vonSchröder & Kalender 02.09.2007

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Der Bär flattert schwach in nordöstlicher Richtung.

Vorgestern während des Heimwegs auf dem U-Bahnhof Kottbusser Tor: Kurz bevor der Zug abfuhr sprang ein Latino mit langem, grau-schwarzem Haar, vermutlich ein Teilnehmer des Literaturfestivals, in den Wagen, starrte auf den Plan der BVG-Streckenführung, erkannte die falsche Richtung und stürzte an die bereits geschlossene Tür. In Machomanier riß er die gesperrte Tür gewaltsam wieder auf – wie es die Kids tun, um Mut und Kraft zu beweisen –, und sprang wieder auf den Bahnsteig. Aber der Schließmechanismus klemmte seine blaue Umhängetasche ein, die Bahn fuhr bereits. Mit einem Schrei wie der eines Azteken auf dem Opferstein rannte der Mann neben dem anfahrenden Zug her, mit wehenden Haaren, die Hand am herausstehenden Tragriemen. Die Tasche hing innen an der Tür. Glücklicherweise ließ er los, bevor der Zug in den Tunnel einfuhr.

Barbara rief immer wieder: »Der arme Mann! In der Tasche ist doch alles drin!« Jörg beruhigte sie: »Wir geben sie ab, er kriegt sie wieder.« Als er es zum zweiten Mal sagte, fügte er hinzu: »Wir sind doch vertrauenswürdig« – kleiner Scherz. Der junge, alerte Intellektuelle neben uns, der die ›Berliner Zeitung‹ gelesen hatte, machte daraufhin eine witzig gemeinte Geste mit der Hand: Man weiß nie. Der Punk mit dem Fahrrad sagte daraufhin: »Det dauert denn aber! Erst uff Jleisdreieck jeht die Tür links wieder uff, denn is die Tasche frei.« Zwei muskulöse junge Männer mit Sporttaschen, Typ Start-up-Unternehmer, fachsimpelten mit uns wo man die Tasche abgeben könnte, weil abends kein Personal mehr arbeitet. Ein junger Araber mit Bibi sagte nichts. Den vernünftigsten Vorschlag zur Taschen-Sache machte einer der beiden Lederschwulen, die uns gegenüber saßen: »Am besten man gibt die Tasche beim Fahrer ab.« Eine gemischte Berliner Solidargemeinschaft diskutierte. Zwischen diesen Leuten, die sich um die Tasche Gedanken machten, hockten drei stumme Touristen, vor ihren Augen war gerade eine Sensation passiert.

Plötzlich sprang der junge Zeitungsleser auf, ruckte an dem eingeklemmten Tragriemen und riß ihn aus den Dichtungsgummis der Türen heraus. Die Bahn hielt an der Station Möckernbrücke, die Tür öffnete rechts, und er rannte mit der Tasche Richtung Fahrer. Der Zug hielt länger als gewöhnlich. Der junge Araber ging zur offenen Tür, spähte in Richtung Triebwagen und sagte: »Ich sehe ihn nicht mehr laufen. Hoffentlich hat er die Tasche abgegeben.«

»Natürlich hatte er die Tasche abgegeben«, sagten wir uns zu Hause auf dem Sofa, aber erst jetzt wurde uns blitzartig klar, daß wir uns die ganze Zeit nur über das Schicksal dieser blöden Tasche unterhalten hatten und nicht daran gedacht hatten, daß der Mann von der Bahn mitgeschleift worden wäre, wenn ihm nicht zum Glück der Tragriemen von der Schulter gerutscht wäre. Keine Notbremse hätte mehr geholfen, und wir wären hilflos mit einem zerschmetterten Körper vor der Tür weitergefahren. Wir brauchten zwei Absinth mehr als üblich, um diesen Schock abzustreifen.

Eine Nachbemerkung: Heute hörten wir von einem befreundeten Journalisten, dessen Namen wir nicht nennen sollen, daß laufend Unfälle passieren: Leute, die vor einfahrende Züge gestoßen werden oder selbst springen, Unfälle mit Jugendlichen, die Türen in der eben geschilderten Manier aufreißen und so weiter. Die BVG will nicht, daß darüber in der Presse berichtet wird, angeblich um Nachfolgetäter nicht zu animieren. Wir vermuten, daß es noch andere Gründe für diese Zurückhaltung gibt: Seit das Personal abgeschafft wurde, welches früher die Fahrt freigab, haben sich die Unfälle sprunghaft vermehrt. Denn der Fahrer kann die Vorfälle am Zug natürlich nicht sehen. Die Rationalisierung fordert ihren Preis.

(BK / JS)

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