Keine Ahnung, ob ich der Wahrheit nahe komme, sagte Dr. Tsederbaum, jeder Mensch bleibt ein Geheimnis. Doch die israelische Öffentlichkeit hat ein Recht auf eine plausible Erklärung für den Tod dieses Politikers. Wie Sie sicher wissen, ist er in jüdischen Studentenklubs wie der Anatolika immer als sehr bedenklich eingeschätzt worden. Darum, fuhr die Vortragende fort, habe ich Ihre Einladung hierher gerne angenommen. Ich werde Sie schonungslos mit den Ergebnissen meiner Studie bekannt machen.
Die Psychoanalyse, sagte Dr. Tsederbaum lächelnd, ist ja weder eine objektive noch eine exakte Wissenschaft. Was wir betreiben, ist eine auf die Triebe gestützte introspektive Psychologie in die Richtung einer Verhaltenspsychologie. Was ich Ihnen also anbieten kann, kann nicht die Wahrheit über diesen Tod sein – einfach, weil wir die letzten Geheimnisse des menschlichen Handelns noch nicht kennen. Was ich Ihnen anbieten werde, ist eine plausible Konstruktion des Geschehens.
Es ist sehr faszinierend, sagte Dr. Tsederbaum und sah über die Köpfe der Sitzenden hinweg in eine imaginäre Ferne, welche Spekulationen nun über diesen Unfall ins Kraut schiessen. Keine Gespräch unter Intellektuellen scheint daran vorbeizukommen, dass das Unglücksfahrzeug einen Namen aus der griechischen Mythologie trug. Vielleicht haben auch Sie schon im Lexikon unter Phaëthon nachgeschlagen, dem Sohn des Sonnengottes Helios. Dort erfährt man, dass dieser mythologische Jüngling einen Tag lang ziemlich erfolglos den Sonnenwagen seines Vaters über den Himmel gelenkt hat.
Phaëthons strahlend-leuchtendes Gefährt touchierte die Sterne, dann riss es eine grosse Wunde in den Himmel, es verbrannte die Erde. Am Ende musste Zeus seinen Donnerkeil schleudern, um das Chaos zu stoppen. – Aber vermutlich haben die Marketing-Spezialisten der Autobranche nur bis zum Wort Sonnenwagen gelesen, nicht wahr? Sonst hätten sie wohl nie einer so teuren Limousine einen solchen Namen gegeben.
Selma Tsederbaum hielt einen Moment inne, um sich zu vergewissern, dass die Zuhörer lächelten. Als sie erkannte, dass sie das Publikum im Griff hatte, setzt sie noch eines drauf: Haben Sie gewusst, sagte sie, dass Franz-Ferdinand auch in einem Phäeton sass, als 1914 die Schüsse in Sarajewo fielen? Ich meine diesen Thronfolger der Habsburger. Das morsche alte Österreich hat wegen seiner Ermordung mutwillig einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen.
Aber keine Angst, ich beschäftige mich nicht mit Koinzidenzien; auch nicht mit Mythologie. Ich beschäftige mit der Kontrolle und Steuerung von Gefühlen. Für mich stellen sich die Fallstricke dieses Politikertodes anders dar als für die öffentliche Meinung. Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass die Heimfahrt des Politikers zugleich auch die Anreise zu einer hohen Familienfeier war. Das wog ihn gleich doppelt in ein fallibles Sicherheitsgefühl.
Zunächst dachte er garantiert, dass er die Autostrecke in- und auswendig kennt. Wie Sie wissen schaltet sich in solchen Fällen ein innerer Automatismus bei uns ein; die Aufmerksamkeit für das Fahrgeschehen nimmt rapide ab, die Spannung tendiert Richtung Nullpunkt, das Fahren wird eine Art organischer Zustand des Lebens. Das Bewusstsein des Lenkens klappt zusammen wie eine gefaltete Blase, in die nun alle Impulse aus dem Unbewussten unfiltert hochsteigen können.
In diesem Punkt sind wir Analytiker einfach Psychologen. Wir nehmen nicht an, dass solche Vorgänge durch das Lustprinzip reguliert werden. Überall auf der Erde ist die Heimstrecke trügerisch, das Universum kein sicherer Ort für uns. Bei diesem Home-Run wurde der Trug aber durch ein zweites Versprechen noch verstärkt: nämlich dem im Kopf unseres Politikers präfigurierten Wiedersehen am nächsten Tag. Was erwartete den Mann denn am Ziel? Es erwartete ihn die Umarmung seiner geliebten Mutter, die Wieder-Inbesitznahme durch jenes Geschöpf, das ihm das Leben geschenkt hat.
Wir haben es also mit zwei tückischen Sicherheitsmomenten zu tun, die eine ungebundene, potentielle, schwebende Spannung im Wagen aufgebaut haben. Diese ersten Risken trafen auf zwei elementare Tatbestände der psychischen Entgrenzung: auf 1,8 Promille Alkohol im Blut des Fahrers, und dann, vielleicht noch schlimmer, auf eine Motorkraft von 240 PS. Diese Kombination reicht bitte auf jeder Strasse des Kontinents allein schon aus für eine tödliche Katastrophe! Da brauchen Sie keine Philosophie zu bemühen, keinen Kastrationskomplex, kein Übertragungsparadigma, um zu wissen, dass zwei Mal zwei Vier ist.
Gut werden Sie sagen, die Gefahren waren da, aber es hätte nicht passieren müssen. Zweimal Zwei ist Vier, doch man kann die Zweien auch einfach nebeneinander stehen lassen, man muss sie nicht multiplizieren.
Das stimmt! Da würde ich Ihnen Recht geben. Wie zerstörerisch eine Gewalt ist, das bestimmt sich allein durch die Gewichte, die wirken. Das ist die Physik der Seele. Darum sage ich: An den genannten vier Aspekten der Gefahr hängen noch mindestens vier starke emotionale Impulse und schliesslich zwei Traumata. Wenn man die genauer unter die Lupe nimmt, wird dieser Tod zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort um vieles
zwingender.
Hören Sie also meine Hypothese eines empirisch-biographischen Sinnzusammenhanges. Beurteilen Sie dann selbst, ob daraus eine stumpfe Notwendigkeit für das Schicksal des Politikers folgte, eine stumme Ergebung in den Tod. Jeder von uns ist einem Kreuzgewitter biographischer Linien ausgesetzt; und bei dem Politiker, von dem ich spreche, haben wir es mit einer so starken narzisstischen Besetzung des Ich zu tun, dass er die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit schon mal auf die leichte Schulter nahm.
Stellen Sie sich vor: Der Mann schiesst in seinem Gefährt dahin, und mit ihm sein Selbst – er schwebt gewissermassen in der multiplizierten Potenz seines Home-Runs: vom Tag zurück in die Nacht, von der Stadt hinaus in die Natur, vom anstrengenden Erwachsensein zurück zum Kindsein, von der Tempojagd und dem permanenten Kostümwechsel zurück in die Stille der eigenen vier Wände, vom letzten belebenden Gespräch zur Ruhe des wohlverdienten Schlafes, von den Fremden zu den Seinen.
Was sollte ihm geschehen? Er war doch ein Glückspilz, ein Haus Dampf in allen Gassen, ein Himmelsstürmer, der hart arbeitete für seinen Erfolg. Schon als Kind war er allen Angstfallen entgangen. Wer soviel Disziplin aufbringt, einen eisernen Sportcharakter entwickelt, denkt er, wer seinen Geist mit seinem Körper panzert, der hat ein natürliches Anrecht auf einen besonderen Lohn.
Alle Massstäbe des Tages, alle Signale die geordnete Welt – Paragraphen, Verkehrsbeschränkungen, Alkoholkontrollen –, sie galten für ihn nur beschränkt, und auf dieser letzten Fahrt überhaupt nicht mehr. Er war doch ein Ausnahmemensch – sagten sie das nicht ständig alle, in Wort und Bild, im Guten und im Bösen? Tatsächlich fühlte sich der Politiker in dieser Nacht als ein Ausnahmemensch, so intensiv wie schon lange nicht mehr: als Reisender zwischen Kulturen und Generationen, Achtundfünfzig, zäh, vital, gesalbt mit wohlriechenden Ölen, im Besitz von Waage und Flammenschwert – und der Nebel lag in diesem Gebiet immer schon im Oktober.
In der Brust des Politikers schwangen mehrere gewaltige Echos nach: ein vervierfachtes Hochgefühl breitete sich warm in ihm aus; das Mana für seine tiefe narzisstische Wunde.
Die letzten Plakatwände auf der menschenleeren Strasse – weg. Gleich würde er vom dunklen Wald umhüllt sein, vom Wald, in dem immer noch das einsame Kind, von wärmenden Decken. Hätte man sein Selbstgefühl messen können, der Wert wäre wohl ins Maximum ausgeschlagen. Der Politiker fühlte sich königlich, er hatte sich viele Stunden lang amüsiert, und das schönste Herbstlicht lag noch als Versprechen für den nächsten Tag vor ihm…
Da zischt jetzt sein geblähtes Ego mit 140 km/h oder mehr auf ein mehrfach gepflastertes Trauma-Areal – unter dem Asphaltband der Strasse verlaufen nämlich dicke rosa- und blauschimmernde Aderungen in der Erde. Seine in Wellen anbrandenden Ephorien, sie zerstreuen seine klaren Gedanken bei ihm, Gefühle brechen wie Wehen herein, und plötzlich stellt sich etwas Unheimliches in die Quere, Echos aus ferneren Fernen, die ihn in etwas Dunkles hinabziehen.
Sie sehen, ich versuche es spannend zu machen, sagte Dr. Tsederbaum. Aber alles, was ich hier anführe, ist das Material einer introspektiven Psychologie. Wir haben bei diesem Politiker ein einzigartiges Wirrwarr aus widerstrebenden Impulsen vor uns, und dann noch den Nachhall früherer Konflikte. In diesem wogenden seelischen Chaos aus Orgasmen, die er gehabt hat, und dem Anblick von Leichen, über die er gegangen ist – in diesem Chaos entgrenzte a) die subkutane Wirkung der konsumierten Drinks und b) die verführerische Motorkraft die Körperkontrolle des Politikers, er riss den Fuss nach einem Überholmanöver vom Gaspedal, die rechte Hand zerrte am Steuer, der Wagen flog lärmend aus der Fahrbahn, wirbelte wie ein Geschoss über das nichtbefahrbare Bankett, seine Limousine, nein: er – er mäht Hecken und Verkehrsschilder weg, er stolperte und strauchelte, er raste gegen einen Betonpfeiler, er flog durch die Luft, überschlug sich und blieb in einer dichten Staubwolke in einem Wrack mit abgerissenen Türen quer auf der Fahrbahn liegen.
© Wolfgang Koch 2008
Fortsetzung und Schluss: DO