Lukas berichtet fasziniert von seiner Beobachtung: „There came a visible spektrum of light from his eyes.“ Lukas (Joel Edgerton) erzählt von Alton Meyer, einem 8-Jährigen. Alton (Jaeden Lieberher) ist anders als andere Jungs in seinem Alter. Etwas ist an ihm, dass ihn enorm verwundbar und machtvoll zugleich wirken lässt. Und dann ist da eben diese Sache mit seinen Augen und dem Licht, welches sie hin und wieder aussenden. Aber er stellt noch mehr schräges Zeug an, beispielsweise kann er Radiowellen wiedergeben. Allerdings hat auch noch nie ein Superman-Comic gelesen, keine Ahnung was Kryptonit ist. Überwachungsdronen und Regierungssatelliten sollten ihm ebenfalls nicht zu nahe kommen, er merkt es, wenn sie ihn beobachten und das mag er gar nicht. Alton ist offenkundig ein Mensch jenseits normalen Menschseins.
Doch die Geschichte beginnt woanders: Mit Fernsehnachrichten und und einem Mann namens Roy (Michael Shannon) beziehungsweise dessen Fahndungsfoto. Man sucht ihn, Vorwurf: Kindesentführung. Die Nachrichten zeigen nur Roys Foto, vom Jungen, den er entführt haben soll, gäbe es noch kein Bild heißt es, nur eine Personenbeschreibung. Dies wird so bleiben. Schnitt. Ein häßlich eingerichtetes Büro, drei mittelalte Männer in spießigen Anzügen. Es geht um einen Auftrag und einen Jungen, der unter allen Umständen zurückgeholt werden muss. Alton. Gottes Wille und Auftrag und so weiter.
Dem Ansinnen der Drei Männer kommt das FBI zunächst zuvor, welches die Ranch, auf der sich die drei befinden und die das Refugium einer religiösen Gruppierung ist, durchsucht und die Bewohner festnimmt. Eine beachtliche Menge Schusswaffen sei durch die Gruppe erworben worden, so die Begründung. Aber das ist für das FBI nur ein Vorwand. Vielmehr geht es um die Gebete der Sekte und vor allem die Codes darin, die eine frappierende Ähnlichkeit zu geheimem Datenmaterial der US-Regierung haben. Die Regierung will herausbekommen, wieso? Und sie will Alton Meyer. Doch sie wissen nicht, womit sie es zu tun haben, wie der Pastor der Sekte den ermittelnden Beamten an den Kopf wirft. Zurecht.
Der mutmaßliche Kindesentführer und sein Opfer brechen derweil auf, ahnend, welche Verfolger ihnen auf den Fersen sein könnten. Das entführte Kind, Alton, zeigt keine Anzeichen von Widerstand. Im Gegenteil, er sitzt seelenruhig auf dem Boden eines abgedunkelten Motelzimmers und unter einem Bettlaken. Mit der Taschenlampe in der Hand ließt er ein Comic. Roy und sein Helfer, der frühere Schulfreund Lukas, packen ihre Taschen, darin mehrere Schußwaffen. Und schließlich signalisiert Roy dem Jungen, dass es Zeit sei aufzubrechen: „It’s time. We are ready.“ – „Yeah.“ Roy setzt Alton seine blaue Schutzbrille auf und nimmt ihn auf den Arm. Roy, der Vater von Alton. Ein Vater, dem Michael Schannon ein gehöriges Maß an Entschlossenheit, Unerbittlichkeit und Liebe zu verleihen versteht. Dieser Mann tut alles für seinen Sohn, selbst wenn er dafür sprichwörtlich über Leichen gehen muss.
MIDNIGHT SPECIAL, der vierte Spielfilm von Regisseur Jeff Nichols, entfaltet dann seine stärksten Momente, wenn vieles noch im Unklaren bleibt und rätselhaft erscheint. Wenn Dinge einfach passieren, die nach normalem Dafürhalten nicht passieren können und in die jedes Mal Alton involviert ist. Wenn Luke, der eigentlich ein loyaler State Trooper war, aus unerfindlichen Gründen bereit ist, seine eigenen Kollegen zu erschießen. Und wenn ein junger NSA-Datenanalyst (Adam Driver) versucht, sich auf das Verhalten des Jungen einen ganz eigenen Reim zu machen, selbst wenn dies bedeutet, dass er dafür seinen Job und alle Vorschriften ignorieren muss.
Jeff Nichols erzählt seine Filme, SHOTGUN STORIES, TAKE SHELTER (beide im Berlinale Forum), MUD und nun MIDNIGHT SPECIAL, eigentlich klassisch: Eine Geschichte beginnt vermeintlich friedlich und steigert sich dann bis zu einem kritischen Kulminationspunkt. Was gewöhnlich klingt, wird bei Nichols zu einer spannungsgeladenen, im besten Sinne beunruhigenden Erfahrung. Seinen Erzählungen haftet etwas Übernatürliches, Überirdische an, was keinesfalls in einem religiösen Sinne zu verstehen ist, und welches nie bis zu Ende auserzählt respektive ergründet wird. Es reichen Nuancen, minimaler Mitteleinsatz, größtmögliche Wirkung. Ländlich-archaische Gegenden im Süden der USA sind die Spielorte seiner Filme. Gegenden, in denen Gott auf nicht-irdische Sonderbarkeiten das Monopol hat und in denen irdisch Sonderbares schnell zu Konflikten führt, weil es nicht ins Normativ passen will.
MIDNIGHT SPECIAL ist so gesehen eine Abkehr von Nichols bisherigem Schaffen, da dem Übernatürlichen letztendlich komplett die große SFX-Bühne bereitet und üppig auserzählt wird. Gelegentlich erinnert dies an die Spätphase der TV-Serie von Akte X, wo die mysteriösen, verschwörungstheoretischen, rätselhaften Momente, die der Serie ihre Sogkraft verliehen, schließlich der allzu einfachen Erklärung durch Regierung-vertuscht-Alienaktivität weichen müssen.
Man kann diese Wandlung in Jeff Nichols Erzählweise (er schrieb auch das Drehbuch) von MIDNIGHT SPECIAL, die sich mit dem vorherigen starbesetzten Film MUD bereits andeutete, als Konzession an Hollywoods Normen lesen, schließlich wurde der Film durch das Hollywood-Studio Warner Bros. ko-produziert. Wie dem auch sei, am Ende steht ein überkandideltes Finale, das diesem fesselnden Werk mehr schadet als nützt. Doch daran scheitert der Film nicht, denn es zahlt sich genau dann die Treue des Filmemachers Jeff Nichols zu seinem Hauptdarsteller Michael Shannon (Zusammenarbeit seit SHOTGUN STORIES), seinem Kameramann Adam Stone (Zusammenarbeit seit SHOTGUN STORIES) und seinem Filmkomponisten David Wingo (Zusammenarbeit seit TAKE SHELTER) aus, deren Arbeit auch aus MIDNIGHT SPECIAL ein herausragendes, länger nachklingendes Filmerlebnis macht.
MIDNIGHT SPECIAL | USA 2016 | Jeff Nichols | 112′ | Wettbewerb
Fotos: (c) 2016 WARNER BROS./RATPAC-DUNE ENTERTAINMENT/IFB