vonJakob Hein 04.11.2011

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Gibt es hier vielleicht auch Bildmaterial auf YouTube für eine Titelstory?

Die Geschichte oder history, wie wir abgeklärten Globetrotter so sagen, ist ja normalerweise nicht so der burner, oder, wie Homer Simpson es sagt: „Alles ist schlecht, wenn man sich daran erinnert.“ Voll viel Gequake von Menschen, die tierisch alt oder – endkrass! – sogar schon tot sind. Wenn man sich das mal überlegt: die Typen sind tot und trotzdem gibt es Massen von dudes, die sich teilweise wochenlang mit denen beschäftigen. In der Zeit hätten andere schon längst einen Start-up hochgezogen, sich einen neuen Vollbart wachsen lassen oder einen flotten Artikel geschrieben.

Da kommt es doch mal richtig gut, wenn jemand mit so einem flotten Artikel und mit Vollbart, diesen ganzen history-Kram so richtig flott gegen den Strich bürstet. Jemand der sich über Geschichte am liebsten aus den folgenden sources informiert: „…aus Büchern, in der Wikipedia oder wenn ich beim Zappen durchs Fernsehprogramm bei einer dieser Sendungen Guido Knopps hängen bleibe, die mich fast immer nerven, weil sie mir so aufdringlich vorkommen mit ihren dringlichen Erklärstimmen….“.

Dieser jemand ist Peter Praschl, voll so eine Art Journalist, der voll so eine Art Titelgeschichte darüber im „Süddeutsche Zeitung Magazin“ gepostet hat. Und er hat eine megamäßige connection zu einem Typen namens Eichmann, weil sie beide in der selben hood aufgewachsen sind. Oder wie Pete es sagt: „…seine Sprache klingt genau wie die in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, Linz an der Donau. Die Gegend kann nichts dafür, aber dennoch nehme ich es ihr so übel, dass ich, müsste ich mich für sie erklären, ohne Zögern ‚schuldig’ sagen würde.“ Ja, Krassomat! Wenn einmal der Gegend um Linz an der Donau der Prozess gemacht wird und Pete dort für diese Landschaft auf die Anklagebank kommt (why not?), dann würde er „schuldig“ sagen. Wenn das nicht flasht, was dann?

Also hat sich Pete zu einer absolut hammermäßigen Aufgabe entschlossen, ein absolut Endstufe krasses Hammerding: Er will sich alle (hallo: alle!) YouTube-Videos von dem Eichmann-Prozess vor fünfzig Jahren reinziehen. Nonstop. Ohne Weiterspulen. Der Mann ist doch mit Sicherheit ein absoluter Held. Klar Kolumbus und Mondmission und so, aber was ist das schon im Vergleich zu Pete P? „Ich beschließe, mir diese Videos anzusehen, jedes einzelne, gleichgültig wie erschütternd oder ermüdend sie sein mögen.“ Und das Allertollste ist, dass er sich das material ganz unvoreingenommen und nicht so mit diesem Depri-Blick der Historiker reinziehen wird: „Über den Prozess weiß ich zwar auch nur dasselbe wie jeder zeitgeschichtlich halbwegs informierte Mensch, aber mein Halbwissen stört mich nicht.“ Genau, Bruder! Uns stört Dein Halbwissen auch nicht! Halbwissen kommt voll viel besser als seine nörgelig-naseweise Schwester Vollwissen! Halbwissen steht in der Raucherecke und macht die Bräute klar, während Vollwissen noch in der Bibliothek sitzt! Andererseits: stellt Pete hier sein Licht nicht auch under the bushel? Ich meine, der Mann hat Bücher gelesen, Wikipedia geguckt und bleibt manchmal bei Guido Knopp kurz hängen. Der ist doch so etwas wie ein Weiser, in Indien würden die für den längst fette Tempel bauen oder so.

Aus Petes Artikel erfahre ich, dass offensichtlich schon mal jemand über diesen Eichmann-trial geschrieben hat. So eine absolute Depri-Tussi, die nichts gecheckt hat. Hannah Ahrendt oder so muss die heißen, die hat ein Buch geschrieben darüber. Aber zum Glück hat auch eine andere Frau ein Buch darüber geschrieben, das, wie Pete sagt: „..viele Irrtümer Hanna Ahrendts korrigiert.“ Aber vermutlich hat dieses Ahrendt-Chick sich eben nicht alle 200 Stunden vom Prozess reingezogen, sondern sich nur so durchgeklickt und zum Beispiel nicht die 106. Sitzung angesehen wie Pete: „Was ich nicht mag: Dass nur 78 Menschen das Video von der 106. Sitzung gesehen haben…“. Deswegen kann eben Pete da besser urteilen, als so eine Irrtums-Ahrendt.

Man fragt sich, wie Peter das durchhalten kann, diesen absolut hammermäßigen „Selbstversuch“. „Diesem Mann werde ich jetzt 200 Stunden lang zusehen. Zum Fürchten.“ Ein bisschen was lässt er über seine survial-Strategie durchblicken: „10. August 2011. Ich bin in Paris, Urlaub mit meiner Frau und unserem Baby, zwei Wochen lang in einer Wohnung, die wir in einer Internet-Tauschbörse aufgetan haben.“ So kann man es vielleicht schaffen, denken wir, aber dann: „Eichmann ist mitgekommen. Während die beiden schlafen, liege ich im Wohnzimmer auf dem Sofa und schaue mir, Laptop auf dem Bauch, Gerichtsvideos an.“ Oh Gott! Wie krass ist das denn? In seinem eigenen Urlaub muss der Mann so etwas erdulden? Hoffentlich wird er dafür angemessen entschädigt! Und was, wenn der Bauch abnimmt und er den Bildschirm nicht mehr sehen kann? „Zwischendurch stehe ich auf und mache mir einen Espresso oder ein Käsebaguette, leise, um das Kind nicht zu wecken.“ Ja, so kann es vielleicht gehen.

Wir können teilhaben an der ungeheuren Stärke dieses heros: „15. August 2011. Mir ist aufgefallen, dass ich noch kein einziges Mal von Eichmann geträumt habe. Das ist einerseits nicht ungewöhnlich, ich erinnere mich höchstens an drei oder vier Träume im Jahr. Andererseits beruhigt es mich, dass ich offensichtlich eine Psyche habe, die sich nicht einmal durch Eichmann aufscheuchen lässt.“ Genervt ist er hingegen von den vielen Opfer-Zeugen: „Allmählich setzt Überdruss ein. Die Geschichten der Zeugen gleichen einander, nicht in den Details, aber in den Grundzügen.“ Mann, wie lahm! Wie hält Pete das nur aus? Warum können diese Zeugen nicht auch über ihre Familie oder die Laptops auf ihren Bäuchen erzählen?

Andererseits macht er auch eine krasse Entdeckung: „Während ich ihnen zuhöre, versuche ich mich daran zu erinnern, wann ich zum ersten Mal einen Holocaust-Überlebenden erzählen hörte. Noch nie, wird mir plötzlich klar..“ Also okay, es gab da mal so eine Art Begegnung, aber das war jetzt nicht so the real stuff: „..einmal habe ich in Auschwitz für eine Geschichte recherchiert, aber dort war mein Gesprächspartner ein katholischer Pole.“ Der Pole war schon okay, aber jetzt zieht sich Pete das Richtige rein: „Wie kann es sein, frage ich mich erschrocken, dass ich 51 werden musste, um tatsächlich einen überlebenden Juden ausführlich über sein Schicksal berichten zu hören? Die naheliegende Antwort: Es haben nicht so viele überlebt.“ Eine andere naheliegende Antwort wäre ja: Weil man nicht zugehört hat, aber egal. Aber: 51! Hallo! Der Mann ist ja selber schon history, was man aber seiner flotten Schreibe zum Glück nicht anmerkt.

Aber kommt nicht auch dieser starke Mann mit so einem Unternehmen an seine Grenzen? Es passiert, was passieren muss: „5. September 2011. Die 9/11-Rückblicke setzen ein. Ich brauche eine Eichmann-Auszeit.“ Die historische Aufgabe hat ihn gezeichnet. „2. Oktober 2011. Wie geht es dir?, fragt mich meine Frau hin und wieder. Eine befriedigende Antwort darauf ist mir nie eingefallen. Eigentlich geht es mir gar nicht. Fast täglich in einem virtuellen Gerichtssaal zu sitzen macht mich auf irritierende Weise taub, mürbe, ratlos. Vor allem einsam. Was ich in den Nächten mit Eichmann erfahre, kann ich ja keinem erzählen, ohne für Depressionen zu sorgen.“ Wir sind erschrocken, denn im Grunde genommen ist Peter jetzt ja auch so eine Art Opfer, vielleicht ein bisschen weniger schlimm aber: „Doch wenn ich mich bloß durch das Ansehen und Anhören eines Prozesses, der mein Leben nicht betrifft, einsam fühle, wie muss es erst den Holocaust-Opfern ergangen sein?“

Hier ist Pete an den emotionalen core seiner story gekommen, was diese Hannah A. nie geschafft hat mit ihrem Drumherum-Recherchiere, Fakten-Zusammengehäufe und Herum-Analysiere. Darum steht er auch voll über Eichmann: „Egal, denke ich, lass ihn ruhig reden, bald ist er tot.“ Das ist eben voll der Spaß, wenn man so einen Film guckt, wo man schon das Happyend kennt, kann man sich auch die schlimmen Szenen anschauen, ohne deswegen gleich ins Grübeln zu kommen.

Am Ende hat Pete hammermäßige Erkenntnisse gemacht, die er einfach so mit uns teilt: „Zwei Erkenntnisse: Man lernt sich besser kennen, wenn man Eichmann zusieht; manchmal hätte ich gern darauf verzichtet. Und: Man schafft es einfach nicht, sich einen wie Eichmann nicht als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft vorzustellen – und deshalb zum Beispiel würdiges Benehmen oder die Bereitschaft; Verantwortung zu übernehmen, von ihm zu erwarten. Das bringt einem die menschliche Gemeinschaft allerdings nicht wirklich näher.“ Und er verrät uns sogar noch: „Auf YouTube findet man die Videos (mit englischer Simultanübersetzung) bequem mit dem Suchwort ‚Eichmann TrialEN’“. Wie unglaublich nett ist das denn? Jahre hätten wir gebraucht, um diese source freizulegen. Und Pete haut uns das einfach mal so hin. Schade, dass es bei diesen Print-Magazinen keinen „like“-button gibt.

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https://blogs.taz.de/eine_psyche_die_sich_nicht_einmal_durch_eichmann_aufscheuchen_laesst/

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