Wieder bat mich der Tatort-Fundus um eine Vorab-Rezension des heute ausgestrahlten Films, und wieder bin ich dem gern nachgekommen.
Mein Tipp: Lieber zur Reformbühne Heim & Welt kommen und dort Ahne, Jakob Hein, Falko Hennig, Jürgen Witte und mir sowie unseren Gästen Thilo Bock und Hagen Damwerth lauschen; Aufnahme des Tatorts nicht unbedingt erforderlich. Film taugt nur so mittel. Ausführlich hier:
Wie Popcorn
Ein starker Einstieg: Der TATORT beginnt damit, dass ein mittelalter Herr im strömenden Regen nachts ein junges Mädchen im Auto zu sich nach Hause fährt, die recht attraktive junge Dame lässt sich ein Bad ein und die Hüllen fallen, tunkt den Fuß aufreizend spitz ins Wasser, die Kamera folgt ihm unter die Schaumschicht, das Bild wird wässrig-trüb-grau, und im nächsten Moment rennt eben jene junge Frau panisch durch den Regen und barfuß über einen Acker. Sie reißt ihren kleinen, durchnässten Fummel von sich, um schneller laufen zu können, und dann sehen wir, wie auf der einsamen Feldstraße daneben bei einem Auto die Rückfahrscheinwerfer aufleuchten. Leider ist die Anfangsszene letztlich auch gleich die beste im ganzen Film.
Aber der Reihe nach: Wir sehen das Haus aus der nächtlichen Szenerie am nächsten Morgen wieder, darin wimmeln die Damen und Herren von der Spurensicherung sowie die Kommissare Saalfeld und Keppler umher, die Wanne ist noch voll, auf dem Boden liegt der Herr aus der Eingangsszene in einer Blutlache. Niedergeschlagen und fachgerecht abgestochen – „so schlachtet man Tiere“, bemerkt Kommissarin Saalfeld wenig geistreich, und geradezu rätselhaft zur ländlichen Lage des Einfamilienhauses: „Ganz schön einsam für ein Paar ohne Kinder“. Aha. Der Dialogfeinschnitzer hatte wohl Urlaub, da musste der Schreiner mit dem großen Hobel ran.
Aber was soll’s, zurück zum Fall: Das Opfer war einer der Bürgermeister Leipzigs und zuständig u. a. für das notorische Bauwesen. Die Spuren des nächtlichen Damenbesuchs sind rasch gefunden und erstaunen nun etwas, da das Opfer nämlich mit der Ehefrau im gemeinsamen Haus lebte. Hat er seine Geliebte mit nach Hause geschleppt, während seine Frau oben nichts ahnend schlief – ein Eifersuchtsdrama also?
Oder war es der grobschlächtige Bauunternehmer Stefan Rose, der prompt während der Befragung der Kommissare auf dem Amt hereinpoltert und einen Brief aus dem Posteingang stibitzt, mit dem er sich selbst diskreditieren würde, weil er dem Bürgermeister darin wegen eines entzogenen Auftrags droht? Und der, Überraschung, ganz passend nicht nur Jäger ist, sondern auch gleich ein ähnlich abgestochenes Reh im Kofferraum hat? Wir erinnern uns: „So schlachtet man Tiere.“ Natürlich, das wissen wir abgeklärten TATORT-Zuschauer, wenn nach ein paar Minuten schon eine derart penetrante Indizienlage aufgetischt wird, wird der es wohl nicht sein, und so beginnt es sich dann zu drehen, das Verdächtigenkarussell, und schnell geht es weiter zum Besitzer des Hotels, an dem der Bürgermeister am Abend zuvor tagte, von dort zu den tschechischen Zimmermädchen, die von der fiesen Chefin einer Zeitarbeitsagentur unter miesen Bedingungen verliehen wurden, die aber womöglich auch als Prostituierte geliebesdient haben, und bald schon wird so gut wie jedes Verbrechen, mit Ausnahme vielleicht der Vorbereitung eines Angriffskrieges, in den Fall involviert: Misshandlung, Folter, Zuhälterei, Sex mit Minderjährigen, illegale Beschäftigungsverhältnisse, illegale Entlohnung vulgo Ausbeutung, Leben mit falschen Pässen und unter falschen Namen, Amtsmissbrauch, Dokumentenfälschung, Bestechung, Tierquälerei, Diebstahl, Geiselnahme, Körperverletzung und Mord ja sowieso.
Erstaunlich fast, dass die von Rose zur Strecke gebrachten Enten nicht gewildert wurden. Auch die gesellschaftlichen Problemzonen, die angerissen werden, sind artenreich wie ein Quadratkilometer tropischen Regenwaldes: Auswüchse des modernen Arbeitsmarktes, Leiharbeit, Billigarbeiter aus dem Osten, Prostitution, Sexfilmchen im Netz, Korruption in der Baubranche, Tablettenmissbrauch, Fluglärm, Organhandel, ganz zu schweigen von der bekannten Problemlage, dass gutes Personal halt schwer zu finden ist.
Es ist also, kurz gesagt, genug Stoff vorhanden für 90 Minuten, zumal auch noch Platz sein muss für mal wieder eine kleine Hunde-Nebengeschichte, für ein posteheliches Eifersuchtsdrama zwischen Keppler und Saalfeld, für viel Gerenne (Keppler mit dem treffendsten Satz der Folge: „Warum rennen die denn alle weg?“), für ein ausuferndes Hin-und-Her-Whodunnit und für einen wüsten Showdown samt einem wirklich idiotischen Telefontrick.
Nach dem punktgenauen, hervorragend recherchierten „Schwarzen Peter“ zuvor ist „Mauerblümchen“ eher ein Rückfall in die Leipziger Startfolgen: Offenbar will man unbedingt alles richtig machen beim MDR und einen wirklich zeitgemäßen, gesellschaftsrelevanten Großstadtkrimi abliefern, aber vergisst vor lauter Themen, Effekten und Personenmerkmalen die Seele einer Geschichte. So bleiben einem das Geschehen trotz aller Brisanz ebenso wie die handelnden Personen merkwürdig gleichgültig, zumal man gut damit beschäftigt ist, wenigstens grob den Überblick über die zahllosen Stränge zu behalten.
Was den Machern des Films offenbar ähnlich ging, sodass sie doch einige grobe Zufälle bemühen müssen, ebenso wie eine bizarre Suchmeldung: „Gesucht wird ein dunkelhaariges Mädchen, Schuhgröße 36,5, vermisst einen Ohrring.“ Die führt interessanterweise dazu, dass Streifenpolizisten mal eben mit dem Suchscheinwerfer Leipzig ableuchten – ohnehin aber eine Handlungssackgasse, denn die Gesuchte liegt praktisch zeitgleich misshandelt und tot im Krankenhaus, was ja hoffentlich auch aufgefallen wäre, wenn sich der Taxi-Fahrer, der die Sterbende transportierte, sich nicht aufgrund eben jener präzisen Suchmeldung gemeldet hätte. Dagegen wirkt die auch nach 48 Stunden immer noch flüssig-glänzende Blutlache am Tatort direkt realitätsnah.
Insgesamt trotz aller Schwachpunkte kein wirklich schlechter Film, was nicht zuletzt vor allem dem wieder grandios nüchtern-distanzierten Keppler zu verdanken ist, der sich einmal mehr dem allgemeinen sinnlos-aufgesetzten Höflichkeitsgeplänkel widersetzt. Das Ganze ist auch gefällig inszeniert und ganz nett anzuschauen, aber letztlich erinnert „Mauerblümchen“ ein bisschen an Popcorn: ziemlich aufgeblasen, der Geschmack aufgestreut, an sich aber geschmacksneutral, und wenn man es kräftig zusammendrückt, bleibt nicht viel davon übrig.