vondorothea hahn 24.09.2010

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In den hiesigen Medien ist es allenfalls eine Kurzmeldung. Verständnislose Journalisten berichten, dass alle anderen Europäer „viel länger“ arbeiten. Behaupten, der französische Präsident habe gar keine andere Wahl, als das Rentenalter heraufzusetzen. Und suggerieren, dass Streiken in Frankreich eine Art Volkssport sei. Dazu zeigen sie Bilder von Leuten, die in der Herbstsonne auf einer Terasse sitzen und das Leben genießen. Wahlweise bei Wein oder Pastis.

Hach! Wie gerne wäre ich heute in Paris. Oder in Marseille. Oder in Toulouse. Auf irgend einem Boulevard, inmitten von verantwortungslosen und genetisch zum Streiken vorprogrammierten Menschen, die auf Lohn verzichten, um soziale Gerechtigkeit zu verlangen. Die in der Demonstration leben. Und die Dinge verteidigen, von denen auf dieser Seite des Atlantiks niemand zu träumen wagt: Die Rente mit 60. Kollektive Lohnvereinbarungen. Und einen starken öffentlichen Dienst.

Nie habe ich ein Land aufregender und inspirierender erlebt, als Frankreich an solchen Tagen.  Streiktage in Frankreich mögen zu Staus und zu Überfüllung der öffentlichen Verkehrsmittel führen. Aber vor allem sind sie Begegnungen mit der Geschichte. Momente, in denen Leute, die sonst im Schatten stehen, das Wort ergreifen. Und Überlegungen anstellen, die viel klarer sind ,als das Meiste, was aus den Palästen der französischen Republik und der Europäischen Union verlautet.

Wie anders sind die USA der gegenwärtigen Zeiten. Da finden keine landesweiten Streiks statt. Da ist die Regierung der Feind. Und da demonstriert, wer auf die Straße geht, nicht etwa für mehr soziale Gerechtigkeit. Sondern dagegen. Die minimale Krankenversicherung für (fast) alle ist „staatlicher Dirigismus“. Der Präsident, der sie eingeführt hat, ist ein „Sozialist“ und „Kommunist“. In Debattensendungen erklären „Experten“, für so viel Einmischung in die individuelle Freiheit gebe es „keinen Platz in Amerika“. Und Politiker, die vorschlagen, das Erziehungsministerium abzuschaffen und die Schulen zu privatisieren, bekommen großen Zulauf.

In den USA wären die eine oder zwei oder drei Millionen Demonstranten, die heute in Frankreich auf die Straße gegangen sind, ebenso viele gefährliche Umstürzler.

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