Im Giesshübl-Gebiet erreicht die mobile Stadt auf kürzestem Weg die Ruhe des Wienerwaldes, und sie tut das bereits seit Generationen. Ein von Forststrassen durchzogener Mischwald bietet sich an, Aussichtwarten und Rasthäuser, Bärlauch im Frühling und Pilze im Herbst. Es gibt eine Kugelwiese, die gar nicht rund ist, einen »Salzstangerlwirt«, es gibt Eichhörnchen und Rehe, und am Roten Bründl tropft eiskaltes Wasser aus dem Fels – kurz: die Gegend im Westen der Stadt bietet genau jene Naturidyllen, die du ab einem gewissen Alter am Wochenende brauchst.
Das Giesshübl hat in dieser Hinsicht Tradition: hier liegt eine der ersten bemannte Rettungshütten der Alpen auf nicht einmal 600 Meter Seehöhe, Funk und Verbandkasten immer griffbreit. Die Familien wandern durch Einöden und an Kapellen vorbei zum »Teufelsfelsen« oder zum »Höllenstein« (der Wiener hat Respekt vor der Natur). Dazwischen radeln die unvermeidlichen Biker, meist Pensionisten im Rennoutfit.
Um diesen Ausflugstourismus am Wochenende zu fördern, pflegte die Wienerwaldgemeinde Hinterbrühl, zu der dieser Naturflecken behördlich resultiert, über Jahrzehnte die Zufahrtsstrasse und liess unter den Giesswänden, wo das allgemeine Fahrverbot beginnt, einen asphaltierten Parkplatz anlegen. Hier an diesem Ort, wo sommers Schafe weiden und winters Kinder rodeln, beginnt nun ein Ärgernis, an dem sich studieren lässt, mit welcher Aggressivität die sozialen Klassen heute einander begegnen.
Denn dieser Parkplatz, den die Wiener Familien, ansteuern, der stand jahrzehntelang zur kostenlosen Benutzung frei. Davon profitierte nicht nur das angrenzte Wirtshaus, das Jahr für Jahr über sein eigenes Dach hinaus wächst und links ein Stück anbaut und rechts einen Meter aufstockt. Davon profitierten auch die anderen Anrainer. Alle weiteren Strassen und Zufahrtswege zum Waldgebiet sind nämlich mit strengem Fahr- und Halteverbot belegt; »ausgenommen Anrainer«, versteht sich. Der Giesshübler Mensch hat sich schliesslich sein Haus in Grünruhelage gekauft oder gebaut, und er verspürt wenig Lust, die Waldeinsamkeit mit den lufthungrigen Ausflüglern zu teilen.
Besitz entzweit überall die Welt. Warum nicht auch hier? Der Interessengegensatz zwischen Residenten und Erholungssuchenden wäre im Prinzip gut auszuhalten, und war das ja auch über Jahrzehnte, würde nur das Abgrenzungsbedürfnis der Giesshübler Waldwinkelgesellschaft an einem vernünftigen Punkt halt machen. Das aber tut es nicht! Die Anfahrtstrasse wurde mittlerweile mit Parkverboten gepflastert, sie wurde entschleunigt und der gemeindeeigene Riesenplatz vor dem Wandergebiet gebührenpflichtig gemacht.
»Raubrittertum!«, »Wegelagerei!« möchte der empörte Städter rufen, der ja bloss noch irgendwo anfahren will an die Natur. Doch es sind eben keine malerischen Raubritter und Wegelagerer, die einen hier auflauern, es ist der durchgeknallte bessere Mittelstand. Denn die Gemeinde Hinterbrühl exekutiert ja bloss den Volkswillen ihrer Mitglieder, also der gnadenlos egoistischen Häuslbauer, die sich von den anrollenden Stadtbewohnern in ihrer Waldmeditation gestört fühlen.
Zuwiderhandelnde sind alle, die nicht am gebührenpflichtigen Parkplatz halten. Sie werden von den Exklusivbewohnern des Ortes rigoros zur Strecke gebracht. Die Polizei verfügt brav Organstrafen gemäss § 50 des Verwaltungsstrafgesetzes (VStG), ab zwanzig Euro aufwärts. Auf der Wachstube bekommt der frustrierte Stadtflüchtling dann den wohlmeinende Ratschlag: »Gehen Sie doch auf einen Kaffee ins Wirtshaus, die Gäste parken gratis!«
Der Giesshübler Dauerkonflikt existiert also auf gut Wienerisch gar nicht. Die Verlierer bilden ihn sich bloss ein! Paradox ist er sowieso. Denn beide Gruppen (die Gruppe aus der Stadt und die Besitzerklasse der Anrainer) sind ja trotz politischer Gebietsgrenzen gleichmassen Wiener und Wienerinnen. Die Berufstätigen der einen Gruppe pendelt unter der Woche in die inneren Zonen Wiens zum Hackeln, und blecht dabei entweder für öffentlichen Transport oder den Parkplatz am Firmenstandort. Die andere Gruppe der WienerInnen tuckert – mit Rucksack, Jause und Wanderstöcken im Kofferraum – einem warmen Sonnentag entgegen. Das Schicksal hat sie entzweit wie Kain und Abel.
© Wolfgang Koch 2007
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