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Die Welt-Lexika geben auf: Brockhaus und Meyer haben vor dem weniger von Leistung als von Leidenschaft beseelten Wikipedia-Wissen kapituliert. Der Brockhaus-Verlag setzt nach seinem Fastkonkurs nun ebenfalls laut taz auf ein “Internet-Lexikon”. Jetzt gibt es aber auch noch eine “Roman-Krise”: Schuld daran ist laut FAZ die von Habermas bereits 1985 konstatierte “neue Unübersichtlichkeit”, die trotz seiner Analyse nicht weniger, sondern im Gegenteil noch enorm zugenommen hat. Wie hängen diese beiden “Ereignisse” zusammen – und was tun die Autoren dagegen?
Sie schreiben statt Welt-Romane Provinz-Lexika! Als Vorbild dafür könnte das vielgelobte “Alphabet der polnischen Wunder” von Stefanie Peter (2007) gelten. Da wäre zum Einen die “Spurensuche in Mitteldeutschland” von Joachim Krause zu nennen, “Am Abend mancher Tage” betitelt, die alle von antikommunistischem Westschmäh benebelten Zuspätgeborenen mit DDR-Biographemen von “Aufbruch” (1953) über “Feindberührung”, “Flugblätter” und “Kartoffelkäfer” bis “Zeltplatzleben” und “Loslassen” (1999) informiert. Der Autor ist Theologe in Sachsen, seit 1982 für seine Landeskirche als “Beauftragter für Glaube, Naturwissenschaft und Umwelt” tätig und hat das alphabetische Lexikonprinzip zugunsten seiner eigenen Provinz-Biologik souverän vernachlässigt.
Dies im Gegensatz zu dem in Thüringen lebenden Henner Reitmeier, der zwar in seinem “Großen Stockraus” nicht weniger persönlich räsoniert, aber weil er sich über den fünfbändigen Brockhaus, den er 1971 erwarb, so geärgert hatte – wegen all der darin enthaltenen “Verzerrungen/Auslassungen/Lügen”, ist er nun in seinem eigenen einbändigen “Relaxikon” bei der alphabetischen Ordnung seiner Gedankenwelt geblieben. Diese beinhaltet seine Lieblingsautoren und -vögel ebenso wie einige noch nicht existierende Einrichtungen – das “Misfitness-Center” z.B. sowie schwer abzugewöhnende Gewohnheiten: u.a. das “Rauchen” und etliche persönlichen Macken: “Fluchen”, “Circus Herkules”, “Hochmut des Alters”… Trotz vieler privater Vorlieben, wie “Landkommunen”, “Musik” und “Thälmanns Enkelin” (statt Teddy Thälmann), ist der “Große Stockraus” ein echtes Lexikon – mit ausführlichem Register und ganz viel Welthaltigkeit. Für meinen Geschmack sogar zu viel, denn der Autor lebt quasi auf dem Land und ich erwartete von ihm, dass er zwar noch im kleinsten zerdärmten Frosch am Feldrand die Abwesenheit Gottes erkennt – und meinetwegen beklagt, aber solche Ochsenfrosch-Wörter wie “Gerhart Schröder”, “Rudolf Augstein” und “George Bush” getrost dem “Bild”-Lexikon aus dem Springerstiefelverlag überläßt.
Während Reitmeier also seine Welt in das Provinznest (Waltershausen), in den es ihn verschlagen hat, reinholte, um es lexikalisch aufzubereiten, hat der niedersächsische Bauernsohn Henning Ahrens in seinem “Provinzlexikon” akribisch die Allerweltsweisheiten, wie sie in seinen ländlichen Lebensraum einsickerten, von A bis Z registriert: “Baumärkte”, “Canapees”, “Fußgängerzonen”, “Mehrzweckhallen”, “Nagelstudios”. usw.. Umgekehrt wäre es mir lieber gewesen: Wenn er uns – in der idiotischen “Weltstadt” Berlin z.B. – sein Provinzwissen nahegebracht hätte: Also nicht einfach nur “Kuh”, sondern “Holstein-Frisian” (HF-Kühe) eingetragen hätte, nicht einfach nur “Feldfrucht”, sondern “Gen-Mais” und “Kartoffeln” – und da wiederum z.B. die umkämpfte Sorte “Linda”, nicht einfach nur (Dorf-)”Kneipe”, sondern “Maikel’s Taverne” in Rosenwinkel oder “Bei Annie” in Wienbergen. Aber Henning Ahrens hat einen besonderen Weltbegriff: So berichtet er z.B. unter dem Stichwort “Rübenmaus” von einem Cousin, der eine “Rübenroder-Flotte” besaß – und ihm am Feldrand mitteilte: “‘Gleich kommt die Rübenmaus’. Ich wußte nicht, was er damit meinte (denn ich hatte 20 Jahre fern der Landwirtschaft verbracht), wagte aber nicht zu fragen, um meine Weltläufigkeit nicht in Frage zu stellen.” Die “Rübenmaus” erwies sich dann als ein “Monstrum von Maschine”, dass die zu Mieten getürmten Rüben auflädt, um sie auf LKWs umzuladen. Wenn man weiß, dass es sich bei den “Rüben” um Zuckerrüben (z.B. der Sorte “Budera”) und bei der “Rübenmaus” um eine Verlademaschine (z.B. von “Ropa”) handelt, ist das nicht “Weltläufigkeit” sondern gediegenes Rübenbauernwissen (in Ahrens Falle überdies familiales).
Herbert Achternbusch beklagte einmal: “Da, wo früher Passau, Rübenberge und Weilheim war, ist jetzt Welt…Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen.” Und die drei Provinzlexika-Autoren, das würde ich nun sagen, sind beim Versuch, diese verdammte “Welt”, die bloß ein blödes Obama-Phantom ist, nun ihrerseits zu vernichten, auf halbem Wege stehen geblieben: zwischen Brockhaus und Wikipedia etwa. Herausgekommen ist dabei eine Art Halbweltwissen. Am wenigsten übrigens in Joachim Krauses “Spurensuche” – trotz seiner Weltreligionszugehörigkeit und seiner traditionellen Naturwissenschafts-Ausrichtung, die er jedoch z.B. auf einen “Konrad Lorenz light” reduziert hat – in einer schönen Eintragung, die von einer verifizierten Schwan-Beobachtung handelt.
– Joachim Krause: “Am Abend mancher Tage. Eine Spurensuche in Mitteldeutschland,” Wartburg Verlag 2008, 205 Seiten, 18 Euro 50
– Henner Reitmeier: “Der große Stockraus. Ein Relaxikon”, Oppo-Verlag 2009, 333 Seiten, 25 Euro
– Henning Ahrens: “Provinzlexikon”, Knaus-Verlag 2009, 301 Seiten, 19 Euro 95.