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Ich kann keine Geschichten erfinden. Dazu habe ich zu viel Tatort geguckt. Die Erzählung fließt wie Gips in den Reifenabdruck und bildet Handlungs¬muster, die einem verdächtig bekannt vorkommen:
Die junge Kommissarin dampft ihren Atem in die Morgenkälte. In der einen Hand das Brötchen, in der anderen einen Kaffeebecher, schiebt sie das rotweisse Absperrband routiniert mit dem Ellen¬bogen hoch und nähert sich dem abgedeckten Körper. Für ihr klingelndes Handy hat sie keine Hand mehr frei. Sie drückt dem verdutzten Spurenermittler den Pappbecher in die Hand…
So geht das los. War es wirklich ein Unfall, wie es auf den ersten Blick scheint? Das Auto sieht eher nach einem heftigen Blechschaden aus. Die Windschutzscheibe ist nur auf der Beifahrerseite geborsten. Warum kam die Rettung so spät? Wieso war der Freund schon vor Ort, als die Feuerwehr eintrifft? Hinter dem eingedrückten Wagen steht eine junge Frau in Feuerwehr-Uniform und weint. Die Kommisarin streift sie mit einem Blick, während sie ihr Handy zuklappt, und schaut sich um. Zwei Männer stehen an der Ecke, da. wo der kleine asphaltierte Weg in die Hauptstraße einmündet, und reden heftig aufeinander ein.
Die Geschichte könnte sich in verschiedenen Erzählsträngen und Rückblenden entwickeln. Der Tote scheint ein umtriebiger Geschäftsmann gewesen zu sein. Er betreibt eine Gourmetkneipe in einem schön aus¬gebauten Vierseitenhof in der Mitte des nahe gelegenen Dorfes. Er ist Anfang der 90er Jahre aus dem Westen gekommen und hat sich durch Tatkraft und kluge Geschäftspolitik Respekt im Dorf verschafft. Seinen Hauptumsatz macht er mit durchreisenden Geschäftsleuten, die bei ihm auch Übernachtungsmöglich¬keiten finden.
Er führt eine für diese Umgebung feine Küche, die Menschen mit Lebensart aus der Umgebung anlockt; er scheut aber auch vor groben Dorffesten nicht zurück.
Er mischt sich in die Lokalpolitik nicht mehr ein, als man es von einem Wirt erwartet. Der örtlichen Bürgerinitiative gegen eine große Putenmastanlage vermietet er seinen Versammlungsraum, hört – mit ein paar leeren Gläsern am Eingang stehenbleibend – ein bisschen der Diskussion zu. Die Unterschriftenliste auf dem Tisch neben sich übersieht er. Als die BI-Vertreterin ihm ihren Kugelschreiber hinhält, sagt er „später“ und verschwindet in der Küche.
Eines Tages kommen zwei dubiose Herren mit russischem Akzent und erkundigen sich bei ihm nach dem derzeitigen Besitzer des leerstehenden Schlosses. Er gibt nur verhalten Auskunft und stellt ganz beiläufig Rückfragen. Sobald sich die Männer zum Gehen wenden, ruft er den Ortsbürgermeister an. Während sich im Hintergrund die Tür schließt, tippt seine Hand auf dem Apparat Zahlen ein.
Die Kommissarin findet schnell heraus, dass das Schloss der wunde Punkt des Dorfes ist. Alle sind irgendwie in die Finanzkatastrophe von damals verstrickt, als die Gemeinde das verfallene Prestige-Objekt nicht der Treuhand und damit der Privatisierung überlassen, sondern selbst das Geschäft machen wollte. Ein windiger Architekt hatte seine Finger im Spiel, ein paar heimische Funktionsträger sahen sich schon als Manager eines Hotels für Führungskräfte. Dann aber verschwand der windige Architekt und das Dorf saß mit einem Schuldenberg von 2 Millionen da. Das verwitterte Bauschild für die Führungsakademie, der letzte Zeuge der ehrgeizigen Pläne, steht noch immer auf dem schütteren Rasen.
Es gab Schein-Versteigerungen und andere Winkelzüge der Gläubigerbanken. Es gab ein merkwürdiges Fischsterben im Schloss-See. Und jetzt die Russen. Sie stehen vor dem Eingang des Gasthofs und rauchen. Der Wirt reicht ihnen einen Aschenbecher heraus, bleibt dann noch in der geöffneten Tür stehen und wech¬selt ein paar Worte mit ihnen. Hat er ihnen nicht zusammen mit dem Aschen¬becher ein Stück Papier gegeben?
Unter dem Druck der Bürgerinitiative wird das Projekt Putenmastanlage aufgegeben. Oder ist es wegen der neuen Schlosspläne? Für das Gelände, das in Rufweite vom Schloss liegt, interessiert sich jetzt ein Agrarkonzern aus dem Oderbruch, der anderswo groß ins Genmais-Geschäft eingestiegen ist. Er will hier Biogas machen. Wenn das Schloss mal wieder genutzt wird, muss es geheizt werden. Der Bauantrag für die Biogas-Anlage spaltet die Bürgerinitiative in zwei Lager.
Das alles weiß der Wirt, weil sein Gasthof Schauplatz von Treffen ist und weil er schlau genug ist, sich im Mittelfeld der Meinungen zu halten und sparsam mit seinen Informationen umzugehen.
Er sieht weder schmierig noch übertrieben jovial aus. Eher ein bisschen aristokratisch sogar, mehr Heiner Lauter¬bach als Uwe Ochsenknecht. Überlegen und ruhig. Das macht ihn doch auch ein bisschen verdächtig. Was hat dieser Mann im Dorf noch vor? Wie gut kennt er die Russen wirklich? Und hat er nicht im Westen eine geschiedene Frau? Die interessante Rothaarige, die dem BI-Sprecher gleich aufgefallen ist, als sie, ohne sich umzusehen, durch den Gastraum der Goldenen Kartoffel rauschte und mit einer heftigen Bewegung die Schwingtür zur Küche aufstieß. Er konnte nichts Genaues verstehen, nur das Wort „Bankkredit“.
Nach der Beerdigung geht die Rothaarige mit dem Freund weg, der so schnell am Unfallort war. Der Bürgermeister schaut ihnen nach. Die Kommissarin, die natürlich auch da ist, glaubt immer noch nicht an einen Tod durch Autounfall…
So geht das weiter. Im Verlauf der Erzählung werden so gut wie alle verdächtig – der Bürgermeister, die neuen Schloss-Herren, die Aktivisten aus der BI, die Baufirma für die Biogasanlage, natürlich die Exfrau und der Freund. Die Ähnlichkeiten mit konkreten Personen sind vielleicht nicht zufällig, aber letztlich beliebig. So real ihre Vorbilder sein mögen, durch die Erzählung erstarren sie zu Prototypen.
Natürlich fördern die Ermittlungen jede Menge Machen¬schaften zutage und betten sie in eine geeignete Backstory ein: die Kommis¬sarin verliebt sich, wird überfallen und verletzt, muss zu ihrer kranken Mutter in die Hauptstadt, kommt in eine veränderte Situation zurück, wird enttäuscht, entliebt sich wieder, usw.
Die Handlungsmuster erzeugen das behagliche Gefühl des Wiedererkennens, nicht weil wir die Realität darin abgebildet sehen, sondern weil man es uns in dieser oder ähnlicher Form schon so oft erzählt hat. Zum Schluss war es eben doch nur ein tragischer Unfall nach einem Feuer¬wehrball. Aber das ist dann eigentlich auch schon egal.
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Prötzel ist unser Nachbardorf. Man fährt durch, auf dem Weg nach Berlin oder zurück nach Reichenow. Will man die S-Bahn von Strausberg-Nord nehmen, muss man links abbiegen und durch den Ort fahren. Will man eher ins nördliche Berlin, entscheidet man sich für die schöne Waldstrecke nach Werftpfuhl und Tiefensee.
An der Kreuzung, wo die Entscheidung fällt, liegt der Gasthof „Zur goldenen Kartoffel“. Wir waren ein paar Mal zum Essen da, wenns ein bisschen was Feines sein sollte. Etwas schummrig, der weite Gastraum, und ein bisschen mit ländlichem Zierrat überladen. Ein bisschen öde auch die gelangweilten Männer in Businessanzügen, die mit den Daumen zerstreut über die Hälse ihrer Pilsgläser streichen und dabei den einen oder anderen Satz fallen lassen.
Der Gasthof gehört Kasten S. Ich kenne ihn nicht, aber ich hätte ihn gerne kennengelernt. Er ist mir schon früh aufgefallen, ein großer Mann im mittleren Alter mit der Schlaksigkeit eines Lehrlings, mit aufmerksamen, immer ein bisschen erstaunt schauenden Augen. Wenn er eine Frage beantwortet, liegt in seiner Stimme eine Schüchternheit, als hätte er sich zu entschuldigen. Er hat kurz rasiertes Haar, so, als wenn er sich einmal im Monat mit dem Schergerät über den Schädel fährt.
Karsten S. hat im Hofgebäude des Gasthofs eine Holzofenbäckerei einge¬richtet. Am Wochenende backt er dort Brot und Brötchen. Die Brötchen sind viereckig und weich und auf angenehme Weise vollmundig. Sie sind sehr beliebt, und wenn man sich bei uns auf dem Gutshof etwas Gutes tun will, fährt man Sonntagsvormittags nach Prötzel, um frische Brötchen zu kaufen.
Man geht direkt in die Backstube. Dort trifft man S. in karierter Bäckerhose und weißer Bäckerschürze. Er schaut fragend. Gibt’s noch Brötchen? Ja. Gibt’s noch. Hier drüben. Beim Antworten zieht er die aufgeblähten Nasenflügel auf der einen Seite komisch hoch. Dann rutscht er auf seinen Latschen zum Brotregal hinüber, greift eine Handvoll der weichen kleinen Brötchen und schlägt sie in einen Bogen weißes Papier ein. Das macht er schlecht, so schlägt man Papierkanten nicht um. Ich helfe nach und klemme mir das Brötchenpaket unter den Arm. Eine hingeworfene Bemerkung führt zu nichts. Karsten S. sucht nicht das Gespräch…
Als ich am Mittwoch, dem 4. November von Reichenow komme und auf die Goldene Kartoffel zufahre, entscheide ich mich, die nördliche Route nach Berlin zu nehmen, den schönen langen Weg durch den Wald. Es ist ein kalter Vormittag, und es hat zu Nieseln angefangen. Ich schalte den Scheibenwischer ein, aber nur auf Intervallschaltung. Thomas hat immer ein bisschen Angst, dass die Wischblätter sich auf der Scheibe kaputtradieren.
Ich denke dies und das. Ich sollte bald mal zu einer Idee für den Vorleseabend im Dezember kommen. Ich hab schon so lange nichts mehr geschrieben. Ganz aus der Übung. Und auch so wenig Gelegenheit. In der S-Bahn hätte ich immerhin noch was in den Laptop schreiben können. Aber jetzt bin ich mit dem Auto, weil ich eine Nähmaschine nach Berlin transportiere.
Ich habe das Aufnahmegerät eingepackt. Falls mir was einfällt, kann ich das vielleicht unterwegs aufs Band sprechen. Das hat zwar noch nie geklappt. Aber wer weiß. Ist doch komisch, dass mir die Sätze entgleiten, wenn ich sie laut sagen will. Da gibt es eine merkwürdige Sperre. Für sich alleine schreibt man, reden tut man zu jemand anderem. Ist aber sicher alles nur eine Frage der Gewohnheit.
Als ich überlege, ob ich den Recorder nicht doch herausholen sollte, schon mal neben mich legen, dreht sich die Straße unter mir nach rechts weg – ganz leicht, ganz elegant, wie ein gut gewachster Parkettboden unter dem Tanzschuh. Das Auto schnellt mit der leichten Drehbewegung in Richtung der anderen Straßenseite. Es rast, es fliegt auf einen Abgrund zu, auf eine Klippe, auf das Große Nichts. Ein Baum steht im Weg, er wird schnell größer. Der Baum steht da – groß, breit, stark. Er wird mich auffangen. – Explosion. Aus.
Die Wischblätter kratzen über die zerstörte Scheibe. – …den Scheibenwischer ausmachen… Meine Hand findet einen Schalter.
Ein Gedanke nimmt Form an. …ich muss sagen, wer ich bin: …bitte Thomas Winkelkotte in Reichenow anrufen: 15251… 15251…, murmele ich in ein Gesicht. Das Gesicht verschwindet. – …die Vorwahl, ich hab die Vorwahl nicht gesagt!
Im Krankenhaus erfahre ich, dass ich zwei Kilometer hinter Prötzel bei plötzlich einsetzendem Glatteis gegen einen Baum geprallt bin, dass der Baum das Auto in der Mitte gefaltet hat, dass es die freiwillige Feuerwehr aus Prötzel war, die mich in einem einstündigen Einsatz bei Eis und Schnee aus dem Wrack herausgeschnitten hat, dass ich wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen bin. Thomas ist bei mir. „Auf dem Baum steht eine Dreizehn“, sagt er.
Vier Tage später bringt C. mich mit dem Auto vom Marzahner Krankenhaus zurück nach Reichenow. Es ist Sonntagmittag. Als wir durch Prötzel kommen, halten wir bei der Goldenen Kartoffel, um frische Brötchen mitzunehmen. Die Backstube ist dämmrig. Karsten S. kommt mir aus dem Hitnergrund des Raumes entgegen. Wieder das schüchterne Lächeln, das Hochziehen des linken Nasenflügels. Nein, Brot und Brötchen sind schon oben in der Gaststube. Über den Hof und die Treppe rauf. Danke. Schönsonntag. Als wir auf der linken Seite zur Terrasse hochsteigen, kommt er uns ein paar Schritte auf den Hof nach. „Hallo, nein, da durch! Die Treppe im Haus. Tschuldigung, hab ich mich nicht richtig ausgedrückt.“ Er wendet sich zurück zur Backstube. Wieder dieses Schliddern auf den Latschen, halb wie in Eile, halb wie ein Spiel auf dem Eis.
Mein Körper verheilt wie eine offene Wunde. Er überzieht sich nach kurzer Zeit mit einer Kruste aus Gesundheit, um die erschütterte Seele vor allzu großer Anteilnahme zu schützen.
Nach zwei Wochen kommt M. mich besuchen, eine junge Frau aus der Nachbarschaft, die bei der freiwilligen Feuerwehr in Prötzel ist und bei meiner Rettung dabei war. Sie erzählt von dem Einsatz; ich erzähle, wie es mir im Krankenhaus ergangen ist. Dabei beobachtet sie mich unauffällig, sie versucht, die Bilder übereinander zu legen: das blutüberströmte, eingeklemmte, dem Tod so nahe Unfallopfer und diese munter plaudernde Nachbarin. Ich beobachte sie auch: So junge Menschen müssen wimmernde, sterbende, tote Menschen aus Autowracks herausholen! Das geht doch nicht! Sie erzählt, dass am 5. Dezember der neue Feuerwehrwagen eingeweiht. Ob wir auch kommen wollen? Auf jeden Fall.
Der 5. Dezember ist ein Samstag. Ich habe einen Kasten Bier gekauft und einen Kuchen gebacken. Thomas und ich sind pünktlich um 15 Uhr in Prötzel. Gerade wird das neue Löschfahrzeug in einem feierlichen Défilée in die Halle eingefahren. Aus der Riege der uniformierten Feuerwehrleute, der Lokalpolitiker, Ortshonoratioren und Nachbarn löst sich M., heute ebenfalls in Uniform, und kommt auf uns zu. „Dass du wirklich gekommen bist!“ Sie nimmt mich mit und macht mich mit Kameraden bekannt, die auch bei dem Einsatz dabei waren. Ich schüttele Hände, bedanke mich und schwenke dabei etwas hilflos mit dem Korb, in dem ich den Kuchen drapiert habe. So ein Kuchen, das kommt mir bei dem Anlass lächerlich unangemessen vor. Aber ich merke bald, sie freuen sich wirklich, dass ich gekommen bin.
Die weihnachtlich geschmückte Halle ist mit Menschen gefüllt. Kerzen brennen zwischen Tannenzweigen. Kuchenteller stehen auf rautenförmig ausgelegten Papierservietten. Der riesige rote Feuerwehrwagen bildet eine imposante Kulisse. Die Riege der Lokalpolitiker und der Wehrführer verschiedener Dienstgrade nimmt vor dem bekränzten Fahrzeug Aufstellung. Es hat 220 000 Euro gekostet. Das ist schon ein paar Reden Wert. Da passt es wunderbar, dass ich gekommen bin. Ich soll als gerettetes Opfer auch was sagen, schließlich ist die Presse da. Ich werde nach vorne geschoben.
Ich komme als letzte dran und sage, dass ich nicht wusste, was die fast noch Jugendlichen in dieser ehrenamtlichen Tätigkeit leisten müssen. Und dass ich ihnen unendlich dankbar bin. Viele haben Tränen in den Augen. Ich auch. Der Mann von der Presse macht sich Notizen und fragt nach meinem Namen. Bauer B., dessen Sohn bei meiner Rettung beteiligt war, schüttelt mir die Hand, und bedankt sich, dass ich mich bedanke. Das sei noch nie vorgekommen, dass ein von der Feuerwehr befreites Opfer noch mal herkommt. M. steht im Hintergrund und lächelt stolz.
Wir müssen weiter; wir sind am Nachmittag noch in Berlin verabredet. Ein bisschen schade. Der Festakt soll zum Abend in ein Dorf-Weihnachtsfest übergehen. Als wir zum Parkplatz gehen, kommt der Mann von der Presse uns nach. Seine Zeitung macht eine Vorweihnachtsserie mit dem Titel „Helden des Alltags“. Er würde gerne über mich und die Menschen, die mich gerettet haben, schreiben. Ich gebe ihm meine Karte.
Hinter der Feuerwehrhalle wird der Grill angeworfen. Ein exakt gestapelter Holzstoß wird fachgerecht in Brand gesetzt.
„Wenn die von jetzt bis abends durchsaufen, wer rückt denn dann aus, wenn ein Einsatz ist“, fragt Thomas. Wahrscheinlich gibt es so was wie eine Einsatzbereitschaft, die nüchtern bleiben muss, überlegen wir. Wir hätten doch kein Bier mitbringen sollen. Als wenn die Feuerwehr immer nur zum Saufen zusammen kommt. Blödes Klischée.
Auf dem Weihnachtsfest, das wir in Berlin besuchen, bin ich unruhig, unaufmerksam, fühle mich erschöpft. Unter der Kruste rumort die aufgescheuchte Seele. Dass sich nie jemand bedanken kommt! Und wäre ich denn selbst gekommen, wenn nicht M. vorher bei mir gewesen wäre? Dass sogar der Bauer kurz vorm Weinen war! Das tiefe Erschauern vor der Möglichkeit des Todes wird Tränenflüssigkeit weggeschwemmt, die zu Strömen von Anteilnahme zusammenfließt.
Wir verzichten auf weitere Abendunternehmungen und nehmen die S-Bahn um kurz vor zehn.
Auf der Fahrt durch Prötzel überlegen wir kurz, ob wir noch mal beim Feuerwehrfest reinschauen sollen. „Wahrscheinlich sind jetzt alle sturzbesoffen“, meint Thomas, dem die Bilder von ausgedehnten Reichenower Dorffesten hochkommen. In mir kämpfen Neugierde und Erschöpfung. Das Innere der Feuerwehrhalle ist noch immer hell erleuchtet, aber außen ist niemand zu sehen, und es ist auch merkwürdig still. „Das ist jetzt nichts“- wir fahren nach hause.
Am nächsten Morgen finde ich eine Email des Journalisten vor, dass wir den vereinbarten Fototermin verschieben müssen. Die Prötzeler Feuerwehr musste noch in der Nacht zu einem Einsatz ausrücken, um einen toten Bekannten aus den Trümmern seines Wagens zu befreien.
In der Zeitung steht, dass Karsten S., der Inhaber der Goldenen Kartoffel, bis ungefähr zehn Uhr mit seinem Freund in der Backstube war. Sie hätten Brot und Brötchen für den nächsten Tag vorbereitet und dann noch ein bisschen zusammen gesessen. Der Freund sei rüber zur Weihnachtsfeier der Feuerwehr gegangen, Karsten wollte nach Hause. Andere sagen, dass Karsten selbst noch auf der Weihnachtsfeier war; ich weiß nicht, was stimmt. Jedenfalls fährt er dann zurück nach Blumenthal. Das ist ein paar Kilometer entfernt, mit dem Auto vielleicht 5 Minuten. Es ist die Strecke nach Werftpfuhl und Tiefensee. Am Abzweig nach Blumenthal – ein Kilometer vor Baum Nummer 13 – kommt sein Wagen ins Schleudern und rast gegen den ersten Baum nach der Kreuzung. Karsten S. ist tot. M. sagt, dass Freitag, also heute, seine Beerdigung sein sollte.
Karsten S. ist tot, ich lebe. Ich lebe und erinnere mich an ihn. Mit meiner Erinnerung versuche ich, ihm ein kleines Stück meines wiedergewonnenen Lebens abzugeben.
Dies ist eine wahre Geschichte. Wahr ist sie nicht nur, weil die Fakten stimmen, sondern weil ich mich so genau wie möglich daran zu erinnern versuche, was ich wirklich gesehen, gehört und gefühlt habe. Eine Geschichte wird daraus, weil ich auswähle, es mit meiner Sprache beleuchte und ein Bild daraus montiere.
In den Falten der Erzählung verbirgt sich das Unbegriffene. Die Ahnung davon macht den Reiz der wahren Geschichte aus. Vielleicht ist es nicht so schlimm, dass ich keine Geschichten erfinden kann.