest für alle Führerpersönlichkeiten – auf „Erkenntnisse“ der Bonner Hirnforschung: „Das Belohnungssystem des Gehirns reagiere auf kurzfristige Gewinne und den Anblick von Geld wie auf Kokain. Seine Aktivierung könne ’süchtig machen‘.“ So etwas hirnverbranntes kannte man bisher nur aus den Boulevardblättern der Springerstiefelpresse.

Als Pietzsch seine Bilder in sein neues Palais unter den Blinden aufhängte, boomte gerade das Kunst- und das Baugewerbe in Berlin wie verrückt. Damals forderte „Die Zeit“ Aufklärung von mir darüber, ich schrieb ihnen:

„Good Business is the Finest Art!“ (Andy Warhol)

Einer der Bauherren am Potsdamer Platz, die Daimler-Benz-Tochter debis, zeigt in einer Ausstellung, was die Bauarbeiten bisher zutage förderten: einen Stahlhelm mit Schädelstücken, Munition und Hakenkreuze. Bei der Fundamentierung der Friedrichstadt-Passagen stieß man in fünfzig Meter Tiefe gar auf ein Braunkohleflöz.

Aber auch oberhalb ist man vor Überraschungen nicht sicher: Neuerdings ziehen die Baugruben wie magisch Künstler an. In einem für die Berlinale 1996 produzierten Film („Wüste Westberlin“) lassen die alten Kunstberühmtheiten des Charlottenburger Savignyplatzes – Lüpertz, Fetting, Hödicke, Joachimides und Block – noch einmal die heroische Vorwendezeit aus dem Sack: „Wir haben Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen“ und „Die Paris-Bar wurde zum absoluten Muß der Kunstwelt“, sagt darin zum Beispiel der Maler Lüpertz.

Ein Gutachten, in Auftrag gegeben vom Senator für kulturelle Angelegenheiten, hatte indes 1994 schon die nächste Kunstgeneration – abseits der Paris-Bar – ins Visier genommen. Lapidar heißt es darin: „Die Stadt fordert die Phantasie der Künstler aufs neue heraus.“ Die „Stadt“ – damit ist vor allem der derzeitige „Aufschwung“ gemeint, der atmosphärisch eine über den Bauboom vermittelte dritte Gründerzeit eingeläutet hat.

Schon die erste hatte in Berlin um die Jahrhundertwende eine eigene „Aufbau-Kunst“ hervorgebracht: Adolf Menzels „Eisenwalzwerk“ beispielsweise, aber auch die weniger bekannten Werke von Gärtner und Hummel. Während der zweiten Gründerzeit wurde von den Künstlern der – diesmal sozialistische – Wiederaufbau der Hauptstadt der DDR verherrlicht: Otto Nagels „Maurerlehrling“ und „Polier“ an der Baustelle Stalinallee wären hier zu nennen sowie die Werke von Heinz Löffler und Walter Wommaka, der bei den späteren Portraits seiner „Helden der Arbeit“ die Pop-art in den Sozialistischen Realismus einführte. Ganze Künstlerkollektive begleiteten die Bauarbeiten.

Was nun die neuen Hauptstadt-Werke angeht, so möchte der Betrachter sie durchgängig als „Krankunst“ bezeichnen: Nicht Bauarbeiter oder -ingenieure, also das Humankapital, stehen diesmal im Zentrum des Schaffens, sondern Kräne, Bagger und Betonstahl. Als Leitmotiv dafür könnte eine Nachwendebemerkung des Geisteswissenschaftlers und kurzzeitigen VW-Vorständlers Daniel Goeudevert gelten: Im Mittelpunkt steht der Mensch, aber genau da steht er im Weg!

So ist es auch nicht verwunderlich, daß zuallererst eine arbeitslose Mitarbeiterin der 1993 abgewickelten Westberliner Kunsthalle, Bea Stammer, auf die Idee kam: Sie gründete zusammen mit einer Kollegin, Gabriele Horn, die noch beim Kultursenat beschäftigt ist, die Firma Art Management. Stammer und Horn verfaßten mehrere Konzepte, die sie an große, in Berlin tätige Bauunternehmen schickten. „Es geht darum, Kunst mit Wirtschaft zu vernetzen“, so Bea Stammer, der dazu beispielsweise ein „Kranballett“ und „Lesungen auf Kränen“ (mit Otto Sander) eingefallen waren.

Recht eigentlich begann die Krankunst jedoch bereits mit der Wiedervereinigung und dem dadurch bewirkten Zusammenbruch des gesamtgesellschaftlich gültigen Tarifsystems – was sich schon bald im boomenden Berliner Baugewerbe drastisch bemerkbar machte: Zwar wurde im vereinigten Tarifgebiet Berlin-Brandenburg den Bauhilfsarbeitern zum Beispiel ein Bruttostundenlohn von 15,67 Mark zugestanden, aber englische Arbeiter taten es bald auch für unter 15, portugiesische, sizilianische und spanische gar fü r 5 bis 10 Mark die Stunde, Russen, Ukrainer und Polen für noch weniger.

Obwohl sich 1994 auf den rund 2000 Berliner Baustellen insgesamt etwa 1200 Kräne drehten, waren gleichzeitig 30 000 arbeitslos gemeldete Bauarbeiter, meist deutscher und türkischer Herkunft, in der Stadt nicht mehr vermittelbar. Anläßlich der Streichung des Schlechtwettergeldes kam es 1994 zu einem Aktionstag und zu schwarzen Fahnen auf einigen Kränen. Die Bauunternehmer konterten mit blinkenden Weihnachtssternen und Lichtergirlanden.

Auf einen regulär Beschäftigten kamen bald – nach Schätzungen der Bauarbeitergewerkschaft – zwei illegal Tätige. Auf den Baustellen selbst waren die Lohnunterschiede häufig Anlaß für Streitereien. Spektakulär gerieten die Proteste der Bauarbeiter und ihrer Industriegewerkschaft Bau – Steine – Erden, wenn sie sich direkt gegen ihre Unternehmensleitungen wendeten – und es dabei zu sogenannten Kranbesetzungen kam: So geschehen im Mai 1994 auf einer Pankower Baustelle, wo italienische Arbeiter die Kräne besetzten, um ihre ausstehenden Löhne einzuklagen. Erst dem italienischen Konsul gelang es, hierbei erfolgreich zu vermitteln. Ähnlich lag der Fall bei einer Tempelhofer „Baustellenblockade“ durch irische und englische Bauleute, die als Einmannsubunternehmer plötzlich keinen Lohn mehr von ihrer holländischen Firma bekommen hatten. Sie hängten selbstgemalte Protesttransparente an die Kräne.

Einen Tag vor dem 17. Juni, dem Tag des Bauarbeiteraufstandes in der Stalinallee 1953, traten auch einige deutsche Arbeiter – auf einer Baustelle in Marzahn – in den Ausstand. Sie besetzten die Kräne und verteilten Flugblätter: „An alle – Wir haben die Schnauze voll!“ Unterschrieben hatten sie als „IG BSE (Initiativgruppe Bau – Schweine – Erledigen)“. Ihr Zorn richtete sich primär gegen ihren Subunternehmer aus Trier, der sich aus dem Staub gemacht hatte. Der Generalübernehmer des Bauprojekts, die Firma Heitmann, ließ daraufhin dessen Geräte beschlagnahmen und zahlte die ausstehenden Löhne. Das Bauarbeiterflugblatt wurde von vielen Berliner Zeitungen im Lokalteil ausführlich zitiert.

Mit der folgenden Aktion an der Großbaustelle Checkpoint Charlie Friedrichstraße, im März 1995, verlagerte sich der Schwerpunkt, medial gesehen, vollends vom Wirtschaftsteil ins Feuilleton: Die Investoren des fünfblöckigen Mixed Use Complex am ehemaligen Grenzübergang, die anfangs noch mit der Art-Agentur von Stammer und Horn zusammenarbeiten wollten, beauftragten statt dessen die Werbeagentur Ogilvy & Mather, ihnen die Baugrube attraktiver zu gestalten. Als erstes ließen sich die Werbeleute ein „Baustellenportal“ einfallen – mit dem Photo eines amerikanischen Panzerfahrers und dem halbfetten Hinweis: „Halt, hier wird gebaut. 1961 – Die Mauer wird gebaut. 1994 bis 1998 – Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer entsteht hier eine der attraktivsten Business-Adressen Europas.“ Laut Ogilvy & Mather wurde dies das meistphotographierte Bauschild der Welt.

Hinzu kamen dann noch einige „Informationstafeln“ am Bauzaun sowie ein überlebensgroßes Cut-out des amerikanischen Stararchitekten Philip Johnson, der hier für den Block 106 verantwortlich zeichnete. In der Nacht vom 14. auf den 15. März wurde dieses vier Meter hohe Cut-out aus Blech von Unbekannten entführt. Eine Woche später bekam der Berliner Tagesspiegel ein abgesägtes Ohr zugeschickt, und die Bauwelt erhielt ein „Bekennerschreiben“. Ausführlich wurde darin Nietzsche zitiert, der sich in seinem „Zarathustra“ einst über die Genies mit den allzu großen Ohren ausgelassen hatte. Ogilvy & Mather erbaten sich über die Springerpresse ihren Blech- Johnson zurück, dann ließen sie ein neues Portrait an die Baugrube stellen, das fortan von einem Wachdienst geschützt wurde.

Die Pressesprecher des Baugewerbes in der Hauptstadt horchten bei diesem schlagzeilenproduzierenden Schelmenstück auf – und dachten sich daraufhin selbst ihre Baustellenereignisse aus: Als erstes wurden die diversen Grundsteinlegungen und Richtfeste immer opulenter ausgestaltet – mit Musik, Tanz- und Theatervorführungen, VIP-Zelten, Sommerfesten und Pressemappen. Die Journalisten bekamen dazu dicke In-Kontakt-bleiben-Geschenke – wie Handys, Bauhelme, Bücher und T-Shirts. Der Erfolg dieses Pre-Marketing im Event-Bereich ließ nicht lange auf sich warten.

Fast täglich druckte die Hauptstadtpresse nun Baustellenphotos ab. Und in den eiligst mit dem plötzlichen Verfall der Gewerbemieten eingerichteten „Immobilienredaktionen“ riß man sich geradezu um hochkarätige Statements und kontroverse Einschätzungen von „Developern“ städtischer „Filetstücke“ und märkischer „Speckgürtel“. Dabei entstanden solche Headlines wie „Datenhighway mit U-Bahnanschluß“ und „Neue Urbanität im historischen Kontext“. Die CDU-Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien und der SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe ließen zu gegebenen Anlässen fast unisono verlauten: „Jede Baustelle ist eine Hoffnungsstelle!“

Als dann auch noch die städtischen Werbemanager darauf kamen, daß Berlin seit der Wiedervereinigung eigentlich nur noch staubildende Baumaßnahmen zu bieten hatte, verwandelten sie dieses für die Hotels zunächst ruinöse Manko mit Hilfe von Reiseveranstaltern, Printmedien und Stadtbilderklärern (City-Guides) flugs in ein neues Erlebnisurlaubsangebot. Und fortan fuhren die Reisebusse von Baustelle zu Baustelle, wo man, ähnlich wie früher an der Mauer, Aussichtsplattformen errichtete. Am früheren Mauertouristen-Hotspot Potsdamer Platz, der jetzt mit 111 000 Quadratmetern größten Baustelle Berlins, wurde sogar eine aufgestelzte, dreistöckige rote Info-Box für mehrere Millionen Mark plaziert. Neben viel High-Tech sind darin die Büsten von fünf Architekten zu bewundern.

Ende November wußte der Spiegel bereits die ersten Berlinbaustellen-Besucherzahlen: „An die 200 000 seit Mitte Oktober.“ Außerdem konnte er auch gleich den Erfinder dieser neuen Kunstsparte – „Cultural Events in der Baugrube“ – namentlich nennen: den einstigen Pressesprecher und jetzigen Marketingdirektor des Checkpoint-Charlie-Business-Centers in der Friedrichstraße, Frank Schmeichel. Der Diplompsychologe war vor der Wende „Night-Talker“ des Westberliner Radiosenders 100,6 gewesen, wo er allnächtlich sexuelle Probleme verhandelt hatte, zum Beispiel: „Wo befinden sich die ausgefallensten Liebesorte?“ Der Sender gehörte und gehört einigen großen Westberliner Bauherren.

Auch Schmeichels neue Arbeitgeber, die Investoren vom Checkpoint Charlie, betreiben seit der Wende einen eigenen Sender in der Stadt: den Fernsehkanal 1A Brandenburg. Diese beiden Medien machten natürlich auch noch aus dem allergeringsten Baustellenereignis, wenn es sich nicht gerade um Querelen am Bau oder tödliche Unfälle handelte, ausführlichste Reportagen mit feinsten Feature-Elementen. Vielgelobt wurde insonderheit die 24-Stunden-Kamerabegleitung der Fundamentierung des ersten Bauabschnitts am Checkpoint-Charlie-Business-Center. Woraufhin ein anderer Hauptstadt-TV-Sender sofort mit einer äußerst einfühlsamen Reportage über die aus Hamburg stammende Bedienung des Schwimmbaggers am Potsdamer Platz nachzog.

Schmeichels Verdienst liegt vor allem in der Einrichtung der „ersten Bauzaungalerie Deutschlands“ – „am geschichtsträchtigen Ort“, wie der Kultursenator dazu im Vorwort des Katalogs schreibt. In den Collagen des Künstlers Hoffmann de Vere fehlen die Kräne natürlich nicht, statt Menschen gibt es höchstens Public Faces und Frauenbeine auf seinen Bildern zu sehen – Krankunst als gesunde Mischung aus Jungen Wilden und altem Wommaka, sozusagen.

Die nächste derartige Ausstellung fand in der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen statt – und hieß „Kranzeit“! Der Künstler Ulrich Baehr „sitzt mit seinem Atelier im Zentrum des Geschehens am früheren Checkpoint Charlie“, betont der Senatsbaudirektor Hans Stimmann im Katalogvorwort. Baehr nannte seine Aquarelle folgerichtig „Kräne am Abend 2“, „Checkpoint im Winter“ und so weiter. Seit diesen Ereignissen, so sagt Frank Schmeichel, werde er von Künstleranfragen geradezu überschwemmt. Den Pressesprechern anderer Investoren geht es ähnlich, und die Galeristen bekommen den neuen Berlintrend auch schon zu spüren.

Dem Trendsetter Schmeichel wurde indessen bereits ein erster Lehrauftrag angeboten – ausgerechnet am bisher vor allem als linke Kaderschmiede verschrieenen Politologischen Institut der Freien Universität: von einem Professor, der bis zur Wende die DDR beforschte – und nun „Stadt-Marketing“ lehren läßt. Frank Schmeichel spricht dafür gerne, im Zusammenhang mit der Schaffung eines „positiven Projekt-Image“, von „Political Engineering“.

Auch die zwei Kunsthochschulen der Stadt denken langsam um: Nicht immer, aber immer öfter sieht man auf den Aussichtsplattformen der innerstädtischen Baustellen in aller Frühe bereits junge Menschen mit Skizzenblock, Bleistift und Wasserfarben auftauchen. Gegen zehn kommen die ersten Photographen und Kamerateams angewackelt. Ein neuer Berlinfilm, mit Meret Becker in einer Hauptrolle, der im nächsten Monat abgedreht sein wird, heißt sinnigerweise gleich „Das Leben ist eine Baustelle“.

Auch der alte Junge Wilde Rainer Fetting malt inzwischen „Baustellen-Bilder“. Einige stellte das Art Management 1995 in den leerstehenden Büros der Friedrichstadt-Passage aus, zusammen mit Bildern von Stefanie Bürkle, die schon seit zehn Jahren an Baustellen künstlerisch tätig ist. Mehrere „Stadtlandschaften“ von Reiner Goertz wurden jedoch von den Investoren kurzerhand ausjuriert – „zensiert“, wie Bea Stammer meint, der eine derartige Rigorosität erst einmal fremd war.

Solche Kompromisse stehen jetzt aber wohl auf der Tagesordnung. Einer der Pre-Marketing-Manager in der Info-Box der Baustelle am Potsdamer Platz meint, daß seine Auftraggeber, debis, Sony, ABB, nicht einmal die dünnsten Texte unkorrigiert ließen – und anschließend davon so gut wie nix übrigbliebe: nur immer wieder das Wort „Urbanität“.

Wenn man dem Zeitgeistkritiker Jean Baudrillard glauben darf, dann haben sowieso nur noch „Objektstrategien“ wirklich Aussicht auf Erfolg. Und so darf es nicht verwundern, wenn die Baukräne höchstpersönlich anfangen zurückzuschlagen: Ende September 1995 wurde die Prenzlauer-Berg-Malerin Käthe Ebner an der Baustelle Kontorhaus Mitte in der Friedrichstraße von einer herabstürzenden tonnenschweren Kranmatratze getötet. Sie hatte sich zuletzt an einer Gemeinschaftsausstellung in der Karl-Marx-Allee über Informelle Poesie beteiligt. Die Berliner Morgenpost schrieb nach dem Unglück: „Alptraum Baustelle: Stahlträger erschlug Nachwuchskünstlerin.“ Uns bleibt nur zu hoffen, daß ihr Tod nicht umsonst war und diese ganze Ranschmeißerei an die Drehkräne unter dem Himmel von Berlin damit zu einem baldigen Ende kommt – noch bevor womöglich die Neue Nationalgalerie anfängt, die ersten Krankunstwerke aufzukaufen. Die Gefahr besteht, denn in ihrem (Förder-)Verein der Freunde der Nationalgalerie sind die wichtigsten Bauunternehmer der Stadt aktive Mitglieder.

Baustellenkunst mit Pollern. Photo: Alena Stolpe

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Etwa zur selben Zeit fand in der Galerie der IG Medien (früher IG Druck & Papier heute Ver & di) eine Ausstellung statt über all die Blödheiten, die sich der Besitzer des Tagesspiegels so leistete in seinem langen Arbeitsleben, ich rezensierte sie damals in der taz:

Früher haben wir uns regelmäßig über den Tagesspitzel und Tantenspiegel geärgert, gelegentlich auch mal mit seinem Logo eine richtigstellende „Entschuldigung“ als Flugblatt verteilt – was den Tsp-Chef Franz Karl Maier jedesmal zu geharnischten „Richtigstellungen“ verleitete. Mit der Wende und dem Verkauf an den Düsseldorfer Dieter von Holtzbrinck, der gerade das „demokratische Nachwende-Intermezzo“ bei seiner Lausitzer Rundschau mit Entlassungen beendete, ist der Tagesspiegel nun vollends zum Regierungspropagandablatt geworden. Es traf sich Ende September, daß der neue Herausgeber einen Franz-Karl-Maier-Preis für verquaste Leitartikel vergab – zeitgleich mit einer Ausstellung über „50 Jahre Tagesspiegel„, zusammengestellt von Mitarbeitern der Mercator-Druckerei der Zeitung. Dieser Visualisierungsversuch, „den (Tagesspiegel-)Dingen auf den Grund“ zu gehen, thematisiert vor allem die Arbeitskämpfe der Metteure, Setzer und Drucker gegen Franz Karl Maier – dies unter anderem in Form von handgeschriebenen „Notausgaben“, die der schwäbisch-patriarchalische Jurist Maier herausgab, um nicht klein beizugeben.

Immer wieder kam es zu Streiks, in denen die „Bereitschaftspolizei“ nicht nur massiv, mit Tränengas zum Beispiel, eingriff, sondern sich sogar als Streikbrecher zur Verfügung stellte. Einmal war die Nichtanerkennung der Arbeit der Belegschaftsvertreter der Anlaß, ein andermal ein Aufkleber, den ein Metteur an seinen Arbeitsplatz angebracht hatte: „Reagan verpiß dich! Keiner vermißt dich!“ Es gab sogar einen Ukas von Maier, mit dem er ein Fraternisierungsverbot seiner Redakteure mit den Produktionsarbeitern durchzusetzen versuchte. Flankierend dazu wurden – bis heute – „am liebsten rückgratlose junge Redakteure eingestellt“, wie ein Drucker meint. Ein ehemaliger Betriebsrat, der heute bei der Oberfinanzdirektion arbeitet, wo es sogar noch Bleisatz (für die Steuerformulare) gibt, erklärte dazu: „Maier witterte hinter jedem Busch Kommunisten! Einmal hatten wir intern einen Einheitslohn durchgesetzt, das hat Maier so gestunken, daß er unaufgefordert eine 20prozentige Lohnerhöhung gab, einige Kollegen waren tödlich beleidigt.“ Maier war spontan – „Wir pflegten zu sagen: Zwei Leute haben hier recht: Maier am Morgen und Maier am Abend. Und wir haben viel gelernt von ihm …“

Vor allem in juristischer Hinsicht: Die meisten Kollisionen mit ihm endeten nämlich vor dem Arbeitsgericht. Einem Mercator- Drucker wurde versichert: „Es besteht keine Verpflichtung des Klägers zu einer positiven Arbeitseinstellung!“ Der als liberal geltende Leitartikler Mathes schrieb einmal, Maier hätte immerhin in fast allen Prozessen Recht bekommen! Der Betriebsrat rechnete daraufhin nach: Von 103 Arbeitsprozessen hatte Maier bis dahin 94 verloren, drei waren unentschieden ausgegangen und nur sechs hatte er – in Teilaspekten – gewonnen. Dabei mußte die rebellische Produktion auch noch ihre damalige IG Druck und Papier immer wieder zur „Solidarität“ „motivieren“, anders als zum Beispiel die Prostituierten auf der Potsdamer Straße, die den Mercator-Mitarbeitern 1976 für die Dauer ihres Arbeitskampfes von sich aus 25 Prozent Rabatt einräumten.

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