Morgen wird debattiert, übermorgen abgestimmt. Erstmals in der über 50jährigen Geschichte der EU wird das Europäische Parlament in deren Königsdisziplin, der gemeinsamen Agrarpolitik, mitbestimmen. Bisher hatten die Agrarminister die Verteilung der rund 54 Milliarden Euro Subventionen hinter verschlossenen Türen unter sich ausgemacht. Weder das EP noch nationale Parlamente hatten einen nennenswerten Einfluß. Erst der Vertrag von Lissabon hat dies geändert. Jetzt, wo die Reform der EU-Agrarpolitik nach 2013 auf der Tagesordnung steht, darf man gespannt sein wie sich der Einbruch der Demokratie in die Europäische Landwirtschaftspolitik auswirkt. Agrarindustrie und Bauernverbände samt ihrer wohlgeölten Brüsseler Lobbymaschiene stehen vor neuen Herausforderungen. Die Zivilgesellschaft entdeckt zögerlich ein neues Handlungsfeld.Die Abgeordneten, die daran gewohnt sind, diese Fragen ihren Agrariern zu überlassen, müssen erst noch zu ihrem Spiel auf der neuen Wiese finden. Höchstpreise auf dem Weltmarkt, Hungerrekorde, die Verwandlung ganzer Landstriche in Energie-Monokulturen, 8 Millionen Bauern aus Osteuropa, deren Existenz auf dem Spiel steht, Landspekulation durch Grosskonzerne und nicht zuletzt Verbraucherinnen und Steuerzahler, denen klar wird, dass Landwirtschaft und Ernährung die Mutter aller Nachhaltigkeit ist, versprechen echte Auseinandersetzungen und mancherlei Überraschung. Denn die Abstimmung am Donnerstag ist erst der Auftakt. Im Herbst geht es ans Eingemachte.
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Das Vorspiel war lebhaft: 1258 Änderungsanträge hatte sich der fränkische Landwirt und CSU-Abgeordnete Albert Deß im Agrarausschuss zu seinem Berichtsentwurf eingefangen. Sein Konzept, im Wesentlichen alles beim Alten zu belassen im europäischen Agrargetriebe und nur „a Bisserl a Greening“ nebst „behutsamer Anpassung“ der schreiend ungerechten Verteilung der Subventionen zwischen alteingesessenen und neu hinzugekommenen Landwirten in West und Ost hinzuzufügen, war ganz offensichtlich nicht haltbar. Der in nächtelangen Verhandlungen erzielte Kompromiss des Ausschusses sieht Obergrenzen für die Förderung von Großbetrieben, verbindliche Umweltauflagen und eine zwar bescheidene aber doch signifikante Anpassung der Prämien in Ost und West vor. Er weist darauf hin, dass die 80 prozentige Abhängigkeit der Union von importierten Eiweisspflanzen (Soja & Co) gemildert und die Klimabilanz der Landwirtschaft verbessert werden muß. Klare Worte sucht man in dem Kompromiß zwar vergebens, doch immerhin stellt sich der Agrarier-Ausschuss des mehrheitlich konservativen EU-Parlaments nicht offen gegen die Reformvorschläge des rumänischen Agrar-Kommissars Dacian Ciolos, der die Zeichen der Zeit besser erkannt hat als die meisten Agrarminister der Union.
„Public money for public goods“ – nicht Besitzstandswahrung sondern ökologische und soziale Dienstleistungen, die der Markt nicht honoriert, sollen den Bauern künftig bezahlt werden, lautet die grosse Linie. Dazu könnte, man höre und staune, beispielsweise eine Fruchtfolge gehören, die nicht ausschließlich aus Mais und Weizen, gar noch zu Verheizen, besteht. Refugien für Artenvielfalt auch in der dünger- und herbizidgeschwängerten Intensivlandwirtschaft anstatt nur auf Stilllegungsflächen und verbesserter Tierschutz könnten ebenfalls zu obligatorischen Voraussetzungen der pro Hektar ausbezahlten Direktzahlungen werden. Nur so seien die Subventionen der zahlenden Öffentlichkeit zu vermitteln.
Daß gegenwärtig gut 50 % aller Mittel an weniger als 5 % aller Bauern gehen während am unteren Ende 50% der Bauern sich 5% der Subventionen teilen müssen, führt nach Einschätzung der Parlamentarier zu „Akzeptanzproblemen“. Auch, dass die größten Subventionsempfänger der Union Unternehmen wie Südzucker, Müller-Milch und der Schlachtgigant Vion sind, wird in Zeiten aufdämmernder Demokratie noch zu „vermitteln“ oder aber zu ändern sein. Der Bericht spricht auch davon, die Marktposition der Landwirte gegenüber der übermächtigen und hochkonzentrierten Verarbeitungsindustrie und dem Handel zu stärken, behutsam versteht sich. Auch die Auswirkungen der Exportpolitik der EU auf sogenannte Entwicklungsländer, in denen Billigfleisch und Trockenmilch made by EU-Subventionen den Aufbau einer auskömmlichen Selbstversorgung verhindern und damit zu Hunger auf dem Lande und schlechten Ernährungsgewohnheiten in den Städten beitragen, sollen bedacht werden.
Zaghafte Ansätze sind erkennbar. Ob sie die kommenden Brüsseler Nächte der langen Messer überstehen werden, ist ungewiss. Die erste Nacht wird einbrechen, wenn die Finanzminister der EU den Gesamthaushalt der Gemeinschaft für die nächste Planungsperiode festlegen. Der erste Vorschlag der Kommission wird Ende des Monats vorliegen. Dann wird die Industrie, als Wissenschaft verkleidet, dicke Brocken der bisherigen Agrargelder für eine „konkurrenzfähige Innovations- und Wissensgesellschaft“ einfordern. Ihre Vorstellungen von einer „wissensbasierten Bioökonomie“, die Energie und Rohstoffe für die post-fossile Industrie bereitstellt und Landwirte eher als Altlast bei der optimierten Produktion von Biomasse sieht, werden mit grossem Fortschrittsgetöse gegen den Erhalt bäuerlicher Strukturen ins Feld geführt werden.
Von Kommissionpräsident Barroso ist zu hören, dass er die seiner Meinung nach unvermeidlichen Kürzungen im Agrarhaushalt (das Parlament ist da übrigens nicht seiner Meinung) vor allem durch einen Kahlschlag in der sogenannten zweiten Säule bewerkstelligen will, mit der nicht einzelne Landwirte pro Hektar (Direktzahlungen, erste Säule), sondern Umwelt- und ländliche Strukturentwicklungsmaßnahmen finanziert werden. Angeblich hat er dafür Rückendeckung aus Deutschland und Frankreich.
Die zweite Nacht der langen Messer ist im Herbst zu erwarten, wenn in Zahlen deutlich wird, dass die erweiterte EU 6 Millionen Landwirten aus Rumänien, Bulgarien, Polen, Ungarn eine Perspektive bieten muss. Stramm nationale Töne sind dann von allen denkbaren Subventionsverlierern von Westfalen bis Thessaloniki zu erwarten. Die Bundesregierung und der Bauernverband üben bereits kräftig das Lied vom Netto-Zahler und wettern damit übrigens auch gegen die Begrenzung der Zahlungen an jene 0,4% der Landwirtschaftsbetriebe und -unternehmen, die über 100.000 € pro Jahr aus Brüssel kassieren. Der Teufel soll nur weiter auf den grössten Haufen… solange der nur garantiert deutsch ist, scheint dort der Stand des europäischen Solidarbewußtseins zu sein.
Ganz lange Messer werden wohl schließlich gewetzt werden, wenn – sollte es tatsächlich dazu kommen – die Marktbedingungen selbst und nicht allein die öffentlichen Mittel auf den Prüfstand gestellt werden. Die „Fleisch ist Leben“ Fraktion der sogenannten Veredelungswirtschaft, deren Fleisch-, Eier- und auch zunehmend auch Milch-Fabriken ohne den billigen aber schädlichen Soja-Stoff aus Südamerika und USA nicht überlebensfähig ist, wird das Recht freier Bürger auf Fehlernährung, Regenwaldvernichtung, Stundenlöhne unter 5 € und Tierquälerei mit sehr viel Geld und unschönen Tönen zu verteidigen versuchen. Wie weit sie damit kommen wird, bleibt abzuwarten.
Zum Schluss die gute Nachricht: Seit sich Anfang des Jahres Bauern-, Umwelt-, Verbraucher-, Entwicklungs-, Tierschutz- und andere zivilisierte Verbände zu der Kampagne „Meine Landwirtschaft“ zusammengetan haben und für eine mit Gesundheit und Ernährung, Entwicklung, Energie und Umwelt eng verbundene Landwirtschaftspolitik streiten, hat die agrarpolitische Vernunft und Zukunft immerhin schon mal ein zu Hause. Im Parlament wird auf ihre Initiative hin auch über den Antrag von 41 Abgeordneten abgestimmt, das Ziel Europäischer Agrarpolitik müsse es sein, dass Europa seine Bürger pro Kopf mit den Resourcen ernährt, die jedem Bürger dieses Planeten nachhaltig zur Verfügung stehen und das gegenwärtige Handelsdefizit von umgerechnet 35 Millionen Hektar systematisch abzubauen. Ein dezenter Hinweis darauf, dass Europa nicht einmal in der Lage ist, sich selbst zu ernähren während seine Niebels hungernden Afrikanern Hilfe zur Selbsthilfe anbieten und seine biogas-betrunkenen Grossbauern und Agrarindustrievertreter gebetsmühlenartig behaupten, es müssen um jeden Preis mehr produziert werden, damit die Welt nicht hungert.
Auf der eigenen homepage von „Meine Landwirtschaft“ stimmen derweil Steuerzahlerinnen und Steuerzahler darüber ab, wie sie die 100 Euro, die jede/r von uns zur Finanzierung der EU-Agrarpolitik im Jahr bezahlt, verwendet sehen möchten. Vielleicht ein Bisschen sehr viel Demokratie auf einmal, aber kein verkehrter Ansatz.