vonDilek Zaptcioglu 01.05.2009

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Ein historischer Tag, denn seit 31 Jahren zum ersten Mal betraten die Arbeitergewerkschaften an einem Ersten Mai den verbotenen Platz. Nicht in Peking, sondern einen Steinwurf von den europäischen Metropolen entfernt. Im Schatten der ewigen “Beitrittsverhandlungen”. Fast drei Jahrzehnte nach dem Militärputsch vom 12. September 1980, der die Linke in der Türkei fast vernichtete und den Grund und Boden bereitete für den religiös-rechten politischen Diskurs.

Im letzten Jahr noch hatte die Regierung einen regelrechten Platz des Krieges daraus gemacht.  “Unverhältnismäßige Gewalt” war angewendet worden, mit Tränengas, Wasserwerfern, Knüppeln und Schußwaffen war die Polizei auf die Demonstranten losgegangen, die es nicht lassen konnten, auf den Taksim-Platz zu gehen. Die Polizei umziegelte die Zentrale des linken Gewerkschaftsbundes DISK. Die Funktionäre, Journalisten, Akademiker blieben stundenlang darin eingesperrt.

Warum der Platz gesperrt blieb? Weil dort am 1. Mai 1977 die größte linke Maidemonstration der Türkei stattgefunden hatte. Weil 1,5 Millionen Menschen dort waren. Weil plötzlich von den Dächern Kugeln auf die Menge fielen und 36 Menschen bei der Flucht oder unter Panzerrädern ihr Leben ließen. Eine Provokation machte aus der friedlichen Demo gezielt ein Blutbad. Das wurde zu einem der wichtigsten Wegmarker für den Militärputsch 1980. Der Taksim-Platz war seit 1978 für linke Demonstranten gesperrt.  

Heute mittag auf dem Taksim-Platz: Das Denkmal der Republik, Wahrzeichen des modernen Istanbul, wird gestürmt von linken Gewerkschaftern, die mit roten Disk-Fahnen darauf klettern. Der Erste-Mai-Marsch ertönt auf dem stillen Platz: Bir Mayis, bir Mayis, Iscinin Emekcinin Bayrami…

Ein so bewegender Moment, daß einem unwillkürlich die Tränen in die Augen schießen. Das Ende eines 30 Jahre währenden Traumas. Eines Traumas, dessen Macht ich mir erst heute bewußt geworden bin. 

Chaoten gab es auch: Molotowcocktails flogen auf die Polozei, es gab Dutzende von Verletzten.

Er ist mein persönlicher Held – Süleyman Celebi: Chef des Gewerkschaftsverbandes Disk. Geboren 1952 in Ordu am Schwarzen Meer. Mit 18 übernimmt er seinen ersten Posten in der Textilgewerkschaft. 1980 ist er Kopf der Organisationsabteilung des linken Verbandes Disk. Nach dem Putsch ist er verhaftet. In dem Mammutprozeß Disk wird er verurteilt. Er sitzt 4 Jahre im Gefängnis.

Nachdem die Disk wieder erlaubt wird, macht er dort weiter, wo er aufgehört hat. Folter, Haft, Attentate – der Disk-Chef war ermordet worden – schüchtern ihn nicht ein. 1991 wird er zum Generalsekretär gewählt. 1999 wird er Chef der Textilgewerkschaft. Und 2000 wird er zum Disk-Vorsitzenden gewählt.

Weil er sich der Bedeutung des Taksim-Platzes bewußt ist, ließ er nicht locker. Das Gefühl des Triumphes, der Befreiung ist ihm zu verdanken. Süleyman Abi, büyüksün sen!

Süleyman Celebi sagte heute auf dem Taksim-Platz: “Wessen Herz das noch mitmachte, ist heute hier angekommen. Menschen kamen weinend auf mich zu und berichteten mir, daß sie hier 1977 ihre Angehörigen verloren hatten. Ich bin tief bewegt. Im nächsten Jahr werden wir mit Hunderttausenden hier sein.” Ich glaube nicht, daß die islamisch-konservative Erdogan-Regierung das erlauben wird.  

 

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