vonHelmut Höge 03.07.2009

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Man möchte am Liebsten auswandern – und immer mehr Ostler tun das auch: Nicht weil sie hier keine Arbeit finden, sondern aus deutsch-deutschem Überdruß. Die Briefmarke erinnert – mit drei Pollern – an die irischen Emigrationswellen – seitdem die Engländer die Insel erobert haben. Photo: Peter Grosse.

In Westberlin sind die upper few immer noch ganz aus dem Häuschen – über den plötzlichen Sieg über den Kommunismus. Der Springerstiefelverlag meint, dass mit der Enttarnung des Benno-Ohnesorg-Mörders Kurras als Stasi-Spitzel nun sogar die Zeit reif ist, um selbst ein „Springer-Tribunal“ zu veranstalten. Nicht um die eigene Konzern-Enteignung noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen, sondern diesmal genau andersherum: um die „68er“ und ihre ganzen Verbrechen noch einmal konzentriert vorzuführen. „Alle reden ständig über die Verbrechen der Stasi und der SED, aber keiner über die der Maoisten!“ so ungefähr.

Diese Morgenröte der antikommunistischen Reaktion hat jetzt mit dem Einbruch des Neoliberalismus noch zugenommen, außerdem galt es „20 Jahre Mauerfall“ als Topevent aufzuziehen – zusammen mit „2000 Jahre Hermannschlacht“…Die aber seit Obama vergutmenschlicht „Varusschlacht“ heißt.

Die hessische Commerzbank ließ sich dazu in der BRD-Hauptstadt plakativ einen neuen Werbespruch einfallen:

„Mauern einreißen/ Krisen meistern/ Das ist unser Alltag in Berlin!“

Auch die Weingutsbesitzer in Westdeutschland wollten heuer den „Mauerbruch“ ’89, und natürlich ihre guten gleich mit Weine, zünftig feiern. Sie sind seit 1910 im „Verband Deutscher Prädikatsweingüter“ (VDP) organisiert. Unter dem Motto „Die Freiheit zu Genießen – Genuss ohne Grenzen“ lud ihr Ehrenpräsident Michael Prinz zu Salm-Salm, ein pfälzischer Finanzfondsmanager und Weingutsherr, ins Wiesbadener Kurhaus. Die Gäste zahlten zwischen 195 und 650 Euro für eine „Galakarte“. Dafür wurde ihnen „Ostalgie in allen Sälen“, ein „Trabicorso“, ein Auftritt der Ostband „Die Prinzen“ und ein Udo Lindenberg-„Look Alike“ geboten. Vor der Tür hatte zudem Bundesverteidigungsminister Jung ein Segment der Berliner Mauer aufstellen lassen. Daneben platzierte man dann einen hessischen Gelegenheitsjobber in Volkspolizisten-Uniform, mit dem die illustren Gäste sich photographieren ließen. Einige taten dabei auch so, als würden sie über die Mauer klettern bzw. sie einreißen.

Vorher gab es aber noch eine „Audienz“ beim Schirmherrn des 9. VDP-Balls Ministerpräsident Roland Koch. Dort erschien auch der anscheinend einzige Gast aus Ostdeutschland: Roy Metzdorf, Besitzer des „Weinstein“ am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg – dem laut „Kleinen Johnson“ besten Weinlokal Deutschlands. Er kam zusammen mit dem Weinkritiker und FAZ-Autor Stuart Pigott und hatte sein altes FDJ-Hemd dabei, das er jedoch nicht überzog, weil ihn das ganze reaktionäre Brimborium an dem Abend zu sehr irritierte. So mahnte z.B. Roland Koch, bei aller Freude über die gewonnene Freiheit nicht die Bundeswehrsoldaten zu vergessen, die früher an der gefährlichen innerdeutschen Grenze Dienst taten. Und der aus dem niedersächsischen Fürstentum Lippe stammende Schweinfurter Unternehmensberater Georg Prinz zur Lippe hielt eine Rede auf Sächsisch, denn er hatte 1990 das bei Meißen gelegene Weingut seiner Familie „Schloss Proschwitz“ zurückgekauft. Der Prinz zu Salm-Salm stellte sich bescheiden als ‚Michael Salm‘ vor, erlaubte aber langjährigen Weggefährten, ihn einfach ‚Prinz‘ zu nennen

Wieder zurück im Osten erzählte Roy Metzdorf uns – dem Hornoaktivisten Michael Gromm und mir: „Beachtenswert war außerdem, dass man zum Dinner sechs westdeutsche Weine reichte, die von ostdeutschen Kellnern serviert werden durften, dass Ministerpräsident Koch zum Prinzenlied ‚Du musst ein Schwein sein‘ stehend und rhythmisch mitklatschte, während man zum Lied ‚Ich wär‘ so gerne Millionär‘ Kerzen schwang. Und ferner die Bemerkung des Prinzen: ‚Man müsse sich das mal vorstellen – dieses Haus sei noch vom Kaiser eingeweiht worden und nun schlügen wir uns hier mit kleinen Prinzen rum’…20 Jahre nach ’89 hat man sich dort also den Osten so richtig kommen lassen!“

Solche Geschichten hören wir gerne, besonders in Krisenzeiten. Aber, so fuhr Roy Metzdorf fort, „wer glaubt, derlei Skurrilitäten können nur im Westen blühen, irrt. Noch vor dem Mauerbruch spielte sich in der DDR, wie mir erzählt wurde, folgendes ab: Den Wehrdienst leistend, musste einmal eine komplette Kompanie im Winter in kurzen Hosen antreten. Es kam ein Offizier, der die Beine der Soldaten begutachtete und die zehn Jungs mit den dicksten Waden abführte. Sie wurden in ein Waldstück gebracht, in dem ein bajuwarisch blau-weiß geschmücktes Bierzelt stand. Die Dickwaden bekamen Krachlederhosen und Trachtenhemden verpasst und mussten einen Abend lang, Maßkrüge schleppend, so tun, als seien sie Almbuben. Zu bayrischer Live-Blasmusik tafelte an Holztischen niemand anderes als das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Abgeordneter der Volkskammer, Träger des Karl-Marx-Ordens, der Minister für Nationale Verteidigung Genosse Armeegeneral Heinz Keßler mit der versammelten militärischen Elite der DDR. Einige Jahre vor ’89 hatte man sich also hier den Westen so richtig kommen lassen!“

Das Hermann/Varus-Schlachtgetümmel

Die Schlacht am Teutoburger Wald im Jahr 9 nach Christi, in der einige germanische Stämme unter der Führung von Hermann dem Cherusker drei Legionen des römischen Feldherren Varus partisanisch aufrieben, jährt sich nun zum 2000. Mal. Die Nachkommen der Sieger von damals wollen das ganz groß feiern – unter der Schirmherrschaft von Angela Merkel.

„Die Kanzlerin wagt sich damit auf sumpfiges Gelände“, erklärte dazu Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung. Damit ist nicht das ursprünglich moorige Schlachtfeld gemeint, dass sich im übrigen neuesten englischen Erkenntnissen zufolge gar nicht mehr dort befindet – bei Detmold in Westfalen, wo Kaiser Wilhelm I. ab 1838 das die „Freiheitskriege“ besiegelnde Hermannsdenkmal errichten ließ, sondern im niedersächsischen Kalkriese – bei Osnabrück, wo man 2001 ein Museum errichtete – auf den Resten der erschlagenen Römer sozusagen.Es war der wohl letzte große deutsche Museumsbau. Er bündelt nun die archäologische Erforschung der einzigen deutschen Freiheitsbewegung, die nachhaltig siegreich war – im Gegensatz zu allen nachfolgenden: Bauernkrieg, Befreiungskriege, 1848, 1918, 1953 und 1989. Und hält die Erinnerung daran wach – mit Kostüm- und Volksfesten aller Art.

Die Schlacht bei Kalkriese, die endgültig die römische Besatzungsmacht vertrieb, ist nun auch nicht mehr nach dem Germanenführer Arminius (vulgo: Hermann) benannt, sondern nach dem von ihm einst besiegten römischen Heerführer Varus. Bis hin zur linksalternativen „tageszeitung“ hat sich inzwischen die politisch korrekte Meinung durchgesetzt, dass der einzige deutsche Sieg im Partisanenkrieg auf heimischem Territorium – „im sumpfigen Germanien“, wie Gustav Seibt schreibt, ein großer Fehler war: Uns entgingen dadurch nämlich mindestens 500 Jahre Zivilisation: Wenn Rom die Germanen ebenso wie zuvor die Gallier, die eher soldatisch als partisanisch kämpften, besiegt hätte, dann sähe hier jetzt alles noch viel kultivierter aus. Der Altertumsforscher Rudolf Borchardt sprach 1942 von der „verfehlten Romanisierung“ der deutschen Nation. Und bereits 1919 hatte der Schriftsteller Hugo Ball in seiner „Kritik der deutschen Intelligenz“ den Reformator Martin Luther als Zerstörer des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ ausgemacht, indem dieser unselige Mönch für den Feudaladel und gegen die Bauern Partei ergriff. So ähnlich wie dann 1918 die SPD-Führung um Ebert und Noske mit Hilfe der finstersten Reaktion die Aufstände der Arbeiter und Soldaten niederschlagen ließ.

Über den gallischen Umweg hatten die „Römer“ es unter Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts noch einmal mit den Deutschen versucht. Aber auch hierbei waren die an sich überlegenen französischen Truppen schließlich wieder in den „germanischen Sumpf“ – und in partisanischen Hinterhalt – geraten. Zwar gelang der deutsche Sieg diesmal nur dank des entschlossenen Widerstands der verbündeten Slawen (des russischen Heeres), aber die Ehre, dafür 1808 eine erste partsanische Kampfanleitung geschrieben zu haben, kommt dem Dichter Heinrich von Kleist zu – mit seinem Drama „Die Hermannsschlacht“. An einer Stelle heißt es darin: „Das ist der klassische Morast/ Wo Varus steckengeblieben./ Hier schlug ihn der Cheruskerfürst./Der Hermann, der edle Recke;/ Die deutsche Nationalität,/Die siegte in diesem Drecke.“

Die antinapoleonischen Insurrgenten in Preußen hatten inzwischen Probleme mit einem solchen Kampf: Immer wieder ermahnte der damals ins Exil nach Moskau ausgewichene Freiherr vom Stein die meist unter der Führung von Offizieren gegen Napoleon antretenden deutschen Freikorps, keine schneidigen Attacken zu reiten und sich auch nicht soldatisch zu verschanzen, sondern nach überfallartigen Angriffen rasch den Rückzug – z.B. in die „Emsländischen Moore“ – anzutreten. Umsonst. Erst als die napoleonische Armee bei Moskau ins Leere gesiegt hatte, wendete sich das Blatt. Dennoch waren es schließlich doch die Kosaken, die Berlin von der Franzosenherrschaft befreiten, die Bürger jubelten ihnen bloß zu. Desungeachtet sah sich die Partei- und Staatsführung der DDR stets in der Tradition der Guten, d.h. der wenigen aufständischen Preußen, die wie sie großteils vom russischen Exil aus gekämpft hatten.

Nach der Wende 1989/90 beschäftigte sich deswegen eine Reihe jüngerer westdeutscher Wissenschaftler noch einmal mit dem antinapoleonischen Volkswiderstand in Preußen – und kam dabei in Anlehnung an die Zivilisationstheorie von Norbert Elias zu dem zeitgeistigen Schluß, daß bei der Enthegung des Krieges durch Elemente von Partisanentum „ein Prozeß der Dezivilisierung“ eingeleitet wurde und werde. Besonders an der „Hermannschlacht“ des „Psychopathen“ Heinrich von Kleist liesse sich das Wieder-Barbarisch-Werden des Volkes im Widerstand klar herausarbeiten. Zudem erfolgte die Befreiung von den zivilisierten Franzosen mit Hilfe der eher barbarischen Russen (die Schleswig-Holsteiner erinnern sich angeblich noch heute schaudernd an den damaligen „Kosaken-Winter“), so dass man auch diesen Sieg – rückblickend – eigentlich als eine Niederlage ansehen muß. Ungefähr so wie 1945 auch die „Befreiung“?!

Auch das „Varusschlacht Museum“ in Kalkriese, das gemäß den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen quasi direkt auf dem Feld der Ehre unserer Altvorderer errichtet wurde (von den Zürcher Architekturbüros Anette Gigon und Mike Guyer) spricht von einer „Wende“, d.h. davon, dass die von den germanischen Stämmen, die sich im Gegensatz zu den keltischen nicht soldatisch verschanzt, sondern den Römern eine partisanische „Schlacht“ geliefert – und deswegen gesiegt hatten, einen „Wendepunkt“ in der „europäischen Geschichte markiert, dessen Erforschung und facettenreiche Auswirkungen den Menschen heute ein Verstehen der Vergangenheit und damit auch der Gegenwart ermöglicht.“

„Ebenso facettenreich ist das Programm. Unter dem Titel »IMPERIUM KONFLIKT MYTHOS. 2000 Jahre Varusschlacht« beleuchtet ein einzigartiges Ausstellungsprojekt vom 15. Mai bis 25. Oktober 2009 unterschiedliche Facetten des historischen Geschehens: ein Thema, drei Ausstellungen an den drei Originalschauplätzen Haltern am See, Kalkriese und Detmold. Auf der Website der Kooperation (www.imperium-konflikt-mythos.de) kann eine Tourismus-Broschüre heruntergeladen werden, die die Hauptveranstaltungen beinhaltet.“ Im Museum selbst gibt es darüberhinaus jede Menge „Führungsangebote“, die u.a. „kleine Pausen im Restaurant Varusschlacht“ beinhalten.

Die taz zeigte sich zwar zu Beginn all dieser Events durchauf offen für eine kritische Begleitung derselben – und druckte u.a. einen längeren Text des amerikanischen Hermannschlacht- (nicht Varusschlacht-) Forschers Phil Hill aus dem Prenzlauer Berg ab (siehe unten), aber zum Einen taucht in allen 14 taz-Artikeln, die 1990 bis jetzt über das derzeitige Schlachtgetümmel in und um und am Kalkriese-Museum erschienen sind, das Wort „Hermannschlacht“ nicht ein Mal mehr auf – es ist nur noch politisch korrekt von „Varusschlacht“ die Rede, und zum Anderen ist die taz inzwischen geneigt, sich überhaupt aus den dortigen „Festivitäten“ auszuklinken, wie man hier so sagt.

Stattdessen wird erwogen, obe man nicht langsam mal die ganzen „Hermannschlacht-Feste“, die heuer vornehmlich in westdeutschen Klein- und Mittelstädten gefeiert werden, wenn auch manchmal nur in quasi kleinem Kreis, zur Kenntnis nehmen müßte.

So bringt z.B. das Bielefelder Theater die „Hermannschlacht“ aus gegebenem Anlaß gleich „im Doppelpack“ auf die Bühne.

In den Kinos der Region Westfalen-Lippe läuft der historische Schinken „Die Hermannschlacht“ von 1924 (wenn auch mit dem Hinweis, der „Sieger wurde verklärt“).

Ebenfalls in der Gegend wurde eine „Hermannschlacht-Party“ um Mitternacht von der Polizei aufgelöst.

„Unsere Nachbarn haben allen Grund zum Feiern: 60 Jahre Demokratie, 20 Jahre Mauerfall, 2000 Jahre Hermann-Schlacht,“ bilanziert schon mal „dasmagazin.ch“.

Hier die Rezension von Phill Hill:

Die Auseinandersetzung mit „Hermann als Nationalheld“ fehlt in keinem der vielen Bücher zum Jubiläumsjahr der Varusschlacht. Will etwa beispielsweise Tillmann Bendikowskis mit „Der Tag, an dem Deutschland entstand“ (Bertelsmann, Bielefeld 2009, 320 Seiten, 19,95 Euro) den Hermann-Patriotismus aufpolieren? Weit gefehlt. Deutschland gleich Germanien? „Hermann“ dessen Stammvater? Unsinn, sagen alle Autoren unisono, für Bendikowski ist aber wohl nichts anderes wichtig: Seine These lautet, „Deutschland“ sei im Jahre 9 „entstanden“, weil man 1.500 Jahre später die Schlacht herangezogen habe, um die willkürlich erfundene Nation ideologisch zu begründen. Wer aber meint, die „Hermannsschlacht“ habe Deutschland geschaffen, redet auch dann Unsinn, wenn er das bedauert.

Der Band „Die Varusschlacht(C. H. Beck, München 2009, 126 Seiten, 7,90 Euro) des Archäologen Günther Moosbauer zeigt faktenreich, wie aus der Archäologie heraus eine Darstellung der Schlacht, der römischen Armee und Verwaltung und auch der germanischen Gesellschaft gelingen kann.

Boris Dreyer hat das nötige Pendant aus der Geschichtszunft geliefert: In „Arminius und der Untergang des Varus“ (Klett-Clotta, München 2009, 317 Seiten, 24,90 Euro) hält er sich zwar eng an die römischen Berichte, kombiniert sie aber mit dem Material aus dem Boden: Einen Bericht des Griechen Cassius Dio, der auf einen römischen Nachtmarsch deutet, sieht er durch einen erstaunlichen Fund bestätigt – Bohnenstroh in einer Bronzeglocke. Warum wolle man den Glockenlärm eines Lasttiers dämmen, wenn nicht, um zu nächtlicher Stunde den Germanen ungehört zu entkommen? Genau solche Verknüpfungen von Berichten und Funden sind noch viel zu wenig herausgearbeitet worden.

Christian Pantle hingegen liefert mit „Die Varusschlacht: Der germanische Freiheitskrieg“ (Propyläen, Berlin 2009, 320 Seiten, 16,90 Euro) eine der interessantesten Beschreibungen der damaligen Zeit und eine sachliche Darstellung der Germanen, ohne in „dumpf-romantische Klischees“ zurückzufallen.

Die ehrgeizigste der Neuerscheinungen ist sicherlich „Die Varusschlacht: Rom und die Germanen“ von Hans-Peter Märtin (Fischer, Frankfurt am Main 2008, 420 Seiten, 22,90 Euro), die neben einer guten umfassenden Rezeptionsgeschichte allerdings ihre Schwachstelle in der Schilderung der Schlacht selbst hat. Märtin zweifelt nicht nur, wie die meisten, an Cassius Dios „Überfall in einem dichten, schluchtenreichen Wald“, sondern verwirft so gut wie die gesamte Darstellung des antiken Historikers: So hätten die Römer nicht aus Verzweiflung ihre Wagen verbrannt, sie seien nicht in einem langgestreckten, schwer zu verteidigendem Zug heranmarschiert, nicht einmal geregnet habe es. Zum Schluss wundert sich der Leser, wieso sie, die Römer, unter solch unwidrigen Umständen die Schlacht überhaupt verloren haben.

Nicht weniger interessant und faktenreich ist das Jugendbuch „Das Rätsel der Varusschlacht (Fackelträger, Köln 2008, 224 Seiten, 19,95 Euro) von Wolfgang Korn.

Hinzugefügt sei, dass man bei „amazon.de“ inzwischen noch weitere 132 Bücher mit dem Wort „Varusschlacht“ im Titel finden kann. Das ist neuer deutscher Rekord, könnte man mit Herribert Faßender vielleicht sagen. Unter dem Wort „Hermannschlacht“ finden sich dort im wesentlichen nur noch drei Autoren: der „Psychopath „Heinrich von Kleist natürlich sowie ihn gewissermaßen flankierend die gleichfalls adligen Heinz Ritter-Schaumburg und Walther Rohdich von Kinzel.

Um diesem ganzen ideologischen Getümmel eine Basis zu geben, haben Wissenschaftler aus der ehemaligen BRD-Hauptstadt Bonn eingedenk der Worte des letzten Siemenschefs „Where we failed was leadership culture, not company culture” jetzt das „Leadership-Gen“ isoliert (entdeckt). Die FAZ berichtete kürzlich:

Aufgrund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse sollen Führungskräfte befähigt werden, “gehirngerechter” zu entscheiden, wie Christian Elger das ausdrückt. Elger ist Direktor der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn und Wissenschaftlicher Geschäftsführer des dort ansässigen Unternehmens Life&Brain. Er sieht ein großes Potential für das noch in den Kinderschuhen steckende Forschungsgebiet, wie sein unlängst erschienenes Buch “Neuroleadership” zeigt (Rudolf Haufe Verlag, Planegg/München 2009).

Insgesamt sind es vier Hirnsysteme, die im Konzept von Neuroleadership über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Als zentrale Schaltstelle wird das Belohnungssystem angesehen. Hierbei handelt es sich um eine Funktionseinheit, bestehend aus mehreren Strukturen, vor allem aus dem Nucleus accumbens im Striatum und Arealen im Mittelhirn und Stirnlappen. Wenn das Belohnungssystem aktiviert wird, fühlt man sich wohl und motiviert. Erkenntnissen der Hirnforschung zufolge verstärkt, verändert oder hemmt dieses System, ohne dass dies dem Menschen bewusst wird, Gedankenprozesse und Verhaltensweisen, die man im Nachhinein rational zu begründen versucht. Im Berufsleben wird es zum Beispiel aktiviert, wenn das Erlernen neuer Arbeitsabläufe umgehend honoriert wird und man die Gelegenheit bekommt, Erlerntes auch anzuwenden. Fairness und Vertrauen spielen ebenfalls eine große Rolle.

Im Fokus der Neuroleadership-Forschung steht auch das emotionale System, das Reaktionen wie Vorfreude, Wut, Furcht und Panik hervorruft. Als wichtige Struktur wurde der paarige Mandelkern identifiziert, der mit vielen anderen Hirnteilen in Verbindung steht. Er kann eintreffende Informationen aufwerten und zum Beispiel bewirken, dass Hormone ausgeschüttet werden, die das Wohlbefinden fördern. Anders als im Alltag wird in der Forschung zwischen Emotion und Gefühl unterschieden. Emotionen steuern unser Verhalten und werden uns erst bewusst, wenn sie sich als Gefühl äußern. Neuroleadership zielt darauf, mit eigenen und fremden Emotionen so umzugehen, dass das Belohnungssystem aktiviert wird.

Als weitere Säule erfolgreicher Führungspraxis gilt das Wissen um das Gedächtnissystem. Die Hauptaufgabe des Gedächtnisses sehen die Wissenschaftler nicht darin, uns in Erinnerungen schwelgen zu lassen, sondern Fähigkeiten bereitzustellen, die in der Zukunft nützlich sein könnten. Das Gehirn, so die Annahme, macht ständig Vorhersagen darüber, welche Informationen als nächste eintreffen werden. Dementsprechend plant es die Reaktionen darauf. “Nichts ist dem Gehirn so verhasst wie der schiere Zufall”, sagt Elger. Zur Vorhersage benötigt das Gehirn Erinnerungen. Diese sind nicht in Stein gemeißelt, sondern werden ständig überarbeitet, oft auch durch neue ersetzt. Das macht den unersetzlichen Wert der Erfahrung aus. Gute Führungspraxis wird diesen Schatz zu nutzen wissen.

Ob ein Vorhaben letztlich umgesetzt wird, hängt vom Entscheidungssystem ab. Diese im Cortex des Stirnlappens beheimatete Instanz gilt als oberstes Kontrollzentrum für Entscheidungen und eine der Situation angemessene Steuerung von Handlungen. Sie entwickelt Strategien und langfristige Planungen. Zur Ausübung seiner Macht ist das Entscheidungszentrum aber auf Signale aus den drei anderen Systemen angewiesen. Das werden gute Führungskräfte berücksichtigen.

Neuroleadership vermittelt eine Ahnung davon, mit welcher Wucht die Neurowissenschaften die Zuordnung von Hirnleistungen zu Hirnstrukturen weiterhin vorantreiben werden.

So weit die FAZ. Das Seltsame an diesem reduktionistischen Dumpfdarwinismus ist, das er nicht nur das Marxsche Diktum – „Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie!“ – empirisch bestätigt (endlich), sondern gleichzeitig auch noch das Kunststück fertigbringt, den radikalen „Lamarxismus“ einiger meiner besten Freunde gewissermaßen zu erden, denn sie strebten schon immer eine „Neuroleadership“ an, was Dirk Baecker dann in einem Merveband „postheroisches Management“ nannte.

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