Am 24. März 2020 stellte Bundesinnenminister Horst Seehofer die Kriminalstatistik für das Jahr 2019 vor. Seit dem Jahr 2017 ist die Fallzahl bei „Straftaten insgesamt“ rückläufig. Im Berichtsjahr 2019 wurden bundesweit insgesamt 5.436.401 Straftaten registriert und somit ein Rückgang von -2,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet. Bei den Delikten betreffend Verstöße gegen Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) wurde hingegen eine Zunahme von 2,6 Prozent registriert. Delikte in Bezug auf das BtMG sind in erster Linie reine Kontrolldelikte, das heißt, die Zahl der registrierten Delikte hängt vor allem von der Fahndungsintensität seitens der Polizei ab. Offenbar nutzt die Polizei die frei gewordenen Kapazitäten vor allem um Drogenkonsumenten – Personen, die zumeist anderen Personen keinen Schaden zufügen – zu verfolgen.
Betäubungsmitteldelikte im Zeitvergleich
Im Jahr 1993, als zum ersten Mal nach dem Beitritt der sogenannten „neuen Bundesländer“ zur Bundesrepublik eine gesamtdeutsche Kriminalstatistik erschien, lag die Zahl der erfassten Verstöße gegen das BtMG nicht einmal halb so hoch wie heute. Im Jahr 1993 lag diese bei 122.240, im Jahr 2019 lag diese bei 359.747. Dies entspricht einem Anstieg um 194,3 Prozent. Bei den auf Cannabis bezogenen Delikte stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der erfassten Delikte sogar um mehr als das Vierfache, nämlich von 50.277 im Jahr 1993 auf 221.866 im Jahr 2019. Dies entspricht einem Anstieg um 341,3 Prozent.
Wegen der Änderung des staatlichen Bereiches sind die Daten seit 1991 mit denen der Vorjahre nur bedingt vergleichbar. Die Zahlen bis 1990 beinhalten die Delikte der alten Bundesländer einschließlich West-Berlin, die Zahlen der Jahre 1991 und 1992 beinhalten die Delikte der alten Bundesländer einschließlich Gesamt-Berlin, in den Zahlen ab 1993 sind die Delikte aller Bundesländer enthalten. Diese Angaben sind auch bei allen folgenden Abbildungen zu berücksichtigen.
Anteil der Cannabisdelikte im Zeitvergleich
In den 80er Jahre des letzten Jahrhunderts stieg der Anteil der Cannabisdelikte in Bezug auf alle BtM-Delikte nahezu stetig bis 1986 auf 66,6 Prozent um danach aufgrund der Legalisierungsdebatte rapide zu sinken. Der tiefste Anteil (39,3 Prozent) in der Folge wurde sechs Jahre später (1992) registriert. Im Jahre 1992 legte Richter Wolfgang Neskovic vom Landgericht Lübeck dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage zur Entscheidung vor, ob das Cannabisverbot mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Jz. – 713 Js 16817/90 StA Lübeck – 2 Ns (Kl. 167/90)). Das BVerfG entschied darüber im Jahr 1994 (BVerfGE 90, 145 – Cannabis).
In der Folge stieg dieser Anteil nahezu stetig bis zum Jahr 2004 auf 62,5 Prozent. In den Jahren danach pendelte der Anteil dann zwischen 57 und 62 Prozent und lag 2019 bei 61,7 Prozent. Die derzeitige Legalisierungsdebatte hat nicht zu einer Reduktion des Anteils der registrierten Cannabisdelikte geführt wie Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre. Ganz im Gegenteil, die Repression gegen Cannabiskonsumenten hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Allgemeine Verstöße im Zeitvergleich
Als im Winter 1971/72 das neue Betäubungsmittelgesetz in Kraft trat, verkündete die Bundesregierung, dass mit dem Gesetz in erster Linie die Verfolgung der Drogenhändler und Drogenschmuggler beabsichtigt sei und erleichtert werden solle. Die Höchststrafe wurde zur Abschreckung von drei auf zehn Jahre heraufgesetzt. Am 1. Januar 1982 wurde nach einer Novellierung des Betäubungsmittelgesetzes die Höchststrafe von zehn auf 15 Jahre angehoben.
Obwohl mit dem BtMG in erster Linie Händler und Schmuggler verfolgt werden sollten, lag der Anteil der auf den Konsum bezogenen Delikte (allgemeine Verstöße gemäß §29 BtMG) nie unterhalb von 60 Prozent. Bis kurz nach der Jahrtausendwende schwankte der besagte Anteil stets zwischen 60 Prozent und 70 Prozent (einzige Ausnahme 1972), um dann im Jahr 2004 seit Jahrzehnten wieder die 70 Prozent Marke zu überschreiten. Im Jahr 2019 erreichte dieser Anteil den neuen historischen Höchstwert von 79,1 Prozent. Die Repression gegen die Drogenkonsumenten hat in den letzten Jahren ein Rekordniveau erreicht. In den folgenden vier untenstehenden Grafiken ist der Trend in den letzten Jahrzehnten gut ersichtlich.
Innerhalb der letzten zehn Jahre stiegt die Zahl der erfassten BtM-Delikte insgesamt um 56 Prozent, die Zahl der erfassten rein auf den Konsum bezogenen Delikte stieg sogar um 72 Prozent.
Im letzten Jahrhundert lag der Anteil der auf den Konsum bezogenen Delikte deutlich unter 70 Prozent, in einigen Jahren sogar nur wenig mehr als 60 Prozent.
Im neuen Jahrtausend lag der Anteil in den ersten Jahren noch deutlich unter 70 Prozent, erreichte im Jahr 2004 erstmals einen Wert von mehr als 70 Prozent und lag 2019 fast bei 80 Prozent.
Repression gegen Cannabiskonsumenten im Zeitvergleich
Um das Ausmaß der Repression gegen Cannabiskonsumenten zu veranschaulichen, ist es sinnvoll, die Zahl der erfassten Delikte in Relation zur Bevölkerung zu setzen. In der Kriminalistik spricht man hier von Häufigkeitszahlen, Experten im Fachbereich Drogenpolitik nennen diese Zahlen auch Repressionskoeffizienten, da die Zahlen vor allem die Kontrollintensität seitens der Polizei widerspiegeln.
Im letzten Jahr stieg der Repressionskoeffizient bei den auf Cannabiskonsum bezogenen Delikte auf dem Rekordwert von 224,6 Delikte pro 100.000 Einwohner, was einer Zunahme von 40 Prozent gegenüber dem Wert von 2004 entspricht – 2004 erreichten die erfassten BtM-Delikte ein Rekordviveau, um danach wieder etwas zu sinken. Bei den auf Handel und Schmuggel bezogenen Delikte lag die Zahl der Delikte mit Bezug zu Cannabis im Jahr 2019 bei 37,3 pro 100.000 Einwohner, was 24,5 Prozent weniger sind als 2004. Im Vergleich zum Zeitpunkt vor eineinhalb Jahrzehnten, als die Repressionskoeffizienten einen neuen Höchstand erreichten, hat die Repression gegen Cannabiskonsumenten deutlich zugenommen, beim Handel und Schmuggel ist dies jedoch nicht der Fall.
Anteile der diversen Cannabisdelikte im Zeitvergleich
In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts lag der Anteil der allgemeinen Verstöße bei den Cannabisdelikten bei 65 Prozent und der Anteil bezüglich Handel und Schmuggel bei etwas über 30 Prozent. In der Folge stieg der Anteil der allgemeinen Verstöße nahezu kontinuierlich und der Anteil bezüglich Handel und Schmuggel sank hingegen nahezu kontinuierlich. Im letzten Jahr erreichte der Anteil der allgemeinen Verstöße einen neuen Spitzenwert mit 84,0 Prozent und der Anteil bezüglich Handel und Schmuggel den tiefsten Wert aller Zeiten mit 13,9 Prozent. Anbau und Einfuhr von nicht geringen Mengen machten zusammen etwa zwei Prozent der Cannabisdelikte aus.
Tatverdächtige im Zeitvergleich
Bis 1966 lag die Zahl der jährlich erfassten Tatverdächtigen wegen Verstoßes gegen das Opiumgesetz in der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich West-Berlin) deutlich unter Eintausend. Erst 1967, dem Jahr in dem die Studentenrevolte sich bundesweit auszubreiten begann und der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien von der Polizei erschossen wurde, registrierten die Behörden über 1.000 Tatverdächtige. Vier Jahre später registrierten die Behörden bereits über 20.000 Tatverdächtige. Das Opiumgesetz wurde instrumentalisiert, um die Protestwelle an den Schulen und Universitäten einzudämmen.
Ein Tatverdächtiger, für den im Berichtszeitraum mehrere Fälle der gleichen Straftat in einem Bundesland festgestellt wurden, wird nur einmal gezählt. Vor 1983 waren Personen, gegen die im Berichtsjahr mehrfach ermittelt wurde, immer wieder erneut gezählt worden. Wegen Ablösung dieser Mehrfachzählung, die zu stark überhöhten und strukturell verzerrten Tatverdächtigenzahlen führte, durch die jetzige „echte“ Zählung, ist ein Vergleich zu früheren Jahren nur eingeschränkt möglich.
In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verdoppelte sich die Zahl der Tatverdächtigen und erreichte in der Folge im Jahr 2004 mit 232.502 einen absoluten Spitzenwert. Danach sank die Zahl kontinuierlich bis 2010 und danach stieg sie wieder kontinuierlich an und überflügelte 2016 erstmals die Anzahl von 2004 und erreichte einen neuen historischen Spitzenwert mit 245.731 Tatverdächtigen. Auch im Jahr 2019 stieg die Zahl der registrierten Tatverdächtigen deutlich auf 284.390, was einer Zunahme um 3,0 Prozent innert Jahresfrist entspricht.
Jugendliche Tatverdächtige im Zeitvergleich
In den Jahren von 1932 bis 1939 lag die Zahl der jährlich erfassten Rauschgiftvergehen im Deutschen Reich insgesamt durchschnittlich bei 1.200 und es wurden durchschnittlich knapp 1.000 Tatverdächtige ermittelt. Der Anteil der Jugendlichen lag dabei zumeist deutlich unter 1 Prozent (1936: 0%; 1937: 0,2%). Zwischen 1956 und 1966 lag die Zahl der Tatverdächtigen wegen Verstoßes gegen das Opiumgesetz stets unter 1.000 und der Anteil der Minderjährigen (unter 18 Jahren) schwankte zwischen 0,3 Prozent und 1,7 Prozent. Durch die Instrumentalisierung des Opiumgesetzes zur Repression gegen die revoltierenden Studenten und Hippies im Jahr 1967 stieg der Anteil der minderjährigen Tatverdächtigen (unter 18-jährige) auf 29,4 Prozent an. Nach der Einführung des neuen Betäubungsmittelgesetzes im Winter 1971/72 sank der Anteil jugendlicher Tatverdächtiger wieder.
Noch deutlicher wird die Entwicklung bei der Einbeziehung der heranwachsenden Tatverdächtigen. Waren im Jahr 1966 nur knapp 10 Prozent aller Tatverdächtigen unter 21 Jahre alt, so stieg dieser Anteil bis 1971 auf knapp 70 Prozent an. Nach der Einführung des neuen Betäubungsmittelgesetzes ist der Anteil junger Tatverdächtiger bis 1988 kontinuierlich zurückgegangen. Bei den unter 18-Jährigen lag er 1988 bei 4,8 Prozent. Nur 24,4 Prozent der Tatverdächtigen waren unter 21 Jahren alt.
In den 90er Jahren wurde das Betäubungsmittelgesetz, wenn auch nicht ganz so intensiv wie Ende der 60er, erneut instrumentalisiert, um eine aufkommende Jugendkultur in Schach zu halten und die an dieser Kultur partizipierenden Menschen einem intensiven Kontrollsystem zu unterwerfen. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends sanken die Anteile der jugendlichen und heranwachsenden Tatverdächtigen dann wieder um danach wieder anzusteigen. In den letzten fünf Jahren blieben diese Werte fast konstant. Die Anteile der unter 18-Jährigen schwankten in den letzten fünf Jahren zwischen 12,7 Prozent und 13,5 Prozent, der Anteil der unter 21-Jährigen lag stets bei 30 Prozent respektive bei 29,8 Prozent im Jahr 2019.
Fazit
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung Daniela Ludwig (CSU) betont immer wieder, dass es bei der Drogen- und Suchtpolitik an der Zeit sei, endlich mehr offene Dialoge zu führen statt ideologiebasierter Debatten. Sie hat erkannt, dass die bisherige Politik nicht zielführend ist. Trotz stetiger und massiver Intensivierung der Repression in den letzten Jahrzehnten hat die Zahl der Konsumenten illegalisierter Substanzen nicht ab- sondern zugenommen.
Angesichts der fehlenden wissenschaftlichen Basis und Evidenz für die gegenwärtige Drogenpolitik ist eine grundlegende Novellierung des BtMG mehr als überfällig. Zur Schadensminderung im Bereich Drogengebrauch brauchen wir nicht nur eine nachvollziehbare rationale Rechtskultur sondern auch eine rationale Bewusstseinskultur. Wahrlich eine große Herausforderung für die Bundesregierung, für den Gesundheitsminister und für die Drogenbeauftragte Daniela Ludwig.
Vergleiche hierzu in diesem Blog
[11.07.2019] Mortlers Wirken im Lichte der Kriminalstatistik
Obwohl ich normalerweise nicht abgeneigt bin, eine “mitzurauchen”, bin ich kein Freund von Rauschmitteln, auch nicht Cannabis. Noch lieber wäre es mir, wenn diese Geld- und Mitarbeiterquelle für die Geheimdinste ausgetrocknet würde, zur Zeit des Kosovokrieges und im Zusammenhang mit meinen Beobachtungen der al Qaida hatte ich erschreckende Erkenntnisse gewonnen. Ja, die sind interessant, diese Zahlen.
Mehr Effizienz würde ich mir bei der Vermeidung falscher Zahlen über die Coronaverbreitung wünschen. Mehr Aufklärung bezüglich der Folgen der Unsicherheit der Tests. Die Fallzahl ist hoch genug für eine saubere Statistik und saubere Auswertung. Alle diese Zahlen zeigen eine erhebliche Abhängigkeit von Aktionen aus der “Tiefe” von Staaten, um Ken Jebsens Worte zu gebrauchen. Weltweit. Kontaktvermeidung halte ich trotzdem für richtig.