Das angekündigte Großereignis beim neuen flagship store von ‚Juliaandben’ fand dann auch wirklich statt und machte alle Beteiligten für eine Nacht glücklich, wie früher donnerstags im ‚Cookies’, zu Uslars seligen Zeiten. Ich stand mit Philipp Rühmann (*) in einer Gruppe Interessierter, denen wir eine Diskussion über vergangene Popkultur und Jugendkultur vorführten. Ich sagte also pflichtschuldigst, Popkultur sei synonym mit Jugendkultur, und mit dem Verschwinden der Popkultur im Laufe dieses Jahrzehnts (infolge des Tods der Musikindustrie) sei ergo auch die Jugendkultur gestorben. Dies bedeute, dass die Jugend kein eigenes Lebensgefühl mehr habe, sondern dasselbe Lebensgefühl wie die Erwachsenen.
Philipp, der das Buch ‚Zombie Nation’, in dem diese These in Romanform ausgeführt wird, sehr wohl kannte, spielte die Umstehenden – es waren auch ältere Leute dabei – den Naiven und warf sich in die Brust:
„Gut gebrüllt, Löwe! Aber kann man es wirklich so sagen? Kann man es wirklich so stehenlassen, dass junge Leute heutzutage schlechte Musik hören, während man früher gute Musik hörte? Ist dieser Standpunkt nicht etwas altbacken? Kennen wir denn die jungen Leute von heute? Womöglich stehen sie in irgendwelchen Garagen und formen völlig neue Töne, von denen wir nichts ahnen!“
Rühmann zählte selbst noch zur Jugend und wusste genau, was die Leute hörten. Außerdem wusste er, dass sich meine These explizit auf die Popmusik und nicht auf Amateurmusik bezog. Popmusik war die kostbare und verhältnismäßig kleine Schnittmenge von gutverkäuflicher Musik und Avantgardemusik. Zu der gutverkäuflichen Musik gehörte zu allen Zeiten auch der Kitsch, die Schnulze, der Schlager und der endlos aufgekochte Mainstreamrock. Heino verkaufte schon vor zwei Generationen ein Vielfaches der Beatles. Aber darum ging es nicht. Die gutverkäufliche Musik war in toto verschwunden, und mit ihr auch die guten Anteile, die sozusagen avantgardistischen, eben jene, die exakt das Lebensgefühl der aktuellen Jugendjahrgänge ausdrückten, trennscharf abgesetzt von dem Lebensgefühl der Jahrgänge davor und danach. Ich sagte ihm das.
„So, wirklich?“, nahm er in gespielter Rollenprosa seinen Faden wieder auf, „dann verstehe ich nicht, warum alle Radiosender diese Musik noch spielen. Es gibt jetzt sogar Partys, sogenannte ‚Ü-30-Partys’, auf denen ausschließlich alte Musk gespielt wird.“
„Schon richtig, und diese alte Musik – neue kommt ja nicht mehr hinzu, nach dem Tod der Musikindustrie, wie ich ausführte (räusper) – , klingt jedes Jahr um zehn Prozent abgestandener. Das Verfallsdatum ist seit Ewigkeiten überschritten, und es stinkt.“
Jetzt warfen sich die Umstehenden Blicke zu. Eine ältere Frau sagte:
„Na, die fetzen sich ja ganz schön, die beiden Streithähne, wie beim Hahnenkampf, he he he…“
„Nun gut, da wird dir wohl jeder rechtgeben, Jolo. Aber glaubst du wirklich, dass junge Leute, meinetwegen 20jährige, heute nicht mehr jung sind, sondern a priori erwachsen…?“
Es ging nun eine Zeit lang hin und her, bis tatsächlich alle Umstehenden selbst über das Thema zu diskutieren begannen. Philipp und ich zogen uns zurück. Wir konnten es kaum fassen, dass wir wirklich, in diesem Jahrtausend, noch Leute zum Diskutieren gebracht hatten. Ein Gefühl echter Rührung beschlich uns. Rühmann sagte schließlich:
„Ach Jolo, in Wirklichkeit ist alles noch weit schlimmer, als du es in ‚Zombie Nation’ beschrieben hast. Die Leute gönnen sich nach dem Abitur nicht ein einziges Jahr Ausgelassenheit. Gestern lernte ich einen 19jährigen Filmstudenten kennen…“
Er erzählte nun ausführlich von dieser Begegnung. Ein wundervoller junger Mensch, der Philipps Herz sofort erobert hatte, und dennoch: einer, der sein ganzes Sinnen und Trachten ‘nur’ seinem Karriereziel gewidmet hatte. Der diese Haltung pflichtgemäß und im schönsten Werbedeutsch ‚Leidenschaft’ nannte, und ‚Besessenheit’, und ‚wissen, was man will’. Ob das alles einen SINN macht, fragte er sich nie. Überhaupt tauchte die Sinnfrage, die Frage nach dem Großen Ganzen, nach dem Funktionieren der Welt und dem eigenen Anteil daran, niemals mehr auf bei den 18- bis 25-Jährigen. Damit das so blieb, damit der Hamsterradlauf ungestört losbretterte und nie mehr gestört wurde, waren geisteswissenschaftliche Fächer Tabu und intellektuelle Auseinandersetzungen unbekannt. Ich gab zu bedenken, dass die Jugend doch immerhin noch kräftig feiere: wilder als früher, keine Frage, jedes Wochenende bis kurz vorm Koma. Oh nein, winkte mein Brillenfreund (Jahrgang 1974) ab, das sei keine echte Ausgelassenheit, kein wirkliches Sich-treiben-lassen, keine Lust am Neuen und Unbekannten. Es sei eine reine Leistungsveranstaltung, geprägt und strukturiert von denselben Motiven wie unter der Woche: nach oben kommen, gut dastehen, unbedingt die richtigen Leute treffen, auf keinen Fall mit den falschen (d.h. berufsirrelevanten) Leuten sprechen, Status erlangen… Nein, in einer einzigen ‚Rette sich wer kann!“ Haltung, die ihr hektisches Leben geworden war, stürzten sich alle in ihre planlos gewählte Karriere… Und – hatten Recht damit! Die Welt ging unter, und nur die Fittesten würden überleben.
Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir: nicht einmal die.
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