vonsaveourseeds 16.11.2009

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Unhaltbare Versprechen, Grabenkriege um die Kontrolle globaler Entwicklungsgelder und Ernährungs-Institutionen, ungelöste Widersprüche um Agrarsprit, Welthandel und die Verteilung der Klima- und Umweltkosten, Arroganz der Industriestaaten und falsche Rücksichtnahme gegenüber Regierungen, die den Hunger in ihren Ländern nicht wirksam bekämpfen, prägen das Bild des Welternährungsgipfels, der heute in Rom begonnen hat und bereits nach einer Stunde seine Abschluß-Erklärung verabschiedete.

Die Verteilung des Hungers weltweitRhetorik und allerlei Skurrilitäten am Rande des Gipfels verdecken die dramatische Zuspitzung einer globalen Krise, auf die bereits vor einem Jahr der Weltagrarbericht hinwies. Die Befunde und Ratschläge der Wissenschaftler werden weitgehend ignoriert.
„Weiter wie bisher, aber mit erhöhter Schlagzahl“ scheint stattdessen das Motto der internationalen Verwalter des Hungers zu sein. Vor 13 Jahren versprachen die Regierungschefs am selben Ort, die Zahl der Hungernden auf der Welt bis 2015 unter 420 Millionen zu senken. Stattdessen stieg seither deren Zahl auf über eine Milliarde. Noch Verteilung der Fettlsucht weltweitnie haben so viele Menschen auf diesem Planeten gehungert. Noch nie wurden gleichzeitig weltweit pro Kopf mehr Nahrungsmittel produziert als heute.  Effizient verteilt und eingesetzt könnten sie selbst die 2050 erwarteten 9 Milliarden Erdenbürger gesund und ausreichend ernähren.
Dagegen ist die zentrale Botschaft der Welternährungsorganisation FAO und der Staatschefs: Zur Überwindung des Hungers muss die landwirtschaftliche Produktion drastisch (bis 2050 um 70%) erhöht werden. In drei Wochen werden die gleichen Staatschefs in Kopenhagen verkünden, dass zur Stabilisierung des Klimas in den kommenden Jahrzehnten eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 80% unvermeidlich ist. Landwirtschaft und Ernährung sind insgesamt für etwa 40% aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Eine Produktionssteigerung um 70% mit einem Fünftel der heutigen Treibhausgas-Emissionen ist völlig unrealistisch.
Sie ist weder erforderlich noch vertretbar. Denn unser gegenwärtiges Ernährungs-System ist nicht allein die wichtigste Ursache (und Opfer) des Klimawandels, sondern auch des beispiellosen Verlustes an biologischer Vielfalt. Es absorbiert 70% des weltweiten Frischwasserverbrauchs, ist die größte Quelle chemischer Verschmutzung und droht den Stickstoff-Kreislauf unseres Planeten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Allein die Fleischproduktion ist nach einer Studie der FAO für 18% der weltweiten Klima-Emissionen verantwortlich. Einer Milliarde Hungernder stehen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO heute ebenso viele krankhaft Übergewichtige gegenüber. Hinzu kommen noch einmal so viele Fehlernährte. Die Kosten dieser krank machenden Unter-, Über- und Fehlernährung überfordern selbst die Haushalte der reichsten Nationen. Worauf es ankommt ist eine drastische Effizienzsteigerung.
„Weiter wie bisher ist keine Option“ – das ist die Zusammenfassung der Erkenntnisse des von der Weltbank und den Vereinten Nationen initiierten Weltagrarberichts, in dem über 500 Wissenschaftler und Experten vier Jahre lang den globalen Stand des Wissens über Landwirtschaft und Ernährung zusammenfassten und der im vergangenen Jahr von 58 Staaten (nicht der Bundesrepublik) verabschiedet wurde. Die Krisen von Ernährung, Umwelt und Gerechtigkeit, so sein Fazit, können nur gemeinsam und integriert überwunden werden. Zu den Schritten und Optionen, die der Weltagrarbericht zu diesem Zwecke nennt, gehören unter anderen

  • Eine agrarökologische Revolution, die durch kleinteilige, arbeits-, erfahrungs- und wissensintensive Land- und Ernährungswirtschaft die Abhängigkeit von fossiler Energie und Agrarchemie drastisch reduziert, die Bodenfruchtbarkeit und essentielle ökologische Kreisläufe stabilisiert, und  dabei die Gesundheit von Lebensmitteln erhöht,
  • Eine grundlegende Reform der globalen Agrarhandels-Architektur, die Bäuerinnen und Bauern einen immer geringeren Anteil am Wert ihrer Produkte zugesteht, der stattdessen vor allem global agierenden Saatgut-, Agrarchemie-, Handels- und Verarbeitungskonzernen zufließt und dabei die Verschwendung und Zerstörung natürlicher Ressourcen ebenso fördert wie die Verödung ländlicher Räume in allen Regionen der Welt,
  • Die Umsetzung des Prinzips der Ernährungs-Souveränität, die Menschen und souveränen Staaten das Recht gibt, demokratisch darüber zu entscheiden wie sie sich ernähren,
  • Investitionen in lokale und regionale ländliche Infrastruktur, insbesondere in die wachsende Zahl von Frauen, die landwirtschaftliche Betriebe in Agrargesellschaften des Südens führen, mit dem vordringlichen Ziel, Selbstversorgung und lokale Wirtschaftsentwicklung sowie Widerstandsfähigkeit gegen ökonomische und ökologische Krisen einschließlich des Klimawandels zu gewährleisten,
  • Die finanzielle, politische und wissenschaftliche Anerkennung und Förderung der vielfältigen, weit über landwirtschaftliche Produkte hinausgehenden „multifunktionalen“ Dienstleistungen und Werte, die von Bäuerinnen und Bauern zum Erhalt der Ökosysteme, aber auch für den sozialen und kulturellen Zusammenhalt von Gemeinden und Gesellschaften erbracht werden,
  • Eine neue Herangehensweise in Wissenschaft und Technologie: Statt „von oben“ Probleme zu definieren und technologische Lösungen zu bieten, die dann von den Betroffenen umzusetzen sind, sollten Wissenschaftler die Probleme „von unten“ gemeinsam mit Landwirten definieren und bearbeiten und dabei praktisches, lokales und traditionelles Wissen nutzen und integrieren, um gemeinsam Innovationen zu entwickeln, die sich in erster Linie am Gemeinwohl orientieren und frei verfügbar sind.

Durchschnittlich 56 % der Ernte gehen verloren bevor sie auf dem Teller landetDie Schlusserklärung des Welternährungsgipfels scheint nur wenige dieser Ratschläge zu berücksichtigen. Wachstum und Liberalisierung des Welthandels stehen weiterhin an erster Stelle. Die einzige „neue“ Technologie, die ausdrücklich erwähnt wird, ist die Biotechnologie.  Agrarökologie oder biologische Landwirtschaft, die Überwindung destruktiver Formen von industriellen Monokulturen und der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern sucht man dagegen vergebens. Begriffe wie Ernährungs-Souveränität und Multifunktionalität werden vermieden. Maßnahmen zur Sicherung der nationalen Selbstversorgung dürfen nach dem Wortlaut des Textes keinesfalls den Welthandel behindern. Agrarsubventionen spielen ebenso wenig eine Rolle wie die besorgniserregende Konzentration von Handel, Verarbeitung, Saatgut- und Agrarindustrie. Selbst der hochsubventionierte Agrarsprit-Boom und seine Spekulationsfolgen, die erst im vergangenen Jahr zu Preisexplosionen und Hungeraufständen führten, werden nicht kritisiert.
So begrüßenswert die geforderte Steigerung der Investitionen in Landwirtschaft und ländliche Entwicklung der Agrargesellschaften des Südens und die Stärkung von Kleinbauern nach Jahrzehnten der Vernachlässigung auf den ersten Blick erscheint,  ist zu befürchten, dass einige dieser Mittel in die falsche Richtung gehen. Die Versorgung von Kleinbauern mit Kunstdünger, Pestiziden und davon abhängigem  Hochleistungssaatgut könnte das gegenwärtige Elend mittelfristig eher verstärken als lindern. „Business as usual“ ist, wie die „Grüne Revolution“ der 70er Jahre zeigte, auch durch die fehlgeleitete Förderung von Kleinbauern möglich. Dies belegt auch die Weltbank, die den Weltagrarbericht ursprünglich initiiert hatte, seine Ergebnisse jetzt aber ebenso wie die Vertreter der Agrarindustrie eher totzuschweigen versucht. Sie legte unlängst ein Konzept zur Verwaltung von 20 Milliarden US Dollar in einem globalen Treuhandfond vor, das die oben beschriebenen Empfehlungen ignoriert und die Betroffenen von der Beteiligung an Investitionsentscheidungen weiterhin ausschließt.
„Der Ernährungsgipfel in Rom verspielt die Chance einer Neuorientierung, vor allem einer Integration der Bekämpfung von Hunger und Umweltzerstörung und verdrängt das Ausmaß und die Dynamik der Krise  in der wir uns befinden. Schlimmer noch als die Weigerung, die erforderlichen Mittel bereitzustellen, ist die Unfähigkeit, den Realitäten ins Auge zu sehen und daraus strukturelle Konsequenzen zu ziehen“, sagte Benedikt Härlin von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft heute bei der Vorstellung einer Zusammenfassung der Ergebnisse des Weltagrarberichts in einer 40 seitigen Broschüre und neuen Webseite.

Fotos: FAO (Aufmacher), Zukunftsstiftung Landwirtschaft (Grafiken)

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