Marsch fuer den TIPNIS In einem Experiment fuer die Schule sollte meine Tochter diese Woche untersuchen, ob die Sauerstoffproduktion einer Pflanze mit der Menge der einfallenden Sonnenstrahlen waechst. Das Ergebnis war eindeutig und hat Julia in ihrer Ueberzeugung bestaerkt, wie wichtig der Erhalt gerade der Waelder in den sonnenreichen Tropenregionen ist.
Seit dem 15. August marschieren zunaechst 700, inzwischen mehrere Tausend Tiefland-Indígenas aus Protest gegen den geplanten Bau einer Ueberlandstrasse mitten durch den TIPNIS, Indigenes Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure, ein Bau der nicht nur das Klima, sondern auch eine dort lebende Vielfalt von 858 Wirbeltierarten, 470 Vogelsorten, 188 Fischen und andere Wassertieren, 500 verschiedenen Heilpflanzen bedrohen wuerde. Und die meisten dort lebenden Arten seien noch gar nicht erfasst, sagt der Biologe Raul Altamirano der Tageszeitung Los Tiempos.
Fuer Praesident Evo Morales, der sich auf internationaler Ebene als Verfechter der Rechte der Mutter Erde und des Klimaschutzes praesentiert, ist Julia jedoch eine jener Naturromantiker, die sich nationalen Interessen, der Entwicklung und dem Fortschritt verweigern. Dank des Starrsinns der Regierung, die ihre einmal getroffene Entscheidung durchboxen will, statt mit den Beteiligten Alternativen und Kompromisse zu suchen, steht im Fall TIPNIS derzeit nicht nur die Natur und die Glaubwuerdigkeit der Regierung auf dem Spiel. Aendert die Regierung nicht ihren autoritaeren Stil, wird bald auch das Buendnis zerbrochen sein, das Evo Morales vor noch nicht allzu langer Zeit mit einer 2/3 Mehrheit an die Macht gebracht hat.
Der Naturpark sei schon lange keine unberuehrte Landschaft mehr, argumentiert Morales. Das stimmt, sagt SERNAP, die nationale Naturparkbehoerde. Aber 97% der entwaldeten Flaechen seien dem Kokaanbau durch die Quechua und Aymara – Bauern oder ehemalige Bergarbeiter aus dem Hochland – geschuldet. In Zeiten der Wirtschaftskrise hatten sie sich in den Tropen angesiedelt.
Obwohl sie sich selbst heute nicht mehr Colonisadores (Siedler), sondern „Interkulturelle Gemeinden“ nennen, haben sie wenig Verstaendnis fuer die traditionellen Lebensformen der Tieflandkulturen und deren naturschonenende extensive Lebensweise.
Sie beklagen, dass diese nicht wuessten, was gut fuer sie sei,dass sie sich der Zivilisation verweigerten und sich manipulieren liessen. Und sie kritisieren, dass die Indigenen ueber mehr Landtitel verfuegen als sie selbst, verschweigen aber, dass die Vergiftung der Fluesse durch Agrarchemikalien und die zunehmenden Ueberschwemmungskatastrophen, unter denen alle leiden, nicht nur dem weltweiten Klimawandel, sondern auch dem eigenen Umgang mit den tropischen Waeldern geschuldet sind. Um die traditionellen Kulturen und ihren nachhaltigen Umgang mit der Natur zu bewahren, sieht die Konvention 169 der internationalen Arbeitsorganisation die Pflicht der Regierungen vor, die indigenen Gemeinden vor grossen Infrastrukturprojekten zu konsultieren. Dies hat Morales-Regierung versaeumt und mit den Bauarbeiten der Ueberlandstrasse ausserhalb des TIPNIS Fakten geschaffen, die ihr nun ein Umlenken erschweren.
Wie eine Nase ragt die Flaeche der Siedler bereits heute in das Kerngebiet des Naturparks hinein. Und Siedler wie Regierung wollen die Strasse ueber diese Nase hinaus verlaengern, statt sie um den Naturkpark herumzufuehren. Zehn indigene Gemeinden wurden bereits durch die Siedler verdraengt und mussten sich weiter ins Innere des Parks zurueckziehen, um ihre angestammte Lebensweise erhalten zu koennen.
Mit der geplanten Streckenfuehrung wuerde der Park zweigeteilt und bislang unberuehrte Flaechen fuer weitere Kolonisierung und Holzausbeutung erschlossen. Bereits jetzt haben diese vor allem an den Raendern der Flusslaeufe tiefe Schneisen in die Natur geschlagen.
Indigenes Territorium, Quelle: La Prensa Erst wenn die Strasse gebaut sei, werde man weitere Siedlungen unterbinden und die weitere Zerstoerung der Natur kontrollieren koennen, argumentiert der fuer oeffentliche Bauten zustaendige Minister Walter Delgadillo. Doch Antonio Cárdenas, Generalsekretaer der “Interkulturellen Gemeinden”, stellte in einem Interview fuer die Radio-Kette ERBOL nicht nur klar, dass Evo Morales ihnen das Land bereits versprochen habe, sondern dass man nach dem Strassenbau „auf jeden Fall mit neuen Siedlungen voranschreiten“ werde.
Und die UNO-Behoerde gegen Drogenhandel (UNODC ) informierte in ihrem juengsten Bericht, dass die Gesamtflaeche des Kokaanbaus trotz Vernichtung grosser Flaechen im letzten Jahr zwar praktisch stabil geblieben sei, aber in den Naturparks die groessten Zuwaechse an Kokaplantagen zu verzeichnen waren.
Die Regierung “hat die bolivianische Verfassung und die Ziele der sozialen Bewegungen nie ernst genommen“, kritisiert nun die ehemalige Praesidentin der Verfassungsgebenden Versammlung Silvia Lazarte, ein politisches Schwergewicht des MAS, nun die eigene Partei und erinnert daran, dass es ein Ziel der Verfassung sei, diejenigen Gruppen zu respektieren, die von frueheren Regierungen nicht ernst genommen wurden. Sie verlange, dass die jetzige Regierung diese Verfassung auch ernst nehme.
Doch in La Paz hat man wochenlang versucht, Nebelkerzen zu werfen. Der Strassenbau laege im nationalen Interesse. Dabei ist klar, dass sich vor allem Brasilien, das auch den Kredit fuer den Bau zur Verfuegung stellt, bessere Absatzmaerkte fuer seine Produkte erhofft. Die Marschierer seien von der US-Botschaft manipuliert, heisst es einmal, obwohl die Strasse Teil eines lateinamerikanischen Integrationsprojektes ist, dass mit dem Segen der USA schon von den Vorgaengerregierungen geplant worden ist.
Ein anderes Mal sind es die Nicht-Regierungsorganisationen, die im Interesse der Rechten den Amazonas internationalisieren, sprich Bolivien die Nutzung seiner Ressourcen untersagen wollen, um selbst im Norden weiter die Umwelt verschmutzen zu koennen, so Vizepraesident Álvaro García Linera, der sich auch mit der Behauptung profiliert, die Indígenas stellten sich in den Dienst der Oberschicht von Santa Cruz, die den Handelszugang zur Provinz Beni monopolisieren wolle.
Auch wenn an allen Argumenten etwas dran sein mag, sie treffen nicht den Kern. Denn den Indígenas geht es um um das Ueberleben der eigenen Kultur und deshalb um die Streckenfuehrung der Strasse durch das Herz des TIPNIS, sie wehren sich nicht gegen den Bau an sich.
Statt ernsthaft zu verhandeln, wie es Verfassung und ILO-Konvention 169 vorschreiben, versucht die Regierung, die Bewohner des Territoriums zu spalten und zu diskreditieren. So wurden Sprecher der Indígenas illegal abgehoert, um an kompromittierende Informationen zu kommen.
Und waehrend Praesident Morales sich darueber lustig macht, dass der Marsch nur langsam voran komme, nicht so wie damals, als er noch marschiert sei, werden gleichzeitig in Yucumo Blockaden der Siedler organisiert und von Polizeitruppen begleitet, die nach eigenen Angaben die Anweisung „von oben“ haben, den Marsch nicht durchzulassen.
Waehrend Vizeminister Navarro den Marschierern die Schuld fuer den Blockadeversuch gibt und ihnen vorsorglich die Verantwortung fuer moegliche Verletzte oder gar Tote zuschiebt, weil sie nicht verhandlungsbereit seien, laesst Aussenminister David Choquehuanca , der sonst das „Gute Leben“ im Einklang mit der Natur auf seine Fahnen geschrieben hat, unter Kabinettsdisziplin verlauten, dass der Praesident bereits die Entscheidung gefaellt habe, und es deshalb nichts an ihr zu ruetteln gebe.
Statt die Polizei zu instruieren, das Demonstrationsrecht der Marschierenden zu garantieren, fordert die Regierung diese auf, doch zurueckzugehen, und mal hier und mal da Dinge zu verhandeln, die doch angeblich entschieden sind, nur um der ILO-Konvention 169 in der Form zu genuegen und mit sauberer Weste dastehen zu koennen.
Ich bin kein Rechter und keine NGO: Demonstration in Cochabamba Angesichts derart widerspruechlicher Aussendarstellung steht der emblematische Praesident der Weltkonferenz der Voelker zum Klimawandel, der Praesident der Verweigerung fauler Kompromisse auf der Klimakonferenz in Cancún nun im Licht einer konventionionellen Modernisierungsideologie so entbloesst da, wie der Kaiser im gleichnamigen Maerchen mit seinen „neuen Kleidern“.
Zwar hat Morales die Unterstuetzung der maechtigen nationalen Kleinbauernorganisation, zwar sind auch die Indigenen in der betroffenen Region in vielem nicht einig. Doch je laenger der Marsch andauert und je laenger die Regierung mit ernsthaften Loesungsvorschlaegen fuer den Konflikt wartet, desto groesser wird der Protest.
Buergerengagement wird als Recht verstanden, das nicht vom Wohlwollen eines vaeterlichen Praesidenten abhaengig gemacht werden kann. Und die Bissigkeit der fuer ihre intelektuelle Scharfsinnigkeit bekannten Kommentare des Vizepraesidenten wird nicht mehr gefuerchtet, sondern die Argumentation etwa von dessen universitaeren und politischen Weggefaehrten Raul Prada mit der ihm nun in der Opposition zur Verfuegung stehenden Zeit genuesslich zerpflueckt.
In Santa Cruz gibt es eine Mahnwache, in Tarija werden Lebensmittel gesammelt, in La Paz und Cochabamba kommt es immer wieder zu Demonstrationen. Lehrer und Studenten aus El Alto (einer MAS-Hochburg) wollen sich jetzt dem Marsch ebenso anschliessen wie Aktivisten aus Cochabamba. „Wir bitten die Regierung, die Information ueber den Marsch nicht zu manipulieren“, kuendigt Tomás Huanaco von dem Zusammenschluss indigener Organisationen der Andenregion CAOI gegenueber ERBOL einen Sonderbericht an die UNO an, „und die Arroganz zu unterlassen, denn die Regierung erfuellt einen oeffentlichen Auftrag fuer das ganz bolivianische Volk, deren Teil die indigenen Voelker sind“.
Die Guarani-Organisationen aus dem Tiefland planen ebenso wie der Nationale Rat der Ayllus, der traditionellen Dorfgemeinden der Hochlandregion, CONAMAQ ihrerseits Strassenblockaden, falls man die Marschierer nicht nach La Paz ziehen laesst. Luis Rico, populaerer Saenger, der am 1. Mai noch auf einer Regierungsveranstaltung auftrat, hat unter dem Titel coraje ein aelteres Lied zur Unterstuetzung der Marschierer neu aufgelegt und mit aktuellen Bildern versehen.
Die Zentralgewerkschaft erklaert sich neutral in der Sache, kritisiert aber das Vorgehen der Regierung. Selbst aus Kreisen der „Interkulturellen Gemeinden“, kommen einzelne Kommentare, dass man sich vor den Karren der Regierung gespannt fuehle.
Die indigenen Abgeordneten aus dem Tiefland kuendigen fuer den Fall des Strassenbaus durch den TIPNIS den Austritt aus der Fraktion des MAS an, was den Verlust der 2/3-Mehrheit im Parlament bedeuten wuerde. Auch an die Neugruendung einer alternativen politischen Stroemung wird gedacht.
Ortstermin im TIPNIS - Umfassende Konsultation oder Ruecksprache mit befreundeten Organisationen?, Quelle: ERBOL Die Morales-Regierung scheint bei einem Nachgeben zu fuerchten, dass dies die Opposition gegen eine Reihe weiterer bereits geplanter Grossprojekte in den bolivianischen Tropen nur noch anheizt. Einmal nachgeben, hiesse das derzeitige staatszentrierte Industrialisierungsprojekt in Frage stellen.
Doch immerhin kuendigt der Praesident, der fuer so etwas bislang angeblich nicht zustaendig war oder Zeit gehabt habe, den gestrigen Termin bei einer ihm wohlgesonnenen Gemeinde im TIPNIS als Start eines „umfassenden“ Konsultationsprozesses an.
Wie auch immer der Konflikt ausgeht, wieviel politisches Porzellan bis dahin zerschlagen ist und wie sehr die Regierung dadurch geschwaecht wurde, fuer meine Tochter Julia kommt nur ein Ende in Frage: Kurz nach dem Experiment mit dem Sauerstoff sollte sie im Spanischunterricht eine Erzaehlung schreiben. Sie handelt von einem kleinen braunen Hasen, dessen Leben im TIPNIS von zweibeinigen Ungeheuern und grossen rauchenden Monstern bedroht ist. Fuer ihn gibt es ein Happy End.
Das Bild zur Geschichte: Hase, Fluss, Motorsaege und Baggerschaufel