Ungarn erlebt seit 2006 eine Polarisierung. Paramilitärs der Magyar Garda hetzten gegen Juden und Homosexuelle, rechtsnationale Zündler predigen eine Revolution. Noch aber synchronisiert die internationale Finanzmarkkrise diese Hysterien nicht.
Gewissermassen als Antidot feierte das kunstsinnige Budapest am 11. Oktober den 70. Geburtstag von Hermann NITSCH. Die Galeria White in der Falk Miksa utca eröffnete die mittlerweile vierte Ausstellung des Österreichers im Nachbarland, grossformatige Schüttbilder und Aktionsfotos, und damit die erste nach den Krawallen vor neun Jahren.
»1999 erlebte Ungarn den grössten Kunstskandal seiner Geschichte«, erinnert sich der Übersetzer und Kunstvermittler Lajos ADAMIK. Ein Mitglied der konservativen Regierung hatte damals behauptet, seine religiösen Gefühle würden durch die gezeigten Relikte des Sechstagespieles von 1998 verletzt. Die Vertreter der Religionsgemeinschaften schlossen sich an. Es folgte ein landesweiter Protest; jemand pinselte einen Judenstern auf ein Ausstellungsobjekt.
Die liberale Budapester Stadtregierung freilich widerstand damals dem Kesseltreiben, und das Publikum gab ihr Recht: die Schau verzeichne mehr BesucherInnen denn je.
Nitsch spielt den Skandal von ’99 heute herunter. »Das hatte nichts mit Ungarn als solchem zu tun, solche Dinge habe ich überall erlebt«.
Wie schon zur Eröffnung des Nitsch Museo Napoli im September reisten auch zum Fest nach Budapest zahlreiche Freunde, Verwandte und Kenner an. Ziehsohn Leo KOPP aus München, der Hippie-Artist Giuseppe ZEVOLA aus Italien, Extremkoch Paul RENNER aus dem Ländle (Renner will nächstes Jahr aus seinem legendären Hellfire Touring Club ausscheren).
Selbst Veronika IMMERVOLL, die lebenslustige Köchin aus dem Künstlerdomizil in Prinzendorf, war in Budapest als Gratulantin zugegen (sie hat einst dem österreichischen Bundeskanzler VRANITZKY ihre Stimme bei der Wiederwahl verweigert, weil der sie in der Schlossküche nicht gebührend begrüsste).
Aber nicht nur Althasen des Orgien Mysterien Theaters feierten in Budapest ein Wiedersehen. Auch Newcomer wie der Franzose Guillaume BRUÈRE, der in der Berliner Galerie Curtze noch bis Ende des Monats »Selbstbildnisse als Kartoffel« ausstellt, hat den Weg in die Arany János utca 17 gefunden.
Dorthin, ins Restaurant Kheiron, hatte dessen Besitzer Tamás KOLLER zu einem Festessen für Hermann Nitsch geladen. Kollers Küche kreierte zum Nitsch-Text Das Malhemd (1991) fünf raffinierte Speisengänge: Lebervariationen, Suppe von der Taubenbrust mit Gerstengraupen, Rosmarin-Kalbsschulter, Lammrücken mit Ziegenkäse-Polenta und Mohnmousse mit Schwarzbeeren.
Die natürlichen Gefahren hielten sich dabei in Grenzen. Die ungarische Musikperformerin ÁGENS, eine Jeanne d’Arc des Eso-Feminismus, die kürzlich erotische Gedichte veröffentlichte, bot auf einem Klangtisch liturgische Action mit gestischen Zitaten aus Nitsch-Aktionen. Von ihrer Performance selber am stärksten ergriffen, verschwand die Künstlerin am Schluss auf Nimmerwiedersehen.
Lajos Adamik nannte den Jubilar in seiner Laudatio »einen grossen Menschheitserzieher« und erinnerte daran, dass es ausgerechnet der griechische Gott der Heilkunst, Aesculapius, war, der auch als der erster Meister der Küche verehrt wurde.
Dr. Lóránd HEGYI, Ex-Direktor des Wiener MMK, derzeit Leiter des Museums für Moderne Kunst St. Etienne, war eigens aus Lyon angereist. Hegyi betonte die Apotheose des Orgienmysteriums auf der sinnlichsten Ebene. Nitsch verbinde das Pathos mit heller Empathie.
Die Festnacht endete freilich trotzdem in melancholischer Tonlage. Bruère zückte seinen Skizzenblock und hielt den ungarischen Stehgeiger in Strichen fest, als wäre Horst JANSSEN auferstanden.
Nitsch durchkreuzte die Regie des Abends nur an einem Punkt. Er weigerte sich am Kopf der Tafel Platz zu nehmen und sie zu präsidieren. Statt dessen sass er lieber leutselig unter den Gratulanten, als ginge es um ganz einen anderen.
© Wolfgang Koch 2008
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