Am 15. Juli 1974 war die 29-jährige TV-Journalistin und Nachrichtensprecherin Christine Chubbuck mit ihrem Morgenmagazin „Suncoast Digest“ des Lokalsenders Channel 40 in Sarasota, Florida live on air, als sie diesen Satz in eine Kamera sprach:
„In keeping with Channel 40’s policy of bringing you the latest in ‚blood and guts‘, and in living color, you are going to see another first – attempted suicide“
Anschließend zog sie einen Revolver aus ihrer Tasche, hielt ihn sich an den Hinterkopf und drückte ab. Sekundenbruchteile später brach der Sender die Livesendung ab. Christine Chubbuck starb 14 Stunden später im Krankenhaus. Auf dem Nachrichtenpult fand man ein blutverschmiertes Moderationsblatt, auf dem sie die Nachrichtenmeldung ihres „Selbstmordversuchs“ bereits in dritter Person handschriftlich notiert hatte. Der Sender veröffentlichte zum ihrem Tod schließlich eine nahezu wortgleiche Meldung. „The latest in ‚blood and guts'“ – Horrornachrichten also, wie die vom Selbstmord der Nachrichtensprecherin, die sich live im Fernsehen erschießt.
Trotzdem ist der Vorfall heute weitestgehend vergessen, genauso wie der Name Christine Chubbuck. Der Dokumentarfilmer Robert Greene versuchte zehn Jahre lang einen Zugang zur Erzählung der Geschichte von Chubbuck und ihrer Gewalttat zu finden, ohne dafür auf klassische dokumentarische Formen zurückgreifen und somit lediglich das Vorgefallene nacherzählen zu müssen. „How to wrap your head around this?“ – wie Greene es in einem Interview bezeichnete.
Über Christine Chubbuck ist jenseits eines Wikipedia-Artikels nicht mehr viel bekannt, mutmaßlich einer der Gründe für Robert Greenes Schwierigkeiten einen Ansatzpunkt für eine Dokumentation zu finden. Eher zufällig kam er auf die Idee, Dokumentarisches und Fiktionales zu mischen, schauspielerische Elemente in die dokumentarische Erzählung einzubetten. Für KATE PLAYS CHRISTINE engagierte er die Schauspielerin Kate Lyn Sheil, um mit ihr der Vorgeschichte Chubbucks und ihrer Tat selbst in einem fiktionalisierten Filmprojekt nachzuspüren. Greene dokumentiert zugleich, wie Kate Lyn Sheil ihre Rolle entwickelt und dafür auf Spurensuche geht.
„I feel that I put a lot of me into a character and that they stay with me for a long time.“
Jenen Satz gibt Kate Lyn Sheil an einem Punkt der Kamera zu Protokoll. Sie will ihren Job gut machen, sie will wissen, wer Christine Chubbuck war und was sie zu ihrer Tat getrieben hat. Allein: Sie hat fast kein Material zur Verfügung, mit dem sie arbeiten kann. Selbst Video- und Tonaufnahmen Chubbucks gibt es nicht. Damals wurden Nachrichtensendungen im Lokalfernsehen fast nie aufgezeichnet. Lediglich jene Sendung vom 15. Juli 1974 wurde mitgeschnitten, auf Wunsch von Christine Chubbuck. Der Verbleib der Aufzeichnung ist jedoch unklar. Das Tape gilt als verschollen.
Kate Lyn Sheil muss selber erkunden, wer diese Frau war, was sie womöglich gedacht hat und welche Begleitumstände sie bei ihrer Tat trieben. Die Schauspielerin begibt sich auf Spurensuche durch Sarasota, knapp 180 Kilometer südwestlich von Orlando, Florida, am Golf von Mexiko gelegen – heute eine mittelgroße Küstenstadt, die vor allem viele Urlauber anzieht. Dass sich im Lokalfernsehen Sarasotas der erste Live-Selbstmord der TV-Geschichte zutrug, ist dort heute weitgehend vergessen, wie das Gespräch mit einem Historiker der Ortsgeschichte zeigt.
„She looks so dark, so sad.“
Dies bemerkt eine alte Perückenmacherin über das Foto Chubbucks, als sich Kate eine Perücke entsprechend der Frisur von Christine Chubbuck anfertigen lässt. Es wird sich herausstellen, dass diese Frau, die in ihrem Leben unzählige Gesichter und Frisuren gesehen hat, mit ihrem Eindruck dem tatsächlichen Seelenzustand Christine Chubbucks sehr nahe kommt. Doch diese Bemerkung hilft Kate zunächst nur wenig, aber immerhin hat sie jetzt einen ersten Mosaikstein, um ihre Rolle auszufüllen. Weiter geht ihre Suche, sie denkt mit einem Nachrichtensprecher von heute über den Begriff des ‚blood and guts‘ nach und spricht mit einem klinischen Psychologen über grundsätzliche Fragen des Selbstmordes und was Menschen dazu treibt.
Christine Chubbuck selbst, so erfahren wir durch die Nachforschungen Kate Lyn Sheils, recherchierte bei der Polizei darüber, welches der effektivste Weg für einen Selbstmord sei – Antwort: Revolverschuss durch den Hinterkopf. Chubbucks Story darüber hat ihr Sender nie gebracht, wie so viele Geschichten der ehrgeizigen Journalistin durch den Chefredakteur abgelehnt und durch eher triviale Lokalmeldungen ersetzt wurden. Etwas, so lässt sich schlussfolgern, dass zu Chubbucks Frustration erheblich beigetragen haben muss.
Während Kates Recherchen dringt allmählich der fiktionale Teil des Projekts in die Zusammenarbeit zwischen Schauspielerin und Filmemacher ein. Kate beginnt, sich vor der Kamera in Situationen hinein zuversetzen, die Chubbuck durchlebt haben muss, etwa wenn sie im selben Waffengeschäft wie die Journalistin einen Revolver kauft. Die Kamera ist ihr dabei immer auf den Fersen. Gleichzeitig beginnen sie, den fiktionalen Film zu proben und erste Szenen zu drehen. Darüber hinaus erlaubt sie Robert Greene ihr dabei zuzuschauen, wie sie ihre inneren Monologe darüber führt, wer Chubbuck war und wie sie dies in ihrer Rolle anlegen kann.
Die Grenzen zwischen der Dokumentation und der Fiktion beginnen im gleichen Maße zu verschwimmen, wie die Konfliktlinien zwischen der Darstellerin und ihrem Regisseur deutlicher werden. Was wollen beide voneinander? Was will Robert Greene? Was verlangt dieses Projekt von den beiden, ohne das sie es bisher ahnten? Wie weit vermag die Darstellerin selbst für dieses Projekt zu gehen? Oder ist das ganze Projekt eine einzige Fiktion? Ein Spielfilm über eine Dokumentation über einen Spielfilm über den Tod Christine Chubbucks?
Und über allem stets die zentrale Frage: Was trieb Christine Chubbuck zu ihrer Tat, die sie, wie sich immer stärker herauskristallisiert, penibel geplant und nahezu eiskalt durchgeführt hat? Was ist die Wahrheit? Ab wann wird es sinnlos, dagewesenes noch nachstellen zu wollen, wenn die Fiktion die besseren Antworten auf schier unbeantwortbare Fragen bietet? Und warum sollte man den Selbstmord Christine Chubbucks tatsächlich re-inszenieren wollen? Welchen Sinn macht das? Und was ist eigentlich unsere Position, die Position der Zuschauer in diesem Film?
„Will you be able to pull the trigger?“
Kann Kate wirklich abdrücken? Eine Frage, gestellt von ehemaligen Kollegen Christine Chubbucks, die spät in der Erzählung auftauchen und mit ihren Berichten vom Tag des Selbstmordtat Kate dazu zwingen, ihre bisherige Arbeit ein weiteres Mal zu hinterfragen. Denn zu diesem Zeitpunkt geht es in diesem hochspannenden Traktat nicht mehr allein um Christine. Es geht um eine Schauspielerin in der Grenzzone des Darstellbaren. Und um das Verlangen von SchauspielerInnen, gesehen und erinnert zu werden. Etwas, dass Selbstmorde und Schauspielerei gemein haben.
Schließlich rückt für uns die Person hinter der Kamera in den Fokus, Robert Greene. Der Filmemacher, der seine Schauspielerin wie sich selbst in eine ganz eigene ‚blood and guts‘-Geschichte manövriert hat. Eine Horrorgeschichte über das Filmemachen. Eine Studie über Neugierde und Anteilnahme, über Sadismus und Schamlosigkeit. Aber ist dem wirklich so? Ist nicht vielleicht doch alles nur Fiktion? Ist Christine Chubbuck selbst nur ein Mythos, der sich in den wenigen Erinnerungen die es an sie gibt, gespensterhaft transformiert und die Welt des Faktischen verlassen hat? KATE PLAYS CHRISTINE provoziert unendlich viele Frage und beantwortet fast keine davon? Ist das ein Vorwurf? Nein, ganz im Gegenteil: Dieser Film ist ein stilles Meisterwerk.
KATE PLAYS CHRISTINE | USA 2016 | Robert Greene | 113′ | Forum
Titelbild: (c) Robert Greene/IFB 2016