vonDilek Zaptcioglu 23.09.2010

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So wie der Mauerfall und die Wiedervereinigung Deutschlands uns in jenen Zeiten irgendwann mit dem Problem der absoluten Geschichtsmüdigkeit konfrontiert haben, fühlt man sich diese Tage in Istanbul auch ziemlich ermattet vor so viel „Geschichte“.

Das Referendum vom 12. September hat praktisch nur eine wichtige Konsequenz, die auch von den Verfassern der Verfassungsreform beabsichtigt war:

Den „Kemalisten“ den institutionellen Boden unter den Füssen wegzuziehen. Die Reform erlaubt der Regierung, die Richter in den obersten Gerichten größtenteils selbst zu ernennen. Die Staatsanwälte sind sowieso Beamten des Justizministeriums. Die Polizei untersteht dem Innenministerium. Die Armee kann künftig keine Angehörige mehr entlassen, ohne daß sie vor Gericht auf Wiedereinstellung klagen.

Die türkische Gesellschaft hat den Militärputsch als ein „politisches instrument“ zu verachten gelernt. Das ist jedoch nicht das Verdienst dieser Regierung allein. Die türkische Linke und die Liberalen, aber auch schier breite, unpolitische Kreise haben dazu beigetragen, daß der Normalbürger denkt: Okay, ein Putsch ist nichts, mit dem man sich schmücken kann!

Jetzt gilt es, die Demokratie auszugestalten.

Denn die „Feinde der offenen Gesellschaft“ warten einfach nicht. Sie sind unermüdlich. Ich rede von dem vandalistischen und fundamentalistisch orientierten Angriff auf die kleinen Kunstgalerien in dem Istanbuler Stadtteil Tophane. Es gibt Indizien dafür, daß dies keine spontane Wutaktion der Anwohner, sondern ein durch Fremde gesteuerter, organisierter Angriff war.

In Deutschland fragt man z.B. nach fremdenfeindlichen Angriffen nach den „geistigen Wegbereitern“. Man hinterfragt das politische Klima, in dem so etwas möglich wird. In der Türkei gilt leider immer noch die Methode: deckel drauf. Meine Familie ist unschuldig!

 http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=au&dig=2010%2F09%2F23%2Fa0092&cHash=055a2bd956

http://www.artinfo.com/news/story/35832/mob-attacks-turkish-art-gallery-crowds-for-public-drinking/

Und noch von viel mehr: Zum Beispiel von Polizisten, die in einem zentralen Park in Ankara jungen Paaren  die Leviten lesen, weil sie „anstößig“ auf Bänken gesessen hätten.

Die gute Nachricht des Tages:

Die türkischen Demokraten haben noch ein Wort mitzureden: Durch Fernsehkanäle wie NTV, Skyturk und CNN Turk, durch noch unabhängige, liberale Zeitungen meldet  sich die demokratische Öffentlichkeit zu Wort und das bringt den Kulturminister dazu, die betroffenen Galerien zu besuchen und gegen die beiden Polizisten, die in Ankara die jungen Paare belästigt hatten, Diziplinarverfahren einzuleiten.

Aber noch ist keine Entwarnung: Die 7 Verhafteten von Tophane wurden noch gestern auf freien Fuß gesetzt.

Und wenn die Liberalen und Demokraten nur noch auf Facebook und Twitter angewiesen sind, dann wird es langsam eng – aber nein, kein Grund zum Pessimismus. Aber auch kein Grund dafür, sich bequem im Sessel zurückzulehnen.

Die Türkei verdient eine volle Demokratie und eine wunderbare offene Gesellschaft.

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https://blogs.taz.de/die_geschichte_ist_noch_nicht_zu_ende/

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