vonmanuelschubert 16.02.2016

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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Wie nehmen wir Stadtlandschafen wahr? Was ist es, dass wir sehen, wenn wir durch die Stadt gehen? Was lenkt unseren Blick? Was stößt ihn ab? Zunächst kann man sagen: Wir sehen einfach nur Häuser, Straßen und die Menschen darin. Dann kommen Bäume, Parks, Grünanlagen, Bahnhöfe und dergleichen. Nehmen wir die Vielgestaltigkeit des ganze wahr, etwa Baustile und Gebäudezustände? Welche Perspektiven können wir dabei einnehmen – im visuellen Sinne?

Der Blick geht im Regelfall von unten nach oben. Nur die wenigsten leben – zumindest in unseren Breiten – in wirklichen Hochhäusern und können den Blickwinkel umkehren, können somit eine observierende Perspektive einnehmen. Während jeder Mensch, der von unten nach oben guckt, sofort auffällt. Denn dieser Blickwinkel ist eben nicht der gewöhnliche. Auch für das Filmemachen sind diese Fragen der Perspektive grundlegend.

Durch die digitale Kameratechnik, die längst Alltag beim Filmemachen ist, ob das Freunden des 35mm-Films nun passt, oder auch nicht, ist es wesentlich leichter geworden unterschiedlichste Sichtweisen zu realisieren, und mit diesen zu erzählen. Dies hat sich auch und gerade die Kunst zu eigen gemacht. Der kanadische bildende Künstler Mark Lewis, Professor an der Central Saint Martins Kunsthochschule in London, legt mit INVENTION einen beeindruckenden Beweis dafür vor, welch kraftvolle, fesselnde Bilder sich mit den Mitteln digitaler Kameratechnik entwickeln lassen.

INVENTION ist Teil einer größeren Serie von Werken, in denen Lewis Städte bzw. Stadträume in den Fokus seiner Arbeit nimmt. In diesem Fall sind es Toronto, Paris und Sao Paulo. Nüchtern betrachtet passiert in diesem Film fast nichts, und das Wenige geht auch noch weitestgehend still vonstatten. Die Einstiegssequenz gibt das Tempo vor: Sanft schwebt die Kamera durch einen diffus beleuchteten Raum, der sich Stück für Stück als Museumsraum herausstellt, und auf eine liegende weibliche Statue zu, die in fahlem grauweißen Licht ausgeleuchtet ist.

Die Kamera umrundet die Statue, lässt uns die glatte Struktur ihrer Oberfläche studieren und die Rundungen, die Verzierungen, das Gesicht. Mehrere Runden lang gleiten wir sachte um diese Venus, immer wieder stellen sich neue Entdeckungen ein, werden wir vertraut mit der Figur, wie sie dort friedlich auf ihrem Bett liegt, als ob sie träumen würde. Der einzige Schnitt der gesamten Sequenz ist der Wechsel zum nächsten Ort. Innenstadt. Gebäude, großer Platz, von Hochhäusern umgeben. Es ist Winter, Schnee liegt, die Sonne scheint, auf einer Schlittschuhbahn drehen Läufer ihre Runden. Auch hier setzt sich das Tempo der vorherigen Sequenz fort. Nur wandert unser Blick diesmal auf das Areal: Der Platz wird von modernen pavillonartigen Bauten dominiert, die dem ganzen eine Struktur verleihen. Jede Einstellung dauert mehrere Minuten an – bis zum nächsten Sequenzwechsel.

Ein Stadtpanorama, über den Dächern gefilmt. Ganz langsam schwenkt die Kamera, geht der Blick über das Panorama. Der Rauch aus einigen Schornsteinen verrät: Dieses Bild läuft rückwärts, obwohl es vorwärts zu laufen scheint. Der Schwenk endet vor einem Hochhaus, verweilt kurz und zoomt schließlich in eines der Fenster hinein, wortwörtlich. Die Kamera betritt den Raum, in dem eine Frau am Fenster steht und ein Buch in Händen hält. Wir gleiten um sie herum und blicken dann wieder hinaus. Wir verlassen den Raum nicht und sind doch wieder Teil des Außen. Menschen gehen durch die Straßen, Autos fahren, es schneit. Schließlich dreht sich die Kamera um ihrer eigene Achse – was oben und was unten ist, wird neu verhandelt. Aber eigentlich lief dieses Bild rückwärts. Oder doch nicht?

Was unterscheidet INVENTION von einer simplen optischen Spielerei? Vielleicht nicht viel und doch einiges, denn diese Kamera, sosehr sie auch in einem Raum verankert zu sein scheint, so wenig folgt sie einem, wenn man so will, natürlichen Raumgefühl. Sie entrückt unsere Wahrnehmung, nimmt sie gefangen, schickt uns auf einen visuellen Trip, der den (Stadt-)Raum schwebend durchdringt. Unsere Orientierung basiert auf Ordnung und Verortung, beides wird von Mark Lewis aufgehoben. Wir wandeln, schwerelosen Wesen gleich, und entdecken Blickwinkel und Details jenseits des normal erreichbaren – aus oben wird unten, aus unten oben, innen und außen korrespondieren miteinander. INVENTION ist eine Befreiung.

INVENTION | UK/CAN 2015 | Mark Lewis | 87′ | Forum expanded

Titelbild: (c) Mark Lewis/IFB 2016

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