Der nationale Drogentotengedenktag wird jeweils am 21. Juli mit Gedenkveranstaltungen in zahlreichen deutschen Städten zur Erinnerung an die Menschen begangen, die an den Folgen ihres Drogenkonsums verstorben sind. 2010 fanden bereits in mehr als 60 deutschen Städten Gedenkveranstaltungen an diesem Tag statt und auch international gibt es mittlerweile entsprechende Aktionen. Der sogenannte „Drogentod“ hat weit mehr mit Entscheidungen von Politikern zu tun, als so mancher ahnt. Dies soll hier anhand von zwei Beispielen aufgezeigt werden.
Zürich: Drogenrealität und Drogenpolitik
Im Widerspruch zu jeder Vernunft durften in Zürich bis September 1986 keine Spritzen an Heroinabhängige abgegeben werden. Im Jahr 1985 drohte der damals noch amtierende Kantonsarzt Gonzague Kistler, unterstützt vom kantonalen Gesundheitsdirektor Peter Wiederkehr, Ärzten und Apothekern mit „patentrechtlichen Maßnahmen bis hin zum Bewilligungsentzug“, falls sie sich nicht an das Verbot der Spritzenabgabe halten würden. Erst im September 1986 änderte der Zürcher Regierungsrat die Heilmittelverordnung und gab den Spritzenverkauf frei.
Schon lange vor dem Aufkommen von AIDS war bekannt, dass durch den Gebrauch von unsterilen und verunreinigten Spritzen tödliche Infektionskrankheiten wie Hepatitis C sehr leicht übertragen werden können, doch erst AIDS hat die Tragweite der Problematik des absurden Verbotes der Spritzenabgabe in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerufen. Noch heute löst die Weigerung des Zürcher Kantonsarztes Mitte der achtziger Jahre, die Spritzen zur AIDS-Prävention freizugeben, Wut und Ärger aus. Seine Argumente gegen die Spritzen waren die Argumente der Drogenprohibition: mit dieser Maßnahme setze man „falsche Zeichen“ und Leute würden durch die Erhältlichkeit von Spritzen zum Drogenkonsum aufgefordert. Diese Argumente wirken, beachtet man die günstige Entwicklung auf die Verbreitung von HIV durch Spritzenaustauschprogramme, zynisch. Glücklicherweise wurde die Politik in der Folge geändert.
Vom Standpunkt der Ethik aus betrachtet war das Verhalten des Kantonsarztes Gonzague Kistler und des kantonalen Gesundheitsdirektors Peter Wiederkehr in jeder Beziehung inakzeptabel und vom medizinischen Standpunkt aus stand es im krassen Widerspruch zur ärztlichen Verpflichtung, Gesundheit zu fördern und Leben zu erhalten. Vom sozialen und gesellschaftspolitischen Standpunkt aus betrachtet kann so ein uneinsichtiges Verhalten nur als kriminell bezeichnet werden, denn wohl niemand in der Schweiz hat billigend so viele Menschenleben aufgrund eines abstrakten Abstinenzparadigmas geopfert wie diese fundamentalistischen Amtspersonen.
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Anzahl der AIDS-Todesfälle und sogenannten „Drogentoten“ in der Schweiz in den 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Datenquelle: Daten und Fakten zur Drogenpolitik um die Jahrtausendwende – Drogenstatistiken einmal genauer betrachtet. Eine Auswertung und Zusammenstellung von Hans Cousto (Frühjahr 2000).
Im Oktober 1984 betrug der Anteil intravenös drogenkonsumierender Personen an der Gesamtzahl der gemeldeten AIDS-Erkrankungen in Europa gerade einmal 2% aller Fälle. Nach einem Jahr, im Oktober 1985 betrug dieser Anteil bereits 8%. Innerhalb eines Jahres wuchs dieser Anteil um sechs Prozentpunkte an. Die Schweiz hatte Mitte der achtziger Jahre die höchste Häufigkeitszahl an AIDS-Erkrankungen in Europa zu verzeichnen. Mit 11,8 Fällen pro Million Einwohner lag die Schweiz im Herbst 1985 vor Dänemark (11,2) und Frankreich (8,5). Ein Jahr später, im Herbst 1986 hatte die Schweiz mit 21,2 Fällen pro Million Einwohner wiederum den höchsten Wert aller Staaten Europas. Die Gründe für diesen hohen Wert seien nicht bekannt, vermeldete das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) in Bern. In Zürich erkannten jedoch mehr als 300 Ärzte die Gründe für die rasche Ausbreitung von AIDS in der Schweiz. Nachdem der Regierungsrat des Kantons Zürich sich hinter den Kantonsarzt stellte und eine Aufsichtsbeschwerde gegen ihn ablehnte, unterzeichneten sie 1985 eine Erklärung, wonach sie auch weiterhin Spritzen abgeben würden. Engagiert für die ethischen Grundsätze der Ärzteschaft und mit Zivilcourage setzten sie sich über das Verbot hinweg und gaben weiterhin sterile Spritzen an Fixer ab und retteten so vielen von ihnen das Leben.
Erst im September 1986 änderte der Regierungsrat die Heilmittelverordnung und gab den Spritzenverkauf frei. Eine prohibitive Maßnahme wie das Verbot der Spritzenabgabe führt unweigerlich zu einer Schadensmaximierung mit unabsehbaren Schäden für betroffene Individuen und die Gesellschaft.
Die Übertragung von Viren über unsteriles Spritzbesteck ist ein vermeidbarer Infektionsweg. Stetiger Gebrauch steriler Spritzen mindert die Wahrscheinlichkeit einer Infektion bei der intravenösen Applikation gegen Null. Allein in den Jahren 1989 bis 1996 hätte durch vernünftiges Handeln in der ersten Hälfte der achtziger Jahre das frühzeitige (vorzeitige) Ableben von mehr als 1.400 Menschen zu großen Teilen vermieden werden können. Anders ausgedrückt: etwa 40 Prozent der „AIDS-Toten“ in der ersten Hälfte der neunziger Jahre waren in der Schweiz gemäß Ursachenprinzip „Prohibitionstote“.
European Cities on Drug Policy (ECDP)
Frankfurt am Main ist eine der wenigen Städte in Deutschland, die nicht mit einer „Flickenteppichpolitik“ in Sachen Drogen an die Bewältigung der Probleme herangegangen ist, sondern bereits zu Beginn der 90er Jahre mit einer klaren Konzeption. Die Grundlage dieser Konzeption ist die Frankfurter Resolution, die anlässlich der „1. Konferenz: Europäische Städte im Zentrum des illegalen Drogenhandels“ im November 1990 in Frankfurt am Main von den Vertretern der Städte Amsterdam (NL), Frankfurt am Main (D), Hamburg (D) und Zürich (CH) verabschiedet und unterzeichnet wurde. Auf Basis der Frankfurter Resolution kooperieren die Städte, die im Städteverbund European Cities on Drug Policy (ECDP) zusammengeschlossen sind, bei der Umsetzung einer pragmatischen und akzeptierenden Drogenpolitik. Dazu gehörten vor allem Spritzenaustauschprogramme und Fixerstuben.
In Frankfurt am main wurde die Konzeption der Resolution konsequent umgesetzt, was in der Folge zu einer markanten Minderung der Drogenproblematik führte. Die Zahl der sogenannten „Drogentoten“ sank in der Zeit von 1991 bis 1997 um mehr als das Sechsfache. Keine andere Stadt konnte eine so erhebliche Minderung verzeichnen wie Frankfurt am Main.
European Cities Against Drugs ECAD)
Berlin gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Städteverbundes European Cities Against Drugs (ECAD), der am 28. April 1994 in Stockholm als Gegenreaktion zum stets an Bedeutung gewinnenden ECDP, der – im Gegensatz zum ECAD – eine fortschrittliche Drogenpolitik befördert, gegründet wurde. Auf der Drogenkonferenz der Weltmetropolen in Stockholm, an der der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und Jugendsenator Thomas Krüger teilnahmen, wurde die „Stockholmer Resolution“ verabschiedet. Auf den Inhalt hat Berlin entschiedenen Einfluss genommen. Die Resolution verfolgt das Ziel einer strikten und harten Drogenbekämpfungspolitik. Desshalb ist der Forderung nach Legalisierung von Drogen auch eine eindeutige Absage erteilt worden.
Sitz des ECAD ist Schwedens Hauptstadt Stockholm. Eingeladen zur Gründungsversammlung am 28. April 1994 hatte der konservative Bürgermeister von Stockholm, Carl Cederschiöld. In seiner Ansprache bei der Gründungsversammlung sagte Carl Cederschiöld: „Wir geben hiermit auch eine klare und deutliche Botschaft an Städte wie Amsterdam, Zürich, Hamburg und Frankfurt. Ihre Art von Politik ist keine Lösung für Europas Drogenprobleme. Ganz im Gegenteil, die laxe Politik dieser Städte ist eine Ursache dafür, dass noch mehr junge Leute ihr Leben mit Drogen ruinieren. Eine solche Politik ist völlig unverantwortlich – sowohl gegenüber den Einwohnern dieser Städte als auch gegenüber anderen Europäer.“
Schweden führte eine harte sogenannte „Null-Toleranz-Politik“ bezüglich Drogen ein. Dafür wurde Schweden von vielen konservativen Poliotikern immer wieder gelobt. Doch die Konsequenzen dieser Politik sind verheerend – in Schweden steigt die Zahl der sogenannten „Drogentoten“ seit Jahren kontinuierlich an, wie aus der folgenden Abbildung ersichtlich ist.
Abbildung 2 zeigt die Zahl der sogenannten „Drogentoten“ in Schweden als Zeitreihe von 1995 bis 2015. Datenquelle: EMCDDA: Overdose deaths > Trends > Selection B.
Im „Europäischen Drogenbericht 2016“ sind in Tabelle A6 auf Seite 88 die Zahlen der sogenannten „Drogentoten“ wie auch deren Anzahl pro Million Einwohner für das Jahr 2015 für alle Staaten der Europäischen Union angegeben. In Schweden, das für seine restriktive und prohibitive Dogenpolitik bekannt ist, lag die Zahl der sogenannten „Drogentoten“ pro Million Einwohner bei 100. In Deutschland lag diese Zahl bei 22, in den Niederlanden, wo man seit Jahrzehnten legal Gras und Haschisch kaufen kann, bei 16 und in Portugal, wo seit der Jahrtausendwende der Besitz von Drogen für den Eigenbedarf nicht mehr strafbewehrt ist, lag diese Zahl bei 6. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aufgrund seines Drogenkonsums stirbt, ist im liberalen Portugal mehr als 16mal geringer als im prohibitiven Schweden.