vonElisabeth Wirth 31.12.2009

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An der Kasse von Edeka. Die Kundin hinter mir und die Kassiererin kennen sich. Typischer, nachweihnachtlicher Smalltalk, die Tage zwischen den Jahren, bevorstehendes Silvester. Da sagt die Kundin „Ne, dit feiern wa nicht. Dit neue Jahr wird ja jenauso beschissen wie dit Letzte. So lange sich die Regierung nich ändert, ändert sich bei mir och nischt.“ Oh, oh, dachte ich bei mir und verließ ganz schnell den kleinen Supermarkt in der Pannierstraße.

Mit diesem Jahr endet auch ein Jahrzehnt, dem sich die großen Politmagazine schon vor Wochen unter dem Titel „Das verlorene Jahrzehnt“ angenommen haben. Es war das Jahrzehnt, in dem ich „erwachsen“ wurde. Ich war erschüttert vom 11. September und als ich am Tag danach im Auto mit meinen Eltern saß, die mich an diesem Tag zur Schule brachten, dachte ich, dass alles viel leiser, fast gespenstisch wirkt. Der Verkehr in Richtung Innenstadt, die Menschen in ihren Autos, auf ihren Fahrrädern oder die, die zu Fuß unterwegs waren. Dann kam der Afghanistankrieg, 2003 Tag X, der Irakkrieg. Ich war 17, lief in Schlaghosen, mit großem Peaceplakat durch Berlin. Eine Demo nach der nächsten. Ich glaubte, jetzt bewegt sich die Welt, politisches Bewusstsein kehrt zurück. So viele Menschen könne man nicht überhören. Im Jahr nach Tag X, 2004 zur „Erinnerungsdemonstration“ waren nur noch ein paar 1000 Leute da und es wirkte, als würde man bei einer Parteidemonstration der PDS-Rentner mitlaufen.

Ich machte mein Abitur, ich reiste, ich zog aus und weg und zurück und um. Ich verliebte mich in diesem Jahrzehnt ein paar mal, ich hatte Beziehungen, ich liebte, ich stritt, ich litt, ich hatte Liebeskummer, ich lernte mit einem Ende fertig zu werden und neu anzufangen.

Das Jahrzehnt klingt global mit Finanzkrise, Klimakrise und Demokratiekrise aus. Am Anfang des Jahres 2009 stand Hoffnung und die lag auf den Schultern von Barack Obama. Aber „Change“ braucht seine Zeit. Die Finanzkrise blieb, erfasste Opel und Quelle, Schutzschirme wurde aufgespannt, Abwrackprämie, Konjunkturprogramme, G20 Treffen zur Regulierung der Finanzmärkte und ein Mann war wieder groß im Kommen – Karl Marx grüßte.

Im Frühjahr outet sich Nordkorea als Atomstaat. Eine alte Angst ist zurück und Barack Obama spricht in Prag von einer Welt ohne Atomwaffen. Im Sommer gehen nicht mal 50% der Wahlberechtigten in Europa zur Europawahl und in Iran demonstrieren Hunderttausende gegen die gefälschte Präsidentenwahl. Brutal wird von der Staatsmacht zurückgeschlagen. In Deutschland gehen Studenten für bessere Studienbedingungen auf die Straße – Bildungsstreik.

Im September wählt Deutschland und wenige Wochen/ Monate später scheinen die Träume der vermeintlichen Wunschkoalition Schwarz-Gelb zu platzen. Wachstumsbeschleunigungsgesetz, steigende Staatsverschuldung, die Debatte um Kopfpauschalen im Gesundheitswesen, Kundusaffäre, Verlängerungen der Laufzeiten von Atomkraftwerken. Die Antiatomkraftbewegung bekommt neuen Aufschwung.

9. November, deutscher Schicksalstag, die Welt feiert 20 Jahre Mauerfall. Im Dezember, der mit Hoffnung geladene Klimagipfel in Kopenhagen ist weitestgehend gescheitert. Keine klaren, verbindlichen Ziele und kein entschlossenes Handeln. Dabei wäre es so wichtig gewesen, jetzt die Ziele zu stecken und strenge Regeln aufzustellen, an die sich alle halten, anstatt das Thema ein weiteres Mal zu vertagen.

Zu Weihnachten steht wieder der internationale Terrorismus im Fokus – ein vereitelter Bombenanschlag in einem Flugzeug auf dem Weg von Amsterdam nach Detroit und in Iran gehen die Proteste gegen das Regime blutig weiter.

Oft genug kann man sich fragen, in was für einer Welt leben wir? Globalisierung, Konsumgeist, Ausbeutung, Beschleunigung, Erderwärmung, Datenspeicherung, Schweinegrippe, Religionskampf, Macht, Krieg, Terror… Es erscheint mir, als würden wir in einer Welt leben, die von Angst regiert wird, die ihre Traumata nicht bearbeitet, sondern immer weiter hetzt, nach dem Kollaps kurz den Atem anhält und dann doch weiter spekuliert.

Es wird viel gemotzt, ob nun an Supermarktkassen oder Stammtischen. Da werden „Schuldige“ gesucht, da werden Reden geschwungen über die da oben, da wird Verantwortung abgegeben. Wir müssen uns aber alle fragen, in was für einer Welt wir leben wollen. Wenn wir nicht wissen, wohin mit dem Atommüll, sollten wir in aller erster Linie an Alternativen denken, wenn wir wollen, dass Eisbären nicht nur im Zoo schwitzen, sondern weiter am Nordpol leben, sollten wir etwas gegen die Erderwärmung tun, wenn wir keine Schlagzeilen mehr über Kinderarbeit lesen wollen, sollten wir bereit sein, mehr als ein paar Euro für ein T-Shirt auszugeben und wenn wir Frieden haben wollen, sollten wir weiter im Gespräch bleiben.

Wir sollten uns von der Angst nicht hemmen lassen, wir sollten wach sein, denken und nachfragen, nach neuen Wegen gucken.

Ist dieses Jahrzehnt wirklich verloren und ist alles wirklich so aussichtslos? Nicht wenn wir dieselben Fehler noch einmal und noch einmal wiederholen, nicht wenn wir endlich lernen umzudenken. Jetzt wird der Zyniker sagen, dass der Mensch nicht dazu lernt. Einstein hat einmal festgestellt, dass das Universum und die menschliche Dummheit ungegrenzt seien und war sich dann aber mit dem Universum nicht ganz so sicher. Einstein hat aber auch mal gesagt, dass der Kopf rund ist, damit das Denken die Richtung ändern kann. Vielleicht braucht die Änderung der Denkrichtung in den Köpfen nur seine Zeit und wir könnten ja schon mal anfangen.

Ich gehe in jedes Jahr mit neuen Hoffnungen, vielleicht auch mit den alten, in leicht veränderter Form. Ich mag Silvester, eine Zäsur, Neuanfang. Dieses Jahr war Reibung, war Auseinandersetzung, war auf und ab. Wie all die Jahre zuvor, werden meine Wünsche samt Rakete gen Himmel fliegen. Wie all die Jahre zuvor, werde ich alte Geister vertreiben, werde wieder etwas loslassen und Platz für Neues machen und wie all die Jahre zuvor, werde ich mit einem hoffenden Herzen in das neue Jahr starten.

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