vonmanuelschubert 13.02.2016

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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Welche Kraft kann Kino in Zeiten allgegenwärtiger visueller Dauerberieselung noch entfalten? Bewegtbilder sind überall – auf dem Smartphone, auf dem Rechner, im Fernseher sowieso, in der U-Bahn, in der Straßenbahn, im Auto, auf Werbetafeln im Stadtbild. Sie sind grell, sie sind schnell und bunt. Sie ringen um unsere Aufmerksamkeit.

Wir haben uns an diese Bilderflut gewöhnt. Sie gehört zu unserem Alltag, sie bestimmt unseren Alltag. Etwas scheint uns weniger relevant, wenn es sich nicht bewegt, wenn es nur Ton hat oder gedruckt in einer Zeitung steht. Wie kann da ein Film funktionieren, der nur aus starren Einstellungen besteht? Der zwar ein Film ist, der aber fast keine Bewegung zeigt? Außer vielleicht im Wind raschelnde Blätter.

Das Forum der Berlinale beweist seit langer Zeit, dass so etwas geht, erst recht im Kino und insbesondere in der Epoche allgegenwärtiger digitaler Bilder. Allen voran mit dem unentwegt produzierenden James Benning, der zuletzt mit STEMPLE PASS 2013 im Forum zu Gast war. STEMPLE PASS, ein 121 minütiger Trip aus exakt vier halbstündigen Einstellungen, die immer das gleiche Bild zeigen: eine kleine Hütte in einer entlegenen Schlucht. Wir sehen wie die Jahreszeiten wechseln, die Natur sich verändert, manchmal Rauch aus der kleinen Hütte aufsteigt. Sparsam dosiert fällt eine Form von Realität über die Tonspur in diesen seltsamen Bildraum ein und ruft uns in Erinnerung, warum es diese Bilder gibt. Wie diese Hütte im Tal verortet werden kann. Doch meistens ist nichts zu hören – vom leisen Gesäusel der Natur abgesehen; wir sind allein mit ihr.

Ein anderer Kandidat für derlei Filme: Heinz Emigholz. Wenngleich in seinen Werken wesentlich mehr los ist, sind sie doch Studien. Architektonische Studien von Räumen, von Gebäuden, von Werken eines bestimmten Architekten – und wie die Zeit, die Geschichte über sie hinweg gegangen ist, sie verändert hat. Mal dauert eine Einstellung mehrere Minuten, mal ist sie kurz. Nicht immer haben wir die Möglichkeit genau zu studieren, was wir sehen. Meistens bleibt lange genug Zeit, um mit einem Raum, oder einem Ausschnitt dessen, vertraut zu werden. Mit dem Licht, das den Raum durchflutet oder Schatten wirft. Und mit den Klängen, die diesen Raum umgeben oder ausfüllen. Die Filme von Emigholz, so elaboriert sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, entwickeln auf bewundernswerte Weise einen unentrinnbaren Sog. Sie durchdringen den Zuschauenden, ergreifen Besitz von seinem Blick und geben ihn erst wieder frei, wenn das Licht im Kino angeht. Meistens lassen sie einen auch dann nicht los.

Und dann gibt es da Nikolaus Geyrhalter. Auch er ist ein häufiger Gast im Forum. Auch er hat dieses Faible für, wenn man es despektierlich ausdrücken will, Kinogewordene Postkarten der sonderbaren Art. 2016 präsentiert er uns das Werk HOMO SAPIENS. Überschrift über diese 94 Minuten Film: Was bleibt von unseren Leben, wenn wir nicht mehr sind? Das „Wir“ ist hier universell gemeint: Was lässt die Menschheit zurück, wenn sie untergegangen ist? Eine Menge, aber vor allem: Bauten.

Kasernen, Theater, Krankenhäuser, Rechenzentren, Einkaufszentren, Kinos, Schornsteine, Kuhställe, Schlachthäuser, Zeitungsläden, Bahnhöfe, Eisenbahnstrecken, Tempel, Kirchen, Krematorien, Wohnhäuser, Strommasten. Und jene Dinge, die wir in all diese Bauten rein gestellt haben. Was wird aus dem ganzen Zeug, wenn wir alle fort sind? Eines lernen wir schon nach wenigen Momenten in HOMO SAPIENS: der neue Bewohner unserer Hinterlassenschaften wird die Natur sein. Sie wird jede Ritze, jedes kaputte Fenster, jede offene Tür nutzen, um sich Zugang zu unseren früheren Lebensräumen zu verschaffen. Und wo sie nicht weiter kommt, da helfen Wind und Wetter nach. Sie nagen so lange, bis sie unsere Behausungen kaputt bekommen haben. Und dann kommen die Pflanzen. Ihnen auf den Fersen: Tauben.

Geyrhalter bebildert sein Gedankenspiel des Was-wäre-wenn mit den Erkundungen von verlassenen Örtlichkeiten aller Art. Er stellt seine Kamera an Nicht-Orten auf, die wir schon jetzt, wo wir – noch – existieren, bereits aufgegeben haben. In diesen Räumen dürfen wir unseren existentialistischen Grübeleien im Konjunktiv nachgehen. Wir können es aber auch bleiben lassen. Denn der Filmemacher kann sich nicht entscheiden: Will er möglichst viel von seinen spektakulären Bildern in den Film stopfen? Oder will er Denkräume schaffen, in denen unsere Gedanken tiefer liegende Bereiche erreichen können? Diese Unentschiedenheit wird HOMO SAPIENS zum Verhängnis.

Was wir zu sehen bekommen, hat zwar erheblichen Schauwert. Diese entlegenen Orte aufzuspüren muss eine furchtbare Sisyphusarbeit gewesen sein, sie aufzusuchen und zu filmen nicht minder schwierig. Doch was wird daraus? Eine schier endlose Abfolge des immer gleichen, die sich irgendwann zur bildgewordenen Plattitüde steigert. Der Mensch geht, die Natur kommt. Die weicheren Reste unsere Existenz sind schneller zerstoben, als die härteren. Der letzte Chor einer verlassenen Friedhofskapelle sind die Tauben, die im Gleichklang vor sich hin gurren.

Was will Nikolaus Geyrhalter von seinen Zuschauenden? Will er uns mit diesen Bildern unsere Vergänglichkeit bewußt werden lassen? Oder plädiert er nur für ein allumfassendes Renaturierungsprogramm aufgegebener Orte und Gebäude? Das sich die einstmals penibel getrimmten Bäume in verlassenen Einkaufspassagen verselbstständigen und Raumgreifen, sobald sie keine Schere mehr auf ihren dekorativen Wert zurechtstutzt – das kann unmöglich Quintessenz seines Films sein, oder doch?

Wo James Benning und Heinz Emigholz durch radikale Reduktion, durch Geduld und Konzentration, schmerzhaft für Filmemacher wie für Zuschauende, den Kern ihrer dokumentarischen Erzählungen offen legen, geht Geyrhalter den Weg des geringeren Widerstandes. Er türmt alles auf, was für ein paar Minuten unverwackelt abgelichtet werden konnte. Ein dokumentarischer Film, geronnen zum Trümmerporno.

Eine Erkenntnis bleibt dennoch von HOMO SAPIENS: Plastikmüll zählt zu jenen menschlichen Hinterlassenschaften, gegen die auch die Natur machtlos ist. Doch um dies zu erkennen, müssen wir uns nicht ins Kino setzen. Dafür können wir uns auch mit unseren Smartphones an den Strand setzen und 2-Minuten-Videos von den Plastikfetzen im Sand machen.

HOMO SAPIENS | AT 2016 | Nikolaus Geyrhalter | 94′ | Forum

Titelbild: (c) NGF

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