Wir sind umzingelt von Leid, Katastrophen, Tod und Schmerz. Das ist keine besonders originelle Erkenntnis. Man kann wohl nur so halbwegs durchkommen, wenn man das alles in vernünftigem Maß verdrängt. Irgendwo in den westdeutschen Einfamilienhaus-Vororten geht das vielleicht am besten, hier im Wedding wird einem hier und da schon mal etwas nachdrücklicher auch ungewollt bewusst gemacht, dass es mehr gibt als hübsche Kaktusgärten und Sonnenterrassen, und wenn man mal richtig nach draußen kommt, in Länder, in denen es – bei allem Genörgel über den hier endemischen Wahnsinn – weit weniger kuschelig zugeht, und wenn man in diesen Ländern auch wirklich draußen rumkommt, wie man das als Reisender in Sachen Reptilien und Amphibien automatisch macht, dann muss man zwangsläufig seine Weltsicht ein wenig modifizieren und diversen Widersprüchlichkeiten sehr direkt unterwerfen.
Was aber nutzt das ständige Relativieren? Wenn Haiti zum Maß aller Dinge werden müsste, weil mehr Katastrophe wohl hoffentlich für eine Weile nicht vorstellbar sein wird, dann dreht man ja durch. Mich jedenfalls berührt das Erdbeben in Chile heute sehr, weil ich das Land gut kenne und mich ihm sehr verbunden fühle. Ich habe mehr als ein halbes Jahr dort verbracht, ich habe Freunde und Bekannte dort und von da, und ich habe ein Schutzprojekt für chilenische Frösche mit ins Leben gerufen, in das ich seither bis heute viel Mühe investiert habe.
Ich habe selbst in Chile ein kleines Erdbeben erlebt. Ich fand das durchaus beeindruckend. Wir lagen morgens, in einem kleinen Nest in der Atacama-Wüste, noch im Bett, als plötzlich alles vibrierte. Der große Geschirrschrank, der in den Wohnzimmer stand, in dem wir gastierten, wackelte, und das aneinander schlagende Geschirr sorgte für eine Geräuschkulisse, die die Dramatik ziemlich steigerte. Für uns zumindest. Aufgeregt rannten wir nach draußen auf den Hof, wo unsere Gastgeberin schon auf dem Hof unterwegs war, um die Hühner zu füttern. Sie lachte. Wohl auch, weil wir praktisch nackt waren, vor allem aber, weil wir weit hektischer als ihr aufgescheuchtes Federvieh über den Hof hüpften, und das wegen, wie sie uns versicherte, nichts. Solche Beben seien doch ganz alltäglich. Immerhin, „unser“ terremoto schaffte es dann doch in die Nachrichten, in einigen Dörfern hatte es erheblichen Schaden angerichtet, aber die Aufregung hielt sich insgesamt sehr in Grenzen.
Das dürfte diesmal anders sein. Zum Glück ist Chile nicht Haiti, man spielt da schon in einer anderen Liga, was auch in der Bausubstanz Ausdruck findet. Trotzdem wird es wohl kaum bei den derzeit gemeldeten 122 Toten bleiben, und wäre ich gläubig, ich würde jetzt zu jedem verdammten Gott oder Allah oder Elefantenkopf beten, dass keiner unserer Freunde und Projektmitarbeiter betroffen ist. Denn das Epizentrum befand sich vor Concepción, was exakt der Standort unserer Nasenfrosch-Schutzstation ist, die der Leipziger Zoo und die REPTILIA gemeinsam mit der Universität von Concepción im letzten Jahr dort errichtet haben. Neben unseren dauerhaften wissenschaftlichen Mitarbeitern ist auch gerade die von unserem Projekt finanzierte Doktorandin vor Ort, und ich warte ungeduldig auf Nachricht von ihr. Es wird schon nichts Schlimmes passiert sein, und die Station dürfte auch alles heil überstehen, sie besteht aus Außenanlagen und Fertigcontainern, und in der Uni wird ja nachts hoffentlich auch niemand gewesen sein. Aber ein Scheißgefühl ist es doch, hier vor dem Rechner zu sitzen und das Internet nach Neuigkeiten zu durchwühlen.
Blick auf den Rohbau der Nasenfroschstation von REPTILIA, Zoo Leipzig und Universidad de Concepción auf dem Gelände der Universität Foto: A. Gutsche