vonImma Luise Harms 06.03.2011

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Die S-Bahn ist voll. Ich stehe im Gang neben einem Vierer-Abteil. Draußen ist es kalt. Die Menschen stecken in ihren Vermummungen aus Wolle, Vlies und Fell. Ihre Augen sind nach draußen oder in das Dickicht ihrer eigenen Gedanken gerichtet.
Es gibt Blicke, die flüchtig oder verstohlen hin und her wandern. Die Frau, die am Fenster sitzt, beugt sich vor; vielleicht will sie aussteigen und ich kann ihren Platz haben. Nein, sie hat nur etwas aus ihrer Tasche genommen. Ich kann es nicht erkennen, die Sicht auf ihre Hände ist mir verdeckt.

Ich betrachte ihren Kopf von der Seite. Das glatte schwarze Haar ist kupferbraun überfärbt; es ist auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammen gekämmt. Der sich aufspreizende, schwankende Haarbusch ist von einem schwarzen Spitzenband umschlossen, an dem eine große, silberne Rose befestigt ist. Eine Haarlocke ist ausgespart und fällt über das Ohr bis auf den Kragen aus lachsfarbenem Pelzimitat.
Mein Blick hängt an dem exakt gezogenen Scheitel zwischen dem hochgekämmten und dem herabfallenden Haar. Irgendetwas an diesem Scheitel wundert mich. Der harte Strich, die freigelegte weiße Kopfhaut darunter. Das passt nicht zu den romantischen Details der Frisur.

Es ist eine Schminktasche, die die Frau herausgeholt hat. Sie mustert ihr Gesicht in einem kleinen Handspiegel. In der anderen Hand hält sie eine Bürste mit Wimperntusche.

Ich versuche, im Gang aufzurücken, um besser sehen zu können. Die Frau ist vielleicht dreissig Jahre; sie hat asiatische Gesichtszüge, die durch ihre Bemalung wie ein Ornament herausgearbeitet sind.
Ein Ornament, an dessen Geschlossenheit sie arbeitet. Sie fängt an, ihre schwarzen Augenwimpern mit Tusche zu durchkämmen – materialreiche Spezialwimperntusche, die das Volumen bis zur Borstigkeit verdichtet. Augenwimpern wie Gitterstäbe. Wenn die Lider sich senken, halten die Wimpern den Blick zurück wie eine schöne Gefangene.

Mit einem Schaumstoff-Schwämmchen verteilt die Frau nun Bronze auf der Haut zwischen dem Auge und der zum Strich ausgezupften Augenbraue. Eine zweite Farbe erzeugt einen künstlichen Schatten und versenkt das Auge in ein dunkles Tal.
Die hellrosa Farbe ist für die Lippen. Eine darüber aufgetragene Schicht ist durchscheinend – ein künstlicher Speichelfilm, zu Glas erstarrte Lüsternheit.

Als die Frau sich wieder vorbeugt, um die Schminktasche wegzustecken, fällt die abgeteilte Haarlocke nach vorn. Ein großer, paillettenbesetzter Ohrring klirrt gegen die Wange. Hinter dem Ohr leuchtet ein Bluterguss in purpurnen Farben auf. Drei Streifen wie drei Finger lang. Sie ziehen sich bis in den Nacken.
Ich erschrecke. Da hat sie sich wieder aufgerichtet und hat jetzt einen Pappbecher in der Hand, aus dem sie Eis löffelt. Eis – mitten im Winter! Sie isst das Eis und schaut aus dem Fenster.

Die S-Bahn fährt in den Bahnhof Warschauer Straße ein. Die Frau verschließt den Pappbecher mit einem Deckel und greift ihre Tasche. Beim Aussteigen streift mich ihr Blick; ich erschrecke noch einmal.

Neben dem anfahrenden Zug sehe ich sie mit festen Schritten den Bahnsteig entlang gehen. Der Tritt ihrer hochhackigen Stiefel versetzt den Haarbusch in Schwingungen. Schultern und Rücken darunter sind zu einer Rundung zusammengezogen, wegen der Kälte vielleicht.
Im Vorübergehen wirft sie den Becher mit dem Eis in einen Abfallkorb.

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