Ausgekocht? Von Greenpeace als Katastrophenköche geschmäht, wollen EU-Kommissar Dalli und sein Chef jetzt den Gentechnik-Einsatz den Nationalregierungen überlassen: "Verbietet das Zeug doch selber" Die EU Kommission will künftig allen Mitgliedsstaaten freistellen, den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen ohne wissenschaftliche Begründungen zu verbieten. Mit diesem Schritt hofft sie, Staaten, die den Gentechnikanbau ablehnen, zu befrieden und jenen, die ihn vorantreiben wollen, bessere Voraussetzungen zu schaffen. Anders, so ihre Einschätzung, sei der tote Punkt des europäischen Gentechnik-Streits nicht zu überwinden. Ein gewaltiger Sieg der Anti-Gentechnikbewegung. Ob er in einigen Ländern den erhofften Phyrrus-Effekt haben wird, muss sich noch zeigen. Hinter „denen in Brüssel“ könnten Regierung sich künftig jedenfalls nicht mehr verstecken. Schon beim nächsten Treffen der europäischen Umweltminister am kommenden Freitag soll der Vorschlag aus dem Hause des neuen Gentechnik-Kommissars, John Dalli, auf der Tagesordnung stehen, auch wenn er bis dahin noch nicht das Plazet aller EU-Kommissare haben wird. „Mitgliedsstaaten können Massnahmen ergreifen, um den Anbau von allen oder einzelnen GVOs und Gentechniksorten, die nach europäischem Recht zugelassen wurden, auf ihrem gesamten Hoheitsgebiet oder Teilen davon verbieten, einschränken oder erschweren.“ Mit diesem zusätzlichen Artikel in der europäischen Freisetzungsrichtlinie soll das bisherige Prinzip, dass EU weit zugelassene GVOs auch EU weit angebaut werden können, aufgegeben werden.
Zusätzlich will die Kommission ihre, rechtlich allerdings nicht verbindlichen, Leitlinien in Bezug auf die sogenannte Koexistenz zwischen gentechnischer und gentechnikfreier Landwirtschaft umschreiben und dort den Mitgliedsstaaten empfehlen, die Verunreinigung gentechnikfreier Äcker zu verhindern. Bisher stand sie auf dem Standpunkt, dass Auskreuzungen auf Nachbarfelder unterhalb des Schwellenwertes für die Kennzeichung von Gentechnik in Futter- und Lebensmitteln (bis zu 0,9%) geduldet werden müßten.
All dies bezieht sich freilich ausschließlich auf den Anbau, nicht auf den Handel mit Lebens- und Futtermitteln, bei dem weiterhin europaweite Normen gelten sollen und ein Verbot des Imports zugelassener GVOs nicht in Frage käme.
Der Schritt war von Kommissionspräsident Manuel Barroso bereits vor einem Jahr und von Verbraucher- und Gesundheitskommissar Dalli anläßlich seiner Zulassung des Anbaus der BASF-Kartoffel „Amflora“ im März angekündigt worden. Dass er so radikal ausfallen würde wie jetzt vorgeschlagen, mochten Skeptiker freilich lange Zeit nicht glauben. Die Industrie äusserte sich zu dem von Dalli als Befreiungsschlag für die Gentechnik verkauften Schritt enthusiatisch („Bayer unterstützt das Ziel…“ ) bis skeptisch: Der Europäische Markt werden damit zersplittert, die Zulassung kompliziert, sagten Dupont und Syngenta der Financial Times . Der Teufel liege, wie immer im Detail.
Ein Detail, das Gentechnik-Gegnern Sorgen macht, ist die Tatsache, dass derartige Gesetzesänderungen in der EU gerne 2 Jahre Zeit in Anspruch nehmen. Neue und erneuerte Zulassungen für den Anbau von GVOs will die Kommission aber schon im Herbst erteilen. Eine andere Sorge betrifft die Landwirte jener Länder, deren Regierungen sich für den Anbau einsetzen und entscheiden: Werden konventionelle und Biobauern in Spanien, Schweden, Holland oder möglicherweise auch Grossbritannien bei der Regelung die Gelackmeierten sein, weil ihnen die gentechnik-kritischen Länder, die bisher Zulassungen für Jahre blockiert hatten, nicht mehr zur Seite springen? Sie fordern deshalb, dass EU weit verbindlich festgeschrieben werden muß, dass Mitgliedstaaten den gentechnikfreien Anbau schützen müssen und nicht nur, wie es bisher heißt, schützen können.
Auch viele andere Details sind mit dem Kommissionsvorschlag noch nicht geregelt: Wie stellt sich in Zukunft der grenzüberschreitende Verkehr dar, auch der von Pollen durch Wind und Bienenflug? Und will sich die EU mit dem neuen laissez faire Grundsatz auch um die Frage drücken, welche Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Konkurrenzfähigkeit von Landwirten Gentechnik-Konstrukte haben können? Wird sie gar, wie viele befürchten, die Risiko-Prüfung durch ihre notorisch gentechnik-begeisterte Europäische Lebensmittel-Agentur, EFSA, noch weniger transparent und gründlich gestalten als bisher? Vor anderhalb Jahren hatte der Ministerrat deshalb eine ganze Reihe von Forderungen an die Kommission gestellt, die bisher sämtlich nicht abgearbeitet wurden.
Die Debatte wird sicherlich noch spannend. Der Stein der nationalen und damit (so dies von den Regierungen beschlossen wird) auch regionalen Selbstbestimmung in der Gentechnikfrage wird allerdings, einmal losgetreten, mit Sicherheit ins Rollen kommen. Die Konsequenz für alle Regierungen wird sein, dass sie sich künftig selbst entweder für oder gegen den Einsatz von GVOs in der Landwirtschaft bekennen müssen. In keinem der 27 Mitgliedsstaaten können sie dabei auf eine Mehrheit für einen solchen Einsatz zählen.
Für die Regierung in Berlin bedeutet dies, dass ihre Koalitionsvereinbarung, in der sie einerseits den Bedenken der CSU und deren Forderung nach Länderhoheit über den Anbau Rechnung trug, andererseits den Gentechnikfanatikern von der FDP verspricht, auf EU-Ebene für zügige Zulassungen nach einzig „wissenschaftlichen Gesichtspunkten“ einzutreten, sie nicht länger davor bewahren wird, Farbe zu bekennen. Vor ähnlichen Problemen steht die neue Regierung in Großbritannien, deren Parteien sich ein Jahrzehnt lang gegen die notorische Gentechnik-Seligkeit von New Labour profiliert hatten.