vonDetlef Kuhlbrodt 28.10.2009

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die der Festivaldirektor  Claas Danielsen zur Eröffnung des Leipziger Dokfilmfestivals hielt, sorgte MDR-Verantwortlichen für großen Unmut. Gestern, bei der Eröffnung der Deutschen-Reihe-Sektion wurde der Festivalchef von einem MDR-Repräsentanten regelrecht abgekanzelt. Danielsen begegnete der Situation souverän und wies u.a. daraufhin, dass das gegen ihn verwandte Zitat aus der FAZ falsch gewesen war. Wenn der MDR seine Sponsorenschaft für das Festival einstellen würde, würde es wohl noch zu allerlei medialem  Aufruhr kommen. (An dem ich mich gerne beteiligen werde)

Weiter unten ist die schöne Rede von Danielsen.

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Eröffnungsrede von Claas Danielsen

zum 52. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und

Animationsfilm DOK Leipzig, 26.10.2009

Sehr geehrter Herr Staatsekretär König,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung,

sehr geehrte Vertreter und Vertreterinnen des diplomatischen Korps,

sehr geehrte Förderer, Unterstützer, Partner und Sponsoren von DOK Leipzig,

sehr geehrte Gäste aus aller Welt,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie ganz herzlich zum 52. Internationalen Leipziger Festival für

Dokumentar- und Animationsfilm.

Was sehen Sie, meine Damen und Herren?

Sie sehen einen großen Kinosaal, viele rote Sitze, viele Menschen. Sie sehen eine

Leinwand, darauf sehen Sie mich.

Wie sehen Sie mich? Klein, aus der Ferne, hinter einem Pult stehend.

Und groß zugleich, vielleicht in einer Nahaufnahme, auf der Leinwand.

Ich trage einen Anzug, wegen des besonderen Anlasses sogar eine Krawatte. Ich

wirke konzentriert, manchmal lächele ich. Doch sehen Sie wirklich, wie es mir geht?

Diejenigen, die mich besser kennen, sehen vielleicht, dass ich erschöpft bin von den

Monaten der Festivalvorbereitung.

Was die meisten von Ihnen nicht erkennen können, ist dass ich mir große Sorgen

mache – Sorgen um unseren Kollegen Matthias Heeder, der Mitglied unserer

Auswahlkommission und Kurator des diesjährigen Sonderprogramms „T.I.A. – This is

Africa“ ist. Mitsamt Team ist er zu Dreharbeiten im Sudan unterwegs und hat sich seit

Tagen nicht gemeldet. Wir warten auf ein Lebenszeichen und denken sehr an ihn.

Wie zeige ich mich Ihnen? Was zeigen wir uns voneinander?

Mit meinem Anzug bin ich – zumindest für deutsche Verhältnisse – dem Anlass

entsprechend gekleidet. Ich genüge der gesellschaftlichen Konvention, zeige Ihnen

aber wenig von meinem wirklichen Selbst. Denn ich bin auch traurig. Mein Vater wird

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morgen 80 Jahre alt und ich kann nicht mit ihm feiern. Dass ich das erwähne, gehört

hier eigentlich nicht her. Dass ich mir Sorgen um ihn mache, fürchte, dass er bald

sterben könnte und dann bedauern werde, immerzu gearbeitet anstatt mehr Zeit mit

ihm verbracht zu haben, das ist sehr privat. Das sollte ich besser für mich behalten,

oder?

Warum eigentlich? Ich könnte mir vorstellen, dass einige von Ihnen jetzt denken:

Wann habe ICH meinen Vater oder meine Mutter das letzte Mal besucht? Oder:

Warum sitze ich jetzt hier im Kino, anstatt Zeit mit meiner Frau und unseren Kindern

zu verbringen.

Vielleicht denken Sie auch an die tägliche Hektik des Berufslebens, wie die Zeit

vorbeifliegt und wie wenig Raum Sie sich für sich selbst und die Ihnen wichtigen

Menschen genommen haben. Denn das Leben ist endlich. Dahinter steht der

Gedanke nach dem Wesentlichen.

Ich bin in den letzten Wochen immer wieder von Journalisten gefragt worden, was

das Besondere am Dokumentarfilm sei.

Dokumentarfilme sind immer wieder überraschend. Durch die Augen der

Filmemacher entdecke ich Unbekanntes oder lerne mir Vertrautes völlig neu kennen.

Dokumentarfilme berühren oft unbequeme und verdrängte Fragen und thematisieren

das Wesentliche.

Die Haltung des Filmemachers oder der Filmemacherin eröffnet mir einen

Perspektivwechsel, eine neue Sicht auf die Welt. Ein wirklich guter Film zeichnet sich

durch eine Haltung aus, die ich an der Wahl der Protagonisten, der Bilder, der Worte,

der Töne, am Rhythmus, aber auch an den Auslassungen erkenne. Mit dieser

subjektiven und authentischen Haltung zeigt und offenbart sich der Filmemacher, so

wie sich auch die Protagonisten vor der Kamera zeigen. Natürlich machen sie sich

dadurch auch angreifbar – gerade weil sie sich zeigen.

Ein guter Film öffnet mir einen Raum – einen Raum zum Nachdenken, zum

Assoziieren, zum Verstehen, zum Sinn-finden. Er erklärt nicht alles, wagt Leerstellen,

mutet mir Irritationen zu und schenkt mir so letztlich geistige Freiheit.

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Ein guter Film öffnet mir auch den Raum für Gefühle, er ermöglicht mir ein

emotionales Verständnis der Welt. Und er überlässt mir die Deutungshoheit – ich

werde als einzigartiges geistiges, emotionales und seelisches Wesen ernst

genommen.

Während künstlerische Dokumentarfilme mit Autorenhandschrift im Kino immer

wieder Erfolge feiern, beobachte ich im Fernsehen seit Jahren die Verdrängung des

Genres ins programmliche Abseits. Mir wird immer klarer, dass dies das Ergebnis

einer gefährlichen Haltung Programmverantwortlicher gegenüber dem Zuschauer ist.

Dieser wird oft für eingeschränkt aufnahmefähig und etwas zurückgeblieben gehalten

und damit letztlich als unmündiger Bürger abgestempelt. Komplexe, ungewöhnliche

und fordernde Themen und Erzählweisen sind ihm angeblich nicht mehr zuzumuten.

So setzt in den Dokumentationen des Formatfernsehens nach 30 Sekunden der

Kommentar ein und zieht sich atemlos durch bis zu Minute 43, oder bei

internationalen Produktionen bis Minute 52, unterbrochen nur von Interviews – alles

muss leicht und eindeutig verständlich sein. Im Streben nach berechenbaren

Einschaltquoten und sicherem „Audience Flow“ ist das Programm durchformatisiert

worden. Festgefügte Sendungsrezepte haben das Medium erstarren lassen. Hinter

diesen Formatfassaden verstecken sich die verantwortlichen Redakteure und

machen sich unangreifbar. Eine redaktionelle Handschrift jedoch können sie nicht

mehr hinterlassen. Sie zeigen sich nicht mehr.

Anstatt mit Neugier das Fremde zu erkunden und Vorurteile aufzubrechen, kommen

Themen, die jenseits des regionalen oder nationalen Sendegebiets angesiedelt sind,

fast nicht mehr vor. Bieten Sie einem Redakteur mal einen Filmstoff über Afrika an, in

dem es nicht um wilde Tiere geht…

DOK Leipzig würdigt traditionell das Filmschaffen aus Ländern abseits der gut

subventionierten, westlichen Filmkultur und versucht die filmischen Leerstellen in

unserem Bewusstsein zu füllen. Deshalb widmen wir uns in diesem Jahr mit „T.I.A. –

This is Africa“ dem afrikanischen Dokumentar- und Animationsfilm und lassen unser

Publikum eintauchen in die Lebensrealitäten in den Ländern südlich der Sahara. Wir

wagen den Blick hinter die Schlagzeilen von Armut, AIDS und Bürgerkriegen. Durch

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die Augen der einheimischen Regisseure können wir ein Afrika jenseits der Klischees

entdecken, das reich ist an Kultur, an Mut, an Einfallsreichtum, an Lebenswillen –

aber natürlich auch an Schmerz, Verletzungen und Verlust. Ich begrüße unsere

Gäste aus Afrika besonders herzlich in Leipzig!

Bei DOK Leipzig können Sie übrigens alle Filme in ihrer Originalsprache genießen.

Wann haben Sie im deutschen Fernsehen den letzten untertitelten Film gesehen?

Auf ARTE? Vor 0.00 Uhr? Fremdsprachen werden in Deutschland nicht untertitelt,

sondern wegsynchronisiert.

Machen wir uns mal klar, was da passiert: Den Menschen vor der Kamera wird ihre

Stimme genommen! Und wir als Zuschauer können ihre Emotionen nicht mehr hören.

So werden wir sowohl des authentischen Gefühls als auch des Wohlklangs ihrer

Stimmen und ihrer Sprachen beraubt. Wie unsere Zeit, so auch das Fernsehen:

Rationales Verständnis statt sinnlichem Erleben.

Nein, ich möchte mich nicht in der wohlfeilen Schelte auf das Fernsehen verlieren

und die Gräben zwischen der Filmszene und dem Medium vertiefen. Schließlich

sitzen wir alle in einem Boot und können nicht ohne einander. Und doch kann ich als

sehender und hörender Mensch nicht umhin festzustellen, dass sich das öffentlich-

rechtliche Fernsehen freiwillig zum reinen Massenmedium hat degradieren lassen.

Wir nähern uns dem kleinsten gemeinsamen Nenner und bekommen das geboten,

was am wenigsten weh tut. Wir mauern uns mental ein und erzeugen ein Wir-Gefühl

der Verängstigten. Seien wir ehrlich: Die vordringlichste Aufgabe des Fernsehens ist

nicht mehr Bildung, Aufklärung und gesellschaftliche Teilhabe, sondern die

Ruhigstellung der vielen sozial absteigenden Menschen.

In dieser Situation wird der Dokumentarfilm, geschweige denn etwas so

unkontrollierbares, fantastisch wildes und manchmal auch anarchisches wie der

animierte Kurzfilm, in den Büros der Programmplaner nicht mehr wertgeschätzt, von

den Produktionsleitern nicht mehr anständig finanziert und im Programm nicht mehr

angemessen platziert. Doch ohne das Fernsehen kann der Dokumentarfilm –

zumindest momentan – nicht existieren. Und das Fernsehen verarmt inhaltlich und

ästhetisch, verliert breite Zuschauerschichten und wird immer irrelevanter. Wann

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endlich werden von den Marktforschungsinstituten die Nicht-mehr-Fern-Seher

gezählt?! Ich nenne das mal die „Schattenquote“.

Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen in den von uns allen finanzierten

Funkhäusern auf: Steuern Sie um und widerstehen Sie. Zeigen Sie sich! Zeigen Sie

ihre Frustration und Wut, die ich in Gesprächen mit intelligenten Redakteuren immer

wieder höre.

Aber es geht auch anders: Ich freue mich, dass wir Ihnen in diesem Jahr neun Filme

als Weltpremiere präsentieren können, die im Rahmen zweier Ausschreibungen von

DOK Leipzig und in enger Zusammenarbeit mit den Sendern 3sat bzw. ARTE

entstanden sind. Und auch unser regionaler Sender und Medienpartner, der MDR,

stellt unter Beweis, dass er mit seinen Produktionen Wettbewerbsniveau erreichen

kann, wenn man die engagierten Redakteure und Redakteurinnen nur lässt.

Viele junge Menschen, die die Flimmerkiste links liegen lassen, kommen in unsere

Kinos und finden hier das Besondere, das Auf-regende – sie entdecken die Magie

des Dokumentar- und Animationsfilms. Morgen früh um 10 Uhr werden hier rund 450

Schüler in Ihren Sesseln sitzen und im Rahmen unseres Vermittlungsprojekts „DOK

macht Schule“ „Leipzig im Herbst“ von Andreas Voigt und Gerd Kroske sehen.

Schwarz-weiß, ganz ruhig erzählt, ein 20 Jahre alter Film mit Menschen, die ihre

Angst überwunden und sich gezeigt haben, die auf die Straße gegangen sind und die

Friedliche Revolution ausgelöst haben.

Der Film bildet den Einstieg in unser Sonderprogramm „Transit ’89. Danzig-Leipzig-

Bukarest“, in dem sie Filme entdecken können, die die Anfänge und die Folgen der

Umbrüche in Mittel- und Osteuropa anhand einmaliger filmischer Dokumente

nachzeichnen und uns die Emotionen der Tage im Herbst 1989 noch einmal

durchleben lassen.

Nach der Sichtung von rund 2.600 eingereichten Filmen aus 108 Ländern, ändert

sich die Sicht auf die Welt und auf das, was vor unserer Haustür passiert. Nachdem

wir Filme über die existentielle Gefahr durch Atommüll und Kernenergie gesehen

haben, wird die Laufzeit von Atomkraftwerken in Deutschland verlängert.

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Nachdem wir erschütternde Dokumente über die Folgen der Klimaerwärmung

gesehen und vor kurzem Zeuge geworden sind, wie das gesamte Kabinett der

Malediwen in Taucheranzügen eine Forderung an die Welt nach der drastischen

Reduktion des CO2-Ausstoßes unterschrieben hat – und dies sechs Meter unter der

Meeresoberfläche – streben Politiker weiterhin unbegrenztes Wachstum an. Dabei ist

die Zeit reif, laut über Verzicht zu sprechen und sich in Demut gegenüber der

Schöpfung und den nachfolgenden Generationen zu üben.

Es gibt viele neue Mauern, die wir einreißen müssen – die physischen wie auch die

in unseren Köpfen. Erst dann können wir uns zeigen – aufrichtig, mutig, ehrlich,

solidarisch, mitfühlend und selbstbewusst.

Mögen uns die Filme des Festivalprogramms und die Begegnungen mit unseren

Gästen aus aller Welt helfen, unseren Horizont zu erweitern, neu zu denken und

intensiver zu fühlen, Freundschaften zu schließen und uns offen zu zeigen.

Ich danke unseren Förderern, Sponsoren, Spendern und Partnern und all jenen, die

im Rahmen unserer Aktion „Zimmer frei“ Filmemacher aufnehmen, ganz herzlich für

Ihre Unterstützung! Ohne Sie könnte ich jetzt nicht sagen:

Hiermit eröffne ich das 52. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und

Animationsfilm und wünsche uns allen ein aufregendes, friedliches, lustvolles und

erfolgreiches Festival.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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