vonmanuelschubert 06.11.2023

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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Zum Abschluss der Erkundungen im Programm des 18. Pornfilmfestivals Berlin 2023, ein Text über die faszinierende quasi direct-cinema-artige französische Arbeit FRIOUL. Eine Begegnung zweier Körper auf einer Inselgruppe vor Marseille und für ein – wenn man so will – sehr naturbelassenes BDSM-Spiel. Das 19. Pornfilmfestival Berlin findet vorausslichtlich vom 22. bis zum 27. Oktober 2024 statt.

Noch bis zum 14. Noveber 2023 lassen sich indes zahlreiche Arbeiten aus den Kurzfilmprogrammen des diesjährigen Festivals (darunter auch FRIOUL) beim unabhängigen und sexpositiven Streaming-Anbieter Pink Label aus San Francisco streamen. Der Streamingpass kostet umgerechnet 39 Euro und umfasst zusätzlich drei Langspielfilme aus dem Programm. Alle Details auf: https://pffb.pinklabel.tv


05. November 2023, 23:15 Uhr | Von Möven und BDSM

„It’s really erotic to run away like you do.“ – Im kollektiven schwulen Gedächtnis gibt es diese besonderen Urlaubs- oder vielmehr Sehnsuchtsorte. Meistens sind es Inseln – Florida Keys, Mykonos, Gran Canaria, Fire Island. Generationen von Männern bereisen diese Orte Jahr für Jahr auf der Suche nach Sonne, Strand, Meer – und natürlich Sex.

Diese schwulen Hotspots, jeder auf seine Weise landschaftlich faszinierend und unbedingt auch Rückzugsorte jenseits des heteronormativen Familien-Massentourismus, sind längst über den Kultstatus hinaus zu Legenden geworden und haben sich tief in das kollektive schwule Gedächtnis eingeschrieben, auch dank genauso legendärer Werke der schwulen Porno-Geschichte wie etwa BOYS IN THE SAND von Wakefield Poole, 1971 gedreht auf Fire Island.

Die kaum 15 Fährminuten von Marseilles Hafen entfernt gelegene Gruppe der Frioul-Inseln ist auf der weltweiten schwulen Reisekarte indes noch eine Unbekannte. Das Filmemacher-Duo Lazare Lazarus und Antoine Vazquez könnte mit seiner Arbeit FRIOUL nun allerdings den Grundstein dafür gelegt haben, dass die Frioul-Inseln fortan nicht mehr nur Anziehungspunkt für Taucher und Vogelkundler sind, wie sie die Tourismuswerbung der Stadt Marseille anpreist.

BDSM

In FRIOUL – präsentiert im Pornfilmfestival-Programm „Outdoor Pleasure Pain Shorts“ – begleiten wir zwei Männer bei Tagestrips auf das Archipel. Es beginnt, wie uns ein kurzer Pretext wissen lässt, im April und auf der Fähre. Wir sehen die schroffen, windzerzausten Klippen der Inseln, die wie eine Art Schutzschild gegen die Gezeiten vor Marseilles liegen. Und wir sehen die beiden jungen Männer. Einer eher Typ Normalo, der andere eher Punk mit schwarzem Rauschebart (Filmemacher Lazare Lazarus selbst). Optisch ein ungewöhnliches Paar.

Ob sie tatsächlich ein Paar sind, oder nicht, ist an dieser Stelle zweitrangig. Viel deutlicher wird im Verlauf der 33 Minuten Spielzeit von FRIOUL werden, dass die beiden auf einer anderen Ebene eine sehr enge Verbindung teilen: BDSM.

Im Kontext eines Festivals wie dem Pornfilmfestival, begegnen einem BDSM-basierte Performances üblicherweise in eher gänzlich auf Privatheit angelegten Umgebungen. Klar, es gibt viele BDSM-Performances unter freiem Himmel, wie sie etwa in den Arbeiten der überraschend reizlosen Kurzfilmreihe „Eco Porn Shorts“ des diesjährigen Pornfilmfestivals zu sehen waren. Doch die Möglichkeit von Öffentlichkeit wird in diesen Arbeiten zumeist ausgeschlossen und auch die Natur selbst ist selten mehr als ein Kulissengeber – Staffage für die Simulation sexueller Erregung zwischen Baum und Borke.

Nähe und Authentizität

Auf den Frioul-Inseln gibt es so gut wie keine Privatsphäre. Die Inseln sind mit 200 Hektar Gesamtfläche nicht gerade groß, sie sind karg, kaum ein Baum wächst hier, und sie sind obendrein ein beliebtes Ausflugsziel. Von den Unmengen an Möwen ganz zu schweigen, die im Frühling auf dem Archipel nisten.

Gleichwohl: Wie sich in den Bildern von FRIOUL schnell zeigt, wirkt die Anwesenheit von Dritten auf die Erregung unseres Paares eher förderlich, auch wenn sie sich zunächst viel Mühe geben, die vor Erwartung und Geilheit deutlich vernehmbaren Beulen in ihren kurzen Shorts vor den vorbeilaufenden Passanten zu verbergen. Als Zuschauer indes, sind wir hier längst gefangen von dieser Arbeit, denn die wohlige Anspannung der beiden Protagonisten überträgt sich in Windeseile auch auf uns.

Eine enorme Nähe und Authentizität vermittelt sich durch die Formsprache, die Antoine Vazquez und Lazare Lazarus für FRIOUL finden. Wenn man so will, ist das hier eine ganz eigene Form von pornografischem Bewegtbild, vielleicht eine Art Direct-Cinema-Porn. Die Kamera folgt den Subjekten aufmerksam, ist interessierte Beobachterin, lässt aber zugleich Raum. Das Ausagieren exploitativer Aufsässigkeit gewöhnlicher Pornobilder wird man in FRIOUL nicht finden.

Mohnblumen und Pisse

Vielmehr baut sich hier ein ungemein intimer Rahmen um das Paar herum auf, welches die Intensität der Interaktion derweil stetig steigert: Impact-Play, Breath-Play – dieses Duo tauscht seine Zärtlichkeiten handfest aus. Antoine Vazquez verschafft mit der Kamera dabei so etwas wie Geborgenheit und, ja, vielleicht auch Versicherung, wenn Lazarus als Top immer wieder den Blick zur Kamera und zu Vazquez hinter der Kamera sucht.

Die anderen Besucher, der Wind, die Sonne – zur Mixtur der Einflüsse, die auf die BDSM-Session von Lazare Lazarus und seinem Bottom wirken, zählt unbedingt auch Flora und Fauna der Inseln. Eine Wiese voller Mohnblumen bildet hier schon mal die perfekte Bühne für Stamping und Pisse-Spiele. Erst recht, wenn man Mohnblumenblüten auf dem frisch bepissten Gesicht verreiben kann. Auf der Tonspur veranstalten die Möwen derweil ihr Spektakel, wenn sie nicht sogar die volle Aufmerksamkeit der Kamera auf sich ziehen. Langer Schnitt nach Schwarz.

Natur und Naturmaterialien sind im Werk von Lazare Lazarus, der auch als bildender Künstler arbeitet, ein häufiges Sujet. Vor allem die Auseinandersetzung mit der aus den USA stammenden Agave americana durchzieht sein Werk, eine invasive Pflanzenart, die rund um Marseille hervorragende Bedingungen vorfindet und die vorhandene Flora zunehmend kolonisiert. Eine prägnante, raumgreifende Pflanze mit dicken Blättern, die nur ein einziges Mal und mittels eines sehr langen fast baumartigen Triebs zur Blüte kommt. Natürlich auch auf den Frioul-Inseln.

Striemen

September. Der zweite Teil von FRIOUL beginnt erneut auf der Fähre und mit unserem Paar. Kaum auf der Insel angekommen, verrät uns ihr Gespräch, dass sie sich seit April nicht mehr gesehen haben. Warum bleibt unklar, aber der Bottom macht deutlich, dass ihm die Begegnung im April mehr als nur gefallen hat. So gewinnt das Spiel wieder an Fahrt.

Die Insel hat sich derweil verändert, die blühenden Wiesen sind verschwunden, die Sonne wirkt etwas kühler, der Wind stärker, die Möwen, nun ohne Gelege, weniger aufgeregt. Passend irgendwie zum Spiel unseres Duos, das nun fokussierter und aber auch härter wird. In geradezu betörend fließenden Bewegungen, lässt Lazare Lazarus dabei seinem Bottom Qualen zuteil werden. Zunächst handfest, bis schließlich ein schmaler harter Zweig zum Einsatz kommt und den Arsch mit beachtliche Striemen zeichnet.

Zum Trost gibt es dafür – nein, keine Küsse, nicht in dieser Session, jedenfalls nicht für 12 Hiebe auf den Arsch. Lazare Lazarus versteht es beeindruckend zärtlich und zugleich effektiv, seinen Bottom zu quälen: „It’s really erotic to run away like you do,“ sagt der nur noch und beobachtet schließlich gebannt, wie Lazarus plötzlich anfängt Steine zu sammeln. Das Spiel dieser beiden Körper, auf einer windzerzausten Insel und mit Marseille als Kulisse im Hintergrund ist da noch lange nicht zu Ende. Was für ein faszinierender Trip von einem Film.

FRIOUL, Antoine Vazquez & Lazare Lazarus, FR 2023, 33′, Porn/Doc.

(c) Bilder: Antoine Vazquez, Lazare Lazarus/PFFB 2023

PS: Die Arbeiten von Lazare Lazarus finden sich auch auf lazarelazarus.bigcartel.com

 


01. November 2023, 22:49 Uhr | Naked Israel

Es kommt gelegentlich vor, dass dokumentarische Filme plötzlich und unerwartet von der Realität eingeholt werden. Hervorragende dokumentarische Arbeiten zeigen gerade in solchen Momenten ihre Stärke und liefern selbst unter den neuen Gegebenheiten einen interessanten Blickwinkel oder einen wichtigen Akzent, um das Geschehen zu interpretieren.

Doch mit welcher unglaublichen Brutalität die Realität am 7. Oktober 2023 zuschlug und den Blick auf den Beitrag im Programm des Pornfilmfestivals 2023 und das neueste Werk der Filmemacherin und Videokünstlerin Ines Moldavsky für immer veränderte, war in keiner Weise vorhersehbar: NAKED ISRAEL.

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Das Konzept, sowohl inhaltlich als auch visuell, ist hier vergleichsweise simpel: Ines Moldavsky platziert ihre Protagonisten vor der Kamera, stellt ihnen Fragen aus dem Hintergrund, die von den Menschen vor der Kamera (mitunter) beantwortet werden, und so entsteht ein Gespräch.

Männer vs. Gesellschaft

Allerdings: Die Protagonisten sitzen nicht einfach so vor der Kamera; sie sind vollkommen nackt. Wir kennen ihre Namen und Hintergründe nicht, höchstens können wir uns im Verlauf des Films im Kopf eine kleine Liste erstellen und Gesichter wie Körper Nummern zuordnen – 1, 2, 3, 4 …

Ines Moldavsky stellt keineswegs beliebige Fragen – sie forscht nach dem Verhältnis der Männer zu ihrem Körper, ihrer Identität, ihrer Sexualität, ihrer gesellschaftlichen Selbstverortung und ihren gesellschaftspolitischen Ansichten.

Im Verlauf der Arbeit entsteht so ein äußerst vielfältiges Bild introspektiver Betrachtungen der Männer, unabhängig von ihrer Körperform und Altersgruppe. Dies war zumindest bei Ines Moldavskys vorherigem Werk NAKED AMERICA der Fall, welches auf dem Pornfilmfestival Berlin 2022 gezeigt wurde. In NAKED ISRAEL jedoch sieht die Situation bedeutend anders aus.

Tinder in Palästina

Das Verhältnis von Männern und Frauen in Israel und Palästina, insbesondere die Beziehung der Männer zur Gesellschaft, in der sie leben, ist ein wiederkehrendes Thema in Moldavskys Werk. Neben den bereits erwähnten Arbeiten ist hierbei auch THE MAN BEHIND THE WALL hervorzuheben, ein 28-minütiger dokumentarischer Kurzfilm, in dem Moldavsky Männer datet, die in ihrer Nähe auf Tinder angezeigt werden. Doch diese Männer sind nur scheinbar nah, da sie auf der anderen Seite der israelischen Mauer im Westjordanland leben. 2018 erhielt Moldavsky für diese Arbeit den Goldenen Bären als besten Kurzfilm auf der Berlinale.

Denken wir für einen Moment über die Form nach, die Moldavsky in der NAKED-Serie entwickelt: Talking-Heads-Dokumentationen, bei denen nur sprechende Köpfe vor der Kamera zu sehen sind, gehören zu den am häufigsten verwendeten und visuell reizlosesten Stilformen in der Dokumentarfilmgestaltung. Doch NAKED ISRAEL und NAKED AMERICA strahlen eine immense Anziehungskraft aus und ziehen ihr Publikum mühelos in ihren Bann. Was macht Moldavskys Darstellungsweise so kraftvoll?

Zunächst ist natürlich der offensichtliche Umstand, dass die Männer nackt vor der Kamera sitzen. Wir haben Zeit, ihre Körper zu studieren. Was verraten uns diese Körper? Welche Lebensumstände haben auf sie gewirkt und sie geformt? Keiner dieser Körper wirkt beispielsweise besonders fit; selbst die etwas jüngeren Männer wirken etwas aufgedunsen. Unsere Ernährung beeinflusst zweifellos unsere Körper, logisch. Aber was beeinflusst wiederum unsere Ernährung?

Der Körper als eigene Erzähler

Diese Körper geben uns jedoch noch weitere Auskünfte: Es sind die Gesten, die Körperhaltung, wie nervös oder ruhig die Beine sich bewegen. Wie die Männer mit der Tatsache umgehen, dass ihr Penis genauso sichtbar ist wie ihre Füße oder ihr Kopf. Und nicht zuletzt, wie viel Zeit die Männer manchmal benötigen, um auf Ines Moldavskys Fragen zu antworten.

Im Gegensatz zu NAKED AMERICA, wo Moldavsky die hermetische Trennung zwischen dem befragten Subjekt vor und dem fragenden Subjekt hinter der Kamera durchbrach, selbst nackt vor die Kamera trat und die Protagonisten ermutigte, eigene Fragen an sie zu richten, bleibt die Filmemacherin dieses Mal hinter der Kamera.

Dafür fügt sie ihren Bildern eine weitere visuelle Komponente hinzu: Die Männer sitzen nicht mehr vor einem neutralen schwarzen Hintergrund, sondern in einer individuellen Umgebung. Mal ist es ihr Wohnzimmer, mal ein Stadtpark, mal ein Dach auf einem Haus in der Stadt, dann wieder ein Strand oder ein Flussufer.

Der Körper als Verräter des Subjekts

Die Körper, das Gesagte und die Umgebung treten in eine Art Wechselwirkung miteinander und zeichnen dabei ein äußerst nuanciertes Bild.

Beispielsweise, wenn einer der Protagonisten auf dem Dach eines Wohnhauses sitzt, ein Weinglas in der Hand hält und über die Kriegsverbrechen berichtet, die ihm befohlen wurden – die Erschießung wehrloser palästinensischer Zivilisten zum Schutz der eigenen Truppe.

Während er erzählt, klingt seine Stimme ruhig, fast cool, doch sein Körper verrät ihn: Nervöse Bewegungen sind erkennbar bei diesem mittelalten Mann mit grauen lockigen Haaren. Seine Beine wissen nicht wohin mit sich, seine Hand klammert sich förmlich an das kleine Weinglas, und er schenkt sich mehrmals Weißwein nach.

Der Rückzug auf den Befehlsnotstand ist eine sich wiederholende Erzählung in den Berichten der Männer. Natürlich sind uns solche Aussagen bekannt, sie sind bei allen Armeen im Kampfeinsatz verbeitet. Meistens ist es nichts weniger als der zum Scheitern verurteilte Versuch der Verteidigung des Subjekts vor dem Eingeständnis der eigenen Schuld am Tod eines Unschuldigen.

Armee eines Rechtsstaats?

Doch wie wir in NAKED ISRAEL bald erkennen, ist die Situation in der IDF komplexer. Hier werden Soldaten offenbar systematisch psychisch manipuliert und unter Druck gesetzt, keinen Gefühlsausdruck zu zeigen und abzudrücken – schließlich, so die scheinbar äußerst wirkungsvolle Erzählung, könnten sie andernfalls schuld am Untergang ihrer eigenen Kameraden sein. Die Wirkmächtigkeit dieser Erzählung ist der eigentliche Knackpunkt.

Je mehr man über die Abgründe und Gräuel erfährt, die diese Männer während ihrer Dienstzeit erlebt und teilweise selbst verursacht haben – willkürliche Erschießungen und Festnahmen von Zivilisten, Misshandlungen, Suizide in der Truppe usw. –, desto größer wird die Frage, wie so etwas überhaupt möglich sein kann und in welchem Zustand sich der Militärapparat IDF als Ganzes befindet. Immerhin handelt es sich um die Armee eines demokratischen Rechtsstaats.

NAKED ISRAEL nimmt diese Fragen nicht explizit auf. Schließlich werden hier keine aktiven Militärangehörigen, keine Befehlshabenden und auch keine Politiker:innen befragt, sondern ehemalige Soldaten. Aber zwischen den Zeilen gelingt es Ines Maldovsky, das komplexe Verhältnis zwischen der israelischen Gesellschaft und ihrer Armee klug herauszuarbeiten.

Toxische Symbiose

Israel, als Nation, geboren mit der Shoa im Rücken und dem Ziel vor Augen, einen Ort auf Erden zu schaffen, an dem Juden nie wieder um ihrer selbst willen in ihrer Existenz bedroht werden, entstand gegen den Widerstand derer, die auf dem Boden des heutigen Staatsgebiets lebten. Ein Staat also, der von Tag Eins an unter dem Eindruck akuter Existenzbedrohung handelte und bis heute handelt.

Die Symbiose zwischen IDF und israelischer Gesellschaft – sie muss wohl als toxisch beschrieben werden: Israels Gesellschaft wäre ohne das Militär sofort in akuter Lebensgefahr. Der Militärapparat kann seinerseits nicht existieren, ohne jene Gesellschaft, die ihm Jahr für Jahr neue Wehrdienstpflichtige zuführt.

Jahr für Jahr formt dieser Apparat vordergründig Soldaten und Beschützer, schafft jedoch dabei genauso eine Armee von seelischen Krüppeln, die nicht selten unsägliche Schuld auf sich laden oder mindest einen Selbstmordversuch mit der eigenen Waffe verzeichnen können. „Every Nation needs an Army, but the question is, what the IDF is doing,“ gibt einer der Protagonisten fragend zu Protokoll.

Ein hoher Preis

Ein düsteres Abhängigkeitsverhältnis, das selbst diejenigen deformiert, die nicht gedient haben, weil sie aus gesundheitlichen oder religiösen Gründen nicht zum Dienst an der Waffe zugelassen waren. Und jene, die zwar gedient haben, aber nicht kämpfen durften, empfinden dies als Schande und tragen es als Bürde zeitlebens: „I killed no one, fortunately – but we also never fought.“

Die psychischen Dynamiken, die Ines Moldavsky in NAKED ISRAEL herausfiltert, sie sind atemberaubend und niederschmetternd.

Doch die Sicherheit, die sich Israels Gesellschaft mit diesem Militärapparat erkauft, hat einen immens hohen Preis – nicht nur im Bezug auf die palästinensischen Nachbarn. Im medizinischen Vokabular verkürzt sich dieser Preis auf vier Buchstaben – PTSD, oder auf Deutsch, die posttraumatische Belastungsstörung. In der Realität bedeutet diese Krankheit schwere psychische Ausnahmezustände für ehemalige Soldat:innen, (häusliche) Gewalt, Suchtmittelmissbrauch und nicht selten Arbeitsunfähigkeit.

Jenseits der Militär-PR

Ohne den 7. Oktober 2023 wäre NAKED ISRAEL ein idealer Ansatzpunkt gewesen, um eine (nicht nur) inner-israelische Debatte über eine Reform der IDF in Bewegung zu bringen. Doch davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Nicht nach dem Pogrom der Schlächter aus Gaza.

Wieder berichten uns die Nachrichten nun auf allen Kanälen, wie israelische Soldaten in Gaza, im Westjordanland und im Libanon im Kampf stehen. Dank Ines Moldavskys NAKED ISRAEL haben wir jetzt jedoch – jenseits der Militär-PR – eine sehr konkrete Vorstellung davon, was das für die jeweiligen Menschen an der Front und in Uniform bedeutet – und ausdrücklich nicht nur für sie.

Das Perverse an dieser Situation ist: Unter lauter miserablen Optionen stellt der Einsatz der IDF jetzt die am wenigsten schreckliche Wahl dar. Doch dieser Krieg wird Israels Gesellschaft, wie alle Kriege und Scharmützel Israels zuvor, teuer zu stehen kommen.

NAKED ISRAEL, Ines Moldavsky, IL 2022, 66′, Dok.

(c) Bilder: Ines Maldovsky/PFFB 2023

Note: The Englisch Version of this text can be found on my Substack for free


30. Oktober, 20:03 Uhr | Teil Zwei

Der erste Teil des Pornfilmfestivals, die Kino-Ausgabe, endete am Sonntagabend mit der Vergabe des Hauptpreises an den französischen Kurzfilm WRONG HOLES ONLY von June Fontaine und Revenge. WRONG HOLES ONLY verfolgt mit einem geradezu zärtlichen Auge, großer Intimität und Wärme eine lesbische BDSM-Session, die in ihrer Drastik wenig zu wünschen übrig lässt und gleichzeitig durch die intensive Nähe und den schier grenzenlosen Spaß der beiden Performerinnen fasziniert. WRONG HOLES ONLY ist ein passender Gewinner, der einen starken Jahrgang des Wettbewerbs beim Pornfilmfestival 2023 repräsentiert.

Seit heute läuft nun der zweite Teil des Festivals im Stream. Noch bis einschließlich 14. November 2023 präsentiert das Festival viele Teile seines Kurzfilmprogramms sowie drei Langspielfilme beim unabhängigen pornografischen Streaminganbieter Pink Label aus San Francisco (die restriktive Jugendschutzgesetzgebung hierzulande verhindert ein eigenständiges Streamingangebot des Festivals).

Der Film zur Zeit

Die Verbindung zu Pink Label ist keine zufällige. Pink-Label-Gründerin Shine Louise Houston kam auf die Idee zur Plattform bei Besuchen auf dem Berliner Pornfilmfestival, wo sie selbst Arbeiten präsentierte. Im Jahr 2012 ging die Webseite online und ermöglicht seither unabhängigen, sexpositiven Filmemacher:innen, ihre Arbeiten einem weltweiten Publikum zugänglich zu machen, auch weil Pink Label den Großteil der Einnahmen direkt an die Filmemacher:innen weiterleitet. So entsteht eine Form des fairen Pornos.

In diesen komplexen Zeiten fällt unter den Langspielfilmen im Angebot besonders ein Film auf: NAKED ISRAEL. Es handelt sich um eine dokumentarische Arbeit der argentinisch-israelischen Filmemacherin Ines Moldavsky. Konzeptuell ähnlich dem Vorgänger NAKED AMERIKA fordert sie nun gewöhnliche israelische Männer auf, nackt vor die Kamera zu treten, um sie über ihren Lebensalltag und vor allem das Erleben ihres Mannseins in der Gesellschaft zu befragen.

Während der US-amerikanische Vorgänger aufgrund der Berichte der Männer eine breite Palette von Themen berührte, drehen sich die Gespräche in NAKED ISRAEL nahezu immer um denselben Punkt: die Erfahrungen der Männer als Soldaten in der israelischen Armee (IDF) und wie diese ihre Leben für immer verändert haben, genauer gesagt, zerstört haben. Es wird in diesen Tagen kaum eine filmische Arbeit geben, die besser und unmissverständlicher verdeutlicht, was jene Menschen durchmachen, die in der Uniform der IDF aktuell nach Gaza beordert werden, und welche Konsequenzen ihre Erlebnisse vor Ort (nicht nur) für Israels Gesellschaft der Zukunft sehr wahrscheinlich haben werden.

Faszinierende Filmreihen

Das Kurzfilmprogramm bietet nicht nur den Gewinnerfilm des diesjährigen Wettbewerbs, sondern auch die Arbeiten einiger faszinierender Sonderfilmreihen. Dazu gehört „Touring the Chilean Body“, eine Retrospektive (post-)pornografischer Arbeiten aus Chile zwischen 2008 und 2022, kuratiert von den Macher:innen des noch jungen (Porn-)Filmfestivals Excéntrico in Santiago. Ebenso sind beide mittellangen Arbeiten der „Outdoor Pleasure Pain Shorts“ zu sehen – LIKE IT BELONGS und den äußerst faszinierenden französischen doku-pornografischen Film FRIOUL.

Der Festivalpass für den digitalen Festivaljahrgang 2023 kostet umgerechnet etwa 39 Euro: https://pffb.pinklabel.tv


28. Oktober 2023, 23:15 Uhr | Körper unter Druck

Gesellschaften aller Couleur neigen dazu, sich tief in die Körper ihrer Mitglieder einzuschreiben, ob diese es wollen oder nicht. Blicke werden normiert, Schönheitsideale formuliert, Geschlechterrollen ausgeformt, Verhaltenscodes standardisiert und Tabus etabliert.

Wenn Körper diese nicht selten ungeschriebenen Regeln verletzen, entstehen Spannungen und Ausgrenzung, nur wenigen ist es vergönnt, das Leben außerhalb der Grenzen des Statthaften als etwas Positives auszuleben.

Die Kurzfilmrolle „Body Politics Short“ des Pornfilmfestivals Berlin 2023 präsentierte aktuelle filmische Positionen zu akuten und länger schon schwelenden Konflikten um Körper und wie Gesellschaften und Communitys diese als nicht passend definieren.

Aktuelle Trans*-Positionen aus Polen

Eine aktuell geradezu virulente Streitfrage wird bekanntlich über und anhand von Trans*-Körpern ausgefochten und wie diesen das Recht auf Entstehung und Existenz eingeräumt wird, respektive wie diese sich ihre Existenzberechtigung und Akzeptanz zumeist gegen den Widerstand der binären und cis-geschlechtlichen Mehrheitsgesellschaft erkämpfen.

Gleich zwei Positionen aus Polen bieten dazu Annäherungen: In 3SOME COLLAGE der Gruppe „No Pic No Chat“ werden wir ohne viel Federlesen in das Körperknäuel eines schwulen Dreiers geworfen. Wir sehen kaum ihre Gesichter, dafür ihre Körper umso mehr und eng ineinander verschlungen. Doch nur zwei der drei als männlich lesbaren Körper, die es sich dort gegenseitig besorgen, haben einen Penis.

In einer Community, die von popkulturellen bis zu Begehrensfragen nahezu alles hermetisch um den Penis herum aufbaut, sind männlich zu lesende Körper ohne Penis Außenseiter mit einem schweren Stand. Ablehnung und Vorurteile begegnen ihnen sobald sie auch nur eine x-beliebige schwule Dating-App öffnen oder gar einen schwulen Club oder eine Sauna besuchen.

Der penis-freie Mann

Die Penisträger in dieser visuell recht verspielt angelegten Arbeit spiegeln dies exemplarisch: Immer wieder entfahren ihnen zwischendurch kleine Kommentare, die ihre Überraschung über die Performancefähigkeit und Geilheit des penisfreien Männerkörpers bezeugen. Der penisfreie Mann lässt sich davon zum Glück weder beirren noch die Geilheit ruinieren.

Akzeptanz für Trans*-Körper, so könnte mensch diese Arbeit apostrophieren, lässt sich sehr wahrscheinlich nicht in Kommentarspalten sozialer Netzwerke erkämpfen, sondern eher schon zwischen den Laken. Und wer einen Strap-On mit einem zünftigen Dildo zur Hand hat, wird halbsteife Durchschnittspenisse sowieso recht schnell links liegen lassen. Denn am Ende geht es bei schwulem Sex nie allein um den Penis.

Die Penisfrage beschäftigt derweil auch Edmund Krempiński und Jakub Dylewski in ihrer Arbeit SKRAJ. Der 18-minütige Kurzspielfilm erzählt uns die Geschichte eines Mannes, der von der allgegenwärtigen Penishörigkeit (einer patriarchal durchwirkten Gesellschaft) nahezu verfolgt wird.

Kieselstein im Auge

Es beginnt jedoch zunächst mit mystischer christlicher Symbolik: Eine Gruppe Flaggelanten betritt bei Tageslicht einen Stadtplatz und peitscht sich scheinbar die Rücken blutig. Im nächsten Bild liegen sie auf dem Boden eines Kathedralen-artigen Gebäudes im Kreis, zwischen ihnen dreht sich eine Flasche.

Die Flasche bleibt vor einem der Männer liegen, er öffnet seine Augen darin faszinierend blaue Pupillen. Er wird von den anderen Männern aufgehoben und an ein Andreaskreuz gefesselt. Anschließend wird ihm ein Kieselstein in eines seiner Augen gelegt – Schnitt.

Der Mann sitzt in einem artifiziell hergerichteten Zimmer mit grünen Wänden und einer Couch. Vor ihm liegen alte Hanteln, und eine Sportmatte, er trainiert kräftigt, hört auf, setzt sich verschwitzt zurück auf die Couch, schiebt langsam die Hand in seine Trainingshose – doch er wird von etwas gestört: Heterosexuelle Fickgeräusche. Er versucht es zu ignorieren, doch plötzlich sind die grünen Wände komplett mit Penissen vollgemalt, und vor dem Fenster ficken Eintagsfliegen. Wieder Schnitt.

An den Penis gekettet

Edmund Krempiński und Jakub Dylewski führen ihre Figur in dieser visuell ungemein opulenten, ausdrücklich schönen und mit Symbolen und Referenzen gesättigten Arbeit durch eine Tour-de-force, bei der erst allmählich klar wird – dieser Mann hat eine Vagina. Weshalb ihm die Penisträger, respektive die cis-geschlechtlichen Menschen alsbald das Leben zur Hölle machen und ihm sogar im Wortsinne den Penis ans Bein ketten.

Zum Glück führt ihn die Erzählung schließlich zu einer Art Magier oder Priester, der ihm das Tarot legt, ihn durch einen sexuellen Ritus von den Ketten des Penis befreit und in ein neues Sein führt.

Am Ende sehen wir ihn in seiner ganzen körperlichen Schönheit aus einer riesigen Auster entsteigen und einen Strand betreten. Nackt, frei und selbstbewusst steht er da, schimmert beinahe wie die zauberhafte Perle einer Auster. Und zur Erinnerung: Am Anfang jeder Perle steht ja ein Sandkorn oder ein Kieselstein.

Superwoman mit Narben

Gegen die Normen dessen, was als schön respektive als schöner Körper angesehen wird, kämpft Lilian Liquid in der sechsminütigen und komplett schwarzweiß gehaltenen Arbeit SCARS an. Ihr Körper, das sehen wir sofort, ist versehrt. Große Narben prägen eine ihrer Brüste und ihren Unterbauch.

Es beginnt mit einer kurzen Sequenz, bei der sie nackt, nur mit einem schwarzen Cape bekleidet durch eine (ikonische) Straßenunterführung in Berlin schreitet – stolz und aufrecht, wie eine Art Superwoman.

Umschnitt, sie läuft durch den Wald, lässt sich auf einem umgestürzten Baum nieder und beginnt, sich zu masturbieren. Das Sonnenlicht umschmeichelt die Szenerie. Die Sequenz dauert einen Moment, wir haben Zeit, ihren Körper genauer in Augenschein zu nehmen, wir sehen die Narben und wir erleben, wie sie sich mit einem kleinen Vibrator Lust bereitet. Wieder ein Schnitt – sie liegt auf einem Bett, Hände beginnen ihren Körper zu umspielen, eine sinnliche sexuelle Interaktion mit einem anderen (unversehrten) Frauenkörper nimmt ihren Lauf.

Narben stehen für Verletzungen – für Unfälle, für Krankheiten. In einer Gesellschaft wie der Deutschen, sind viele Krankheiten mit einer Art Tabu belegt. Krebs allen voran, eine Krankheit, die bei den meisten erkrankten Menschen operative Interventionen erfordert.

Gegen die Ausgrenzung

Bei Frauen betrifft dies häufig die Brust, aber auch Geburten per Kaiserschnitt hinterlassen meist große Narben auf dem Unterbauch. Körperregionen also, die sexuell aufgeladen werden können. Narben an diesen Stellen stören unsere auf Unversehrtheit getrimmten Blicke. Die vernarbten Körper werden aus dem Bund der begehrenswerten Körper quasi ausgestoßen.

Mit SCARS stellt Lilian Liquid dieser Ausgrenzung ein filmisches Stoppschild entgegen. Körper mit Narben, dies verdeutlicht SCARS sehr eindrucksvoll, sind Körper wie alle anderen auch, sie sind begehrend und begehrenswert. Wir sollten sie sehen – und (im Sinne des pornografischen Bewegtbildes) auch sehen können.

Der Teenager und die Kamera

Den eigenen Körper betrachten, ihn darstellen, erforschen, ja sogar durch eigene Bilder begehren – all das begann Rafael Rudolf schon als Jugendlicher.

Sein (weißer) Körper, zunächst der eines heranwachsenden Jungen und später eines erwachsenen Mannes, wird in der gleichermaßen rassistischen wie machistisch-patriarchalischen Gesellschaft Brasiliens, trotz eines gewissen, nennen wir es, Penisvorteils, nicht gerade wohlwollend betrachtet. Denn es ist der Körper eines schwulen Mannes.

In HOMEN DE VERDADE (co-produziert von Gustavo Vinagre) setzt sich Rudolf mittels Unmengen von selbstgefilmten Homevideos seines Teenager-Ichs wie seines erwachsenen, sexuell sehr aktiven Selbst mit dem eigenen Coming-of-Age und der Existenz als Mann jenseits der akzeptierten Normen von (heterosexueller) Männlichkeit auseinander.

Die Kamera, eine Vertraute

Doch zunächst sehen wir den ganz jungen Rafael, aufgenommen zusammen mit seiner Schwester Mitte der 90er Jahre. Ein Junge, noch ein Stück vor der Schwelle zum Teenager, etwas frech, etwas hibbelig, der kurz mal den Arsch blank zieht vor der Kamera in der Hand seiner Mutter, die danach erstmal das Aquarium im Wohnzimmer ins Bild nimmt.

Es folgt ein Teenager, der mit unbändiger Energie vor seiner Kamera posiert, der seinen eigenen Körper halb nackt und gänzlich nackt vor der Kamera ausprobiert, der unentwegt in die Kamera spricht, ihr Unmengen privatester Dinge anvertraut, die er sonst niemandem scheint anvertrauen zu können – seine Liebe zu Madonna, sein Interesse an Männern, seine Fantasien über schwulen Sex und das Tanzen als Go-go-Boy in einem Club. Schließlich werden die Kamerabilder – man bemerkt es nicht nur an ihrer Qualität – jünger, wir sehen einen erwachsenen jungen Mann, der sich fleißig dabei filmt, wie er von anderen Männern gefickt wird.

Kampf mit den Normen

Ein schwuler Körper wächst in einer Gesellschaft heran, die einen wie ihn bis heute kaum mehr als tolerieren kann. Die Kamera ist das Medium, um in dieser schwierigen Umgebung eine eigene Erzählung von Identität, von einer eigenen Form der Männlichkeit und Selbstbehauptung zu erarbeiten. Die Kamera als Freund, ja gar als Liebhaber, der die ersten tastenden Schritte hinein in die eigene Sexualität aufzeichnet.

HOMEN DE VERDADE ist eine Liebeserklärung an die Kamera als Gefährte des Subjekts im Kampf mit den Normen. Und das intime wie beeindruckende Dokument der Emanzipation eines Körpers – wider aller gesellschaftlichen Zuschreibungen und Barrieren. Wir müssen uns nehmen, was uns nicht gegeben wird.


27. Oktober 2023, 23:58 Uhr | Muttermilch, das Sperma des Busens

Als sehr schwuler Mann ist es für den Autor dieser Zeilen nicht ganz so einfach, einen Ansatzpunkt für das Sujet zu finden, welches das britische Porno-Kollektiv Four Chambers in seinem Beitrag zur Kurzfilmrolle „Fetish Porn Shorts“ des Berliner Pornfilmfestivals 2023 ausbreitet.

MAMAM heißt das Werk der Pornfilmfestival-Dauergäste Four Chambers, und es verhandelt nichts Geringeres als den Fetisch Muttermilch.

Eine der wohl bekanntesten Abbildungen in der christlichen Symbolik ist die brustgebende Jungfrau, die das Jesuskind nährt. Aber auch jenseits des Christentums hat die Mutter, die ihr Baby aus ihrer eigenen Brust füttert, etwas Archetypisches, fast Heiliges. Eine Sexualisierung dessen scheint weitgehend unvorstellbar und tabuisiert.

Das Glückshormon

Doch Fetisch wohnt naturgemäß eine transgressive Kraft inne, der Tabus im Regelfall nie standhalten – das gilt natürlich auch für Muttermilch. Die Fähigkeit zur Milchgabe, so lernen wir in dieser gleichermaßen pornografischen wie dokumentarischen Arbeit, ist jedoch nicht notwendigerweise von einer Schwangerschaft abhängig. Es ist ein biochemischer Prozess im Körper, hinter dem das Hormon Oxytocin steckt. Ein Hormon, das als eines der drei sogenannten Glückshormone bekannt ist und das Frau sich mit Tabletten sehr einfach künstlich zuführen kann.

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Entsprechend wundert es nicht, dass am Beginn von MAMAM auch eine kurze Sequenz steht, in der Pillendosen mit Tabletten gefüllt werden und zwei Tabletten auf der Zunge liegend im Mund verschwinden.

Das Zentrum dieser Arbeit bilden drei Performer:innen: zwei Frauen und ein Mann. Die Drei geben uns von Beginn an bis zum Schluss auf der Tonspur immer wieder Auskunft über ihr Erleben, ihre Wahrnehmung, ihre Gedanken zum Fetisch Muttermilch und dessen Realisierung. In Form eines Gesprächs reflektieren sie über die vielseitigen Implikationen – die biologischen Prozesse etwa, oder wie das Ausleben des Fetischs ihre Sexualität, ihre Körper und ihre Körperwahrnehmung verändert, ja bereichert.

Ästhetisch und sinnlich

Sie diskutieren die Bilder, die gesellschaftlichen Narrative und die Tabus rund um diesen Fetisch, aber ebenso emanzipatorische Fragen zur Rolle der Frau, ihres Körpers und zur Tabuisierung von Formen weiblicher Lust in allen Lebensstadien, also auch während und nach der Schwangerschaft.

Es sind ungemein faszinierende 24 Minuten, die Four Chambers hier auf die Leinwand bringt. Nicht allein ob des enorm facettenreichen thematischen Kosmos, der eröffnet wird. Wie in eigentlich allen ihren Arbeiten verstehen es Four Chambers, ihre Sujets auf sehr ästhetische und sinnliche Weise zu visualisieren. MAMAM ist hierfür vielleicht sogar ein Paradebeispiel.

Wir folgen den drei Performern, die auf einer großen, mit dunkel-rosé farbendem Latex bedeckten Couch und in einem ansonsten ortslosen Raum liegen. Das Licht ist hell, aber dabei leicht gedämpft, etwas Sphärisches umschmeichelt die Bilder. Geschmackvoll wäre hier ein weiteres passendes Adjektiv. Sie sind nicht gänzlich nackt. Zwei kurze, leichte Kleider, ein Paar weiße Pants.

Die weibliche Brust, ein Phallus

Er liegt zwischen den beiden Frauen, wirkt leicht entrückt, liebkost ihre Busen, ihre Nippel, umspielt mit seinen Händen ihre Vagina. Die Kamera folgt dem Spiel ungemein zärtlich, beinahe schwebend und durchaus spürbar – fasziniert. Die beiden Performerinnen umspielen mit ihren Busen sein Gesicht, seinen Mund, ab und zu gehen ihre Hände zu seiner Unterhose, in der sehr schnell ein deutlich erigierter Penis verharrt.

Doch um den Penis geht es hier – erstmal – nicht. Im Zentrum stehen die Brüste und was sie spenden. Dabei gibt es einige Möglichkeiten Muttermilch zu verteilen: Klar, man kann nuckeln und sie saugen. Aber viel mehr Spaß macht es, so zeigen diese Bilder, die Muttermilch selber munter abzuspritzen, überall im Gesicht und auf dem Körper zu verteilen. Die Nippel wie kleine Sprühköpfe eines Gartenschlauchs zu nutzen, oder die Brüste kräftig in den Mund des Mannes zu schieben – „feeding, not consuming a body.“ Sub oder Dom, sofern diese Kategorien hier überhaupt zum Tragen kommen, die Aufteilung ist klar.

Brüste, sie haben auch etwas Phallisches an sich, sie sind im Grunde eine ganz eigene Form von Penis, wie den Performerinnen während ihres Gesprächs auffällt. „The beauty of lactation – a form of ejaculation.“ Die Milch, sie ist eine eigene Art von Sperma. Und wie die Muttermilch, so ist ja auch Sperma ein Produkt komplexer biochemischer Prozesse, hinter denen Glückshormone stecken.

So absonderlich das alles nach den vorangegangenen Zeilen immer noch klingen mag, wer einmal das Gesicht des männlichen Performers mitten im Verlauf von MAMAM gesehen hat, versteht, welche immense Kraft diesem Fetisch innewohnt. Es ist ein Gesicht der puren Lust und des Glücks, der Erfüllung und der absoluten Friedlichkeit. Und kaum weniger glücklich und friedlich verlässt man als Zuschauer:in diese unvergleichliche Arbeit.

MAMAM, Four Chambers, GBR 2023, 24′ | Als Stream verfügbar auf afourchamberedheart.com

(c) Bilder: Four Chambers/PFFB 2023


27. Oktober 2023, 11.42 Uhr | Bitte immer schön krass

Das Netz kennt eine Regel, die als „Rule 34“ bekannt ist. Sie geht angeblich auf ein Meme zurück, das besagt, dass zu allem, was existiert, auch ein Porno existiert – „if it exists, there is Porn of it.“

Davon ausgehend, dass diese Regel niemals irrt, wie sollte man sich einen Porno über schlechte Kinofilme vorstellen?

Wären sie krass? Völlig überzeichnet? Verstörend? Lächerlich? Sie wären sicherlich darauf bedacht, die Autonomie ihrer Zuschauer:innen nicht ernst zu nehmen und im Idealfall manipulativ zu wirken, schließlich muss man den Widerstand in den Köpfen des Publikums irgendwie überwinden.

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Was uns die brasilianische Filmemacherin Julia Murat mit ihrem Spielfilm, der nach dieser Regel benannt ist – REGRA 34 – sagen möchte, erschließt sich selbst nach den üppigen 100 Minuten Laufzeit nicht. Dass über ihre Arbeit eine Pornoversion entsteht, ist sicherlich nicht die Absicht der Filmemacherin, auch wenn ein Porno über REGRA 34 wahrscheinlich in die Kategorie „Schlechte Pornos über schlechte Filme“ fallen würde.

Diese Neigung

Betrachtet man die Karriere von REGRA 34, könnte man kaum auf den Gedanken kommen, dass dieses Werk misslungen ist. Schon in der Projektphase war der Film beim Co-Production Market der Berlinale erfolgreich, und beim Filmfestival von Locarno 2022 sammelte die Arbeit sogar den Hauptpreis, den Goldenen Leoparden. Der Film stand im Programm des renommierten Festivals von Busan und natürlich auch beim Festival in Rio de Janeiro.

REGRA 34 führt uns ein in die Welt der jungen Staatsanwältin in Ausbildung, Simone. Sie ist eine Person of Color und arbeitet bei einer Staatsanwältin im Bereich häusliche Gewalt. Nachts posiert sie auf einem Webcamportal für fremde Menschen und deren Tokens.

Außerdem hat sie eine Neigung. Lassen Sie uns das Wort an dieser Stelle in all seiner Befremdlichkeit verwenden, denn Simones „Neigung“ vernutzt Filmemacherin Julia Murat in exakt derselben Befremdlichkeit.

Während ihrer Webcamsessions entdeckt Simone, dass sie auf Breathplay steht. Dies ist eine besonders spannende, wenn auch nicht gänzlich ungefährliche Spielart im BDSM-Bereich – besonders für Neulinge wie Simone. Sie ist von diesem Kink schnell gefesselt, ja geradezu besessen, und bereit, immer mehr und immer verantwortungslosere Risiken einzugehen. Natürlich, das Drehbuch will es so.

Narratives Schocken

REGRA 34 scheitert aufgrund des offensichtlichen Interesses von Filmemacherin Julia Murat an Drastik und an der größtmöglichen Kollision von Kontrasten. Sie knallt mit frappierender Kaltschnäuzigkeit äußerst komplexe Erzählstränge sowie thematische und politische Motive miteinander zu sammen. Es ist die Lust am narrativen Schock, die diesen Film so unangenehm macht.

Gerade erst bringt sich Simone halb um, und im nächsten Schnitt sitzt sie schon wieder im Hörsaal und nimmt an elaborierten Diskussionen über die (Un-)Möglichkeiten des Rechtsstaats in einer machistischen und zutiefst patriarchal geprägten Gesellschaft und einem Staat teil. Nur um nach einem weiteren waghalsigen Selbstversuch zusammen mit ihrer Staatsanwältin einer Frau gegenüber zu sitzen, die schwere psychische Gewalt erlitten hat und die sie versuchen davon zu überzeugen, dass ihr Mann Teil des Prozesses der Aufarbeitung werden muss, damit Heilung einkehren kann.

Einige atemberaubende Scharmützel später sitzt Simone vor ihrer Mentorin und erfährt, dass der Mann die Frau im Rausch ins Krankenhaus geprügelt hat, und sie nur aus purem Glück noch lebt.

Kein Spielraum fürs Publikum

Je länger der Film, desto krasser werden die erzählerischen Motive und filmischen Spiegelungen realer Krisen der brasilianischen Gesellschaft gegeneinander gecrasht. Es handelt sich um eine hochmanipulative und leider wohl sehr wirkungsvolle Art der Narration, die dem Publikum keinen Spielraum für eigene Denkbewegungen und Auseinandersetzungen lassen will.

Das Ganze wird garniert mit manch rassistischer Sexualisierung. Während die jungen Staatsanwält:innen gerade noch im Gericht über die Unterdrückung von People of Color in der brasilianischen Gegenwart diskutieren, hüpft Simones Kommilitone, ebenfalls eine Person of Color, in so gut wie allen Szenen, die in ihrer gemeinsamen WG spielen, halbnackt herum. Wenn der Darsteller dieser Figur Glück hat, darf er noch ein Hemd oder ein T-Shirt tragen, aber meistens sind es nur kurze Shorts oder Pants. Sein farbiger Körper wird zu einem sexualisierten Objekt.

REGRA 34 wirft Fragen auf. So real die in diesem Film angetippten Probleme der brasilianischen Gesellschaft sind, so sehr verstört der Umgang damit, respektive die darauf Bezug nehmende Zeichnung der Figuren und ihrer Entwicklung. Anders formuliert: Warum werden hier Kink einerseits und rassistische sowie patriarchale Gewalt andererseits auf diese absurde Weise gegeneinander in Stellung gebracht?

Beides hat nichts miteinander zu tun. Es handelt sich um eine völlig dysfunktionale Kombination – sofern man als Filmemacher:in nicht danach strebt, die eigene Geschichte mit drastischstem Effekt zu erzählen und dafür Kink rücksichtslos auszuschlachten. REGRA 34 ist ein weiteres starkes Beispiel dafür, wie problematisch das Verhältnis des Weltkinos zu Erörterungen der menschlichen Sexualität in all ihren Facetten ist.

REGRA 34, Julia Murat, BR 2022, 100′

(c) Bild: Esquina Filmes, Bubbles Project

 


26. Oktober 2023, 21.23 Uhr | Fuck your friends!

„… Are there going to be any other Black people there?” – Es ist im Kern diese Frage, die vier Freund:innen davon abhält, den geplanten Besuch einer sexpositiven Party doch wieder abzublasen. Sie haben einfach keine Lust, als schwarze Körper von weißen Blicken exotisiert und fetischisiert zu werden, „on display“ zu sein. Sie entscheiden sich stattdessen dafür, den Abend miteinander zu verbringen.

Schnell ist das Arsenal der Toys und Devotionalien auf der großen Wohnzimmercouch ausgebreitet, und es beginnt eine äußerst gut gelaunte Suche nach dem bevorzugten Spielzeug und Accessoire: „FUCK YOUR FRIENDS“, zu sehen in der Kurzfilmrolle „Queer Porn Shorts“ und eine Produktion des queeren Pornolabels Aorta Films, um Pornfilmfestival-Stammgast Mahx Capacity, entwickelt sich ohne viel Federlesen zu einer ungemein dynamischen und stets sehr ausgelassenen Orgie von vier Freund:innen.

Mahx Capacitys Arbeiten faszinieren immer wieder durch ihre Nähe und Intimität, das ist in FUCK YOUR FRIENDS nicht anders. Capacity setzt die Kamera eher als zurückhaltende und doch stets aufmerksame Beobachterin ein. Im Zentrum stehen die Performer:innen, die sich im Verlauf einer Performance nicht selten zu einem warmen Zentrum vereinen, und deren Körper – in ihrer mannigfaltigen Diversität – auf kaum zu beschreibende Weise in Lust zu schimmern scheinen, trotz, oder gerade weil es in den Filmen von Aorta Films zumeist eher härter und BDSM-basiert zur Sache geht.

Also, warum noch zu einer angeblich sexpositiven Party mit fragwürdigem Publikum gehen, wenn man Freund:innen hat, die genau verstehen, wie sie lustvolle Qualen hervorrufen können? „Fuck your Friends“ – das darf hier ausdrücklich als zur Nachahmung empfohlen verstanden werden.

(c) Bild: Aorta Films/PFFB 2023


26. Oktober 2023, 13:06 Uhr | Auster, Weck-Glas, Vagina

Essen und Erotik pflegen seit jeher eine sehr enge Verbindung. Dass Sex auch ein Lieferant für eine fehlende Zutat sein kann, zeigt die österreichische Filmemacherin Bea Blue in ihrer Arbeit TASTE OF YOU, einer Kollaboration mit dem Berliner Performance-Duo Toussik und Teil der Kurzfilmrolle „Female Panorama Shorts“.

Es beginnt wie eine reichlich abgedroschene Porno-Erzählung: ein Paar, eine Küche, Zutaten, Kochen. Das Essen könnte jetzt zur Nebensache werden, und die sexuelle Erzählung sogleich beginnen. Doch das Paar in dieser Küche hat ein Problem: Das Gericht mit frischer Auster, das sie zubereiten, will einfach nicht gelingen. Es scheint trotz mehrfachem Abschmecken immer noch eine Zutat, eine Geschmacksnuance zu fehlen.

Virtuos und furios

Die Professionalität der Speisenzubereitung, die wir hier zunächst verfolgen, erinnert eher an die Küche eines Sterne-Restaurants. Das wundert nicht, denn die beiden Performer von Toussik, Kitty und Uri, sind tatsächlich gelernte Köche und Gastronomen, wie sie im Filmgespräch nach dem Screening von TASTE OF YOU berichteten.

Auf der Suche nach dem fehlenden Element in ihrem Rezept bewegen sich die beiden dann doch weg vom Herd und zum Sex. Filmemacherin Bea Blue vertraut bei der Umsetzung der Sexsequenz ganz auf die Chemie zwischen ihren Performern und schafft so das Fundament für einige ungemein fesselnde und energiegeladene Minuten Pornografie, wie sie selbst auf einem lustgesättigten Festival wie dem Pornfilmfestival nicht allzu oft zu finden ist.

Toussik legen eine – man muss das einfach so beschreiben – rundheraus virtuose und furiose Session zwischen Herd und Anrichte hin, die die gesuchte Zutat gleich mehrfach liefert. Und nein, es geht nicht um Sperma, aber so in der Art. Warum sonst hält Urs seiner Partnerin kurz vor ihrem Orgasmus ein Weck-Glas vor die Vagina, wenn nicht, um die fehlende Zutat zu ernten?


25. Februar 2023, 22:05 Uhr | (Don’t) Kill me

„Look, you’re rock hard“

Für Rick beginnt und endet es im Park. New York, frühe 90er, der schwule Nachwuchsfotograf Rick zieht seine Bahnen durch den Central Park und die dortige Cruising-Area. „The Ramble“ heißt dieser Teil des Parks, ein bis heute weit über New York hinaus bekannter Cruising-Hotspot im südlichen Teil des Central Parks.

Rick (Guillermo Diaz) nähert sich dem Treiben als eine Art teilnehmender Beobachter. Er vermeidet es jedoch, direkten Körperkontakt zu den anderen Männern aufzunehmen. Er erlebt das Geschehen durch seinen Fotoapparat, eine Minolta, die er sich von seiner Chefin, einer exzentrischen Modefotografin, ausleiht.

Was genau er allerdings in seinen Bildern sucht und bezweckt, bleibt relativ unklar, obwohl wir seine Fotomotive sehen: Ein athletischer schwarzer Jogger im weißen Jockstrap, ein langhaariger junger Kerl im blauen Shirt, der sich von einem anderen Kerl ficken lässt, ein älterer Mann am Wegesrand, der die Waschbären im Park abgerichtet hat – ein blutüberströmter Typ, der heillos durch die Nacht torkelt und dann spurlos verschwindet. YOU CAN’T STAY HERE.

Wer lauert dort im Park?

Warum Rick die Kamera nutzt, um eine Distanz zwischen sich und den anderen Männern herzustellen, werden wir im Verlauf von YOU CAN’T STAY HERE noch lernen. Es hat mit seiner Vergangenheit zu tun und den Dämonen darin, denen er viel zu lange gehorcht hat, anstatt sich von ihnen zu befreien. Aber zunächst einmal gilt es, vor einer Razzia der Polizei zu flüchten: „Don’t run, they always look for the runners.“

Die Bullen sind jedoch nicht die einzige Gefahr, die in diesem Park lauert. Wo kam der blutüberströmte Mann her? Warum hängt dort ein blutverschmiertes T-Shirt im Baum? Was hat es mit dieser Blutlache am Waldboden auf sich? Etwas geht hier vor oder viel mehr um. Und Rick brennt alsbald dafür, diesem Etwas mit seiner Kamera auf die Spur zu kommen.

Ohne es zu wissen, begegnet Rick gleich zu Beginn des Films demjenigen, der für dieses Blutvergießen verantwortlich ist. Ein hochgewachsener, hagerer Typ in einem halbtransparenten dunklen Latexmantel geht im Park an ihm vorbei und hält ihm dabei eine Flasche Poppers hin. Rick ignoriert ihn, und das ist sein Glück. Vorerst.

Wider der Doktrin

YOU CAN’T STAY HERE ist der (mindestens) 28. Spielfilm des US-amerikanischen Filmemachers und Pornfilmfestival-Stammgasts Todd Verow. Er ist einer der vielleicht außergewöhnlichsten und sehenswertesten Filmemacher in den heutigen USA. Müsste man Schubladen bemühen, würde er wohl in der Schublade Independent oder Underground landen. Doch Verow passt eigentlich in keine Schublade. Seine Art des filmischen Erzählens hat eine sehr eigene und einzigartige Form, wie auch Kraft.

Man könnte die Art seiner Inszenierung als theatralisch umschreiben, als bühnenartig, nicht selten gar karikierend und dabei doch sehr klar und selbstbewusst ernst in der Form stehend. Schonungslos auf minimalste Mittel heruntergebrochen im Erzählen und Ausagieren. Dabei unbedingt explizit – nicht notwendigerweise jedoch im sexuellen Sinne. Besondere filmische Verkünstelung, das Kreieren von Welten, ist seine Sache nicht.

Die Filmwelten bei Todd Verow wirken abstrakt, improvisiert, skizzenhaft, manchmal kurios. Wenn man die Nähe zum Theater betonen wollte, käme am ehesten der Stil des Performance-Kollektivs „The Nature Theater Of Oklahoma“ (NTO) in den Sinn. Deren Co-Gründerin Kelly Copper beschrieb einst im Guardian ihre Herangehensweise ans Inszenieren mit den Worten: „You shouldn’t feel like you can just watch the actors as objects: it should be a more complicated relationship.“ Verows Filme ähneln in gewisser Weise den Performances (und Filmen) des NTO, jedoch sollten sie keinesfalls miteinander verwechselt werden. Sie sind Geschwister im Geiste. Beide eint der Stil ihrer Abkehr von (nicht nur) formalen Normen und Konventionen, die in ihren jeweiligen Bereichen als Doktrin wirken.

Kluger Beobachter

Das Offensichtliche, das scheinbar „inszenierte,“ als das zu betrachten, was es zu sein scheint, es zu vereinfachen und gering zu schätzen, wäre zu simpel und faul. In diesen Filmen steckt stets mehr, und unter der Oberfläche brodelt eine große Portion Ungemach, Abgründigkeit – und Trauma. Dabei zeichnet sich Todd Verow Film für Film als kluger Beobachter für queere und schwule Leben und Lebensrealitäten aus. YOU CAN’T STAY HERE bestätigt dies einmal mehr auf eindrucksvolle Weise.

Natürlich fängt er das Kribbeln und die besondere Spannung ein, die einen beim Cruising stets begleitet. Doch viel mehr arbeitet er heraus, wie Coming-of-Age für schwule Männer zum Trauma wird, wenn sie in homofeindlichen Familien aufwachsen müssen. Wenn die wichtigste Person im Leben eines Kindes, die Mutter, zugleich zur ärgsten Feindin wird, die einen auf ewig für das verfolgt und peinigt, was man im Kern ist.

Ein Trauma, das im Erwachsenenalter als Obsession wieder an die Oberfläche drängt und schließlich zur Psychose wird. Ein psychischer Ausnahmezustand, der wahnsinnige Selbstgefährdung mit sich bringt, vor allem wenn ein blutrünstiger Killer durch den Park streift.

BLOW UP

YOU CAN’T STAY HERE ist ein Genrestück, ein Thriller, lose basierend auf realen Geschehnissen im New York der frühen 90er Jahre. Rick, der Nachwuchsfotograf, steigert sich mehr und mehr hinein in seine Suche nach demjenigen, der im Central Park Männer meuchelt. Er entdeckt den Mörder auf einem seiner Fotos, die er in der Dunkelkammer seiner Chefin entwickelt. Es braucht eine Vergrößerung, ein Blow-up, um das Gesicht des Killers genau zu erkennen. Caught in the act.

Dieser Film ist eine Schatztruhe für Filmfans, lassen sich doch gleich mehrere Referenzen entdecken, beispielsweise Friedmann’s CRUISING, Powell’s PEEPING TOM und allen voran Antonioni’s BLOW UP. Selbst THE SHINING kommt hier manchmal in den Sinn. Diese Referenzen sind Hommagen, kleine Liebesbeweise eines filmverliebten Filmemachers, der es virtuos versteht, diesen Ikonen der Filmgeschichte eine eigene Interpretation hinzuzufügen. Gleichwohl, sie bestimmen YOU CAN’T STAY HERE nicht.

Ricks Problem, neben vielen Anderen, besteht darin, dass der Killer (fesselnd verkörpert von Justin Ivan Brown) auch ihn erkannt hat. Sie beginnen, sich gegenseitig zu verfolgen. Eine Art Katz- und Maus-Spiel, das alsbald auf eigentümliche Weise die Grenzen zwischen Jäger und Gejagtem aufhebt. Als der Killer Rick zum ersten Mal stellt, bringt er ihn nicht um – denn er erkennt, welche Wirkung seine Gegenwart, seine Bedrohung auf Rick hat: „Look, you’re rock hard“ – sagt der Killer, während er Rick ein Skalpell an die Kehle drückt. Wer begehrt hier wen?

Poppers und Skalpell

Der abgründige Reigen zwischen diesen Männern ist damit noch lange nicht am Ende und Todd Verow zieht uns immer weiter hinein in die psychischen und psychotischen Untiefen, die sowohl Rick als auch den Killer antreiben und beide scheinbar untrennbar miteinander verbinden.

Ein Happy End kennt YOU CAN’T STAY HERE nicht – oder vielleicht doch? Was ist, wenn die einzige Chance auf Erlösung von den Traumata und den Dämonen der Kindheit in den Händen eines Killers liegt? Und wenn dieser Killer eine Flasche voll betäubendem Poppers und ein Skalpell anzubieten hat?

YOU CAN’T STAY HERE ist ein weiterer Höhepunkt (unter vielen) im Oeuvre von Todd Verow.

YOU CAN’T STAY HERE, Todd Verow, US 2023, 104′, Bangor Films

Note: The Englisch Version of this text can be found on my Substack for free


24. Februar 2023, 23.56 Uhr | Porno macht depressiv

Endlich volljährig! Das Pornfilmfestival Berlin eröffnete seine 18. Ausgabe am 24. Oktober 2023, zwei Monate vor Heiligabend. Festival-Co-Kuratorin Paulita Pappel kam dann auch nicht umhin, bei den einführenden Worten vor dem Eröffnungsfilm von nichts weniger als einer “Pornoweihnacht” zu sprechen – was, wenn man bedenkt, wie dünn gesät die deutsche Filmfestivallandschaft ist, sobald es um Filme mit mehr oder weniger expliziten Erörterungen menschlicher Sexualitäten geht, durchaus eine zutreffende Umschreibung für das Pornfilmfestival Berlin darstellt.

Das Pornfilmfestival Berlin ist wie Weihnachten für alle Zuschauer, die sich mehr oder weniger expliziten filmischen Erzählungen und Erkundungen der Vielfalt menschlicher Sexualitäten und Emotionen öffnen möchten, und dies ausdrücklich auf der großen Kinoleinwand.

Nebenerwerb Pornfluencer

Die Verbindung zwischen dem kleinen Bildschirm und dem Kino stellte jedoch sogleich der Eröffnungsfilm PORNOMELANCHOLIA her. Der Film des in Berlin lebenden Argentiniers Manuel Abramovich präsentiert uns einen jüngeren Mann in einer namenlosen mexikanischen Großstadt: Lalo. Sein Broterwerb besteht eigentlich aus der Arbeit in einer Schlosserei, doch er pflegt einen kleinen Nebenerwerb – er ist, so muss man das wohl bezeichnen, ein Pornfluencer. Oder will es zumindest werden.

Wir steigen ein, wenn er scheinbar sinnlos auf der Straße steht, dabei fällt sein Blick, fallen seine Augen auf – sie wirken leer, fast stählern – nur um plötzlich in Tränen auszubrechen. Schnitt. Wir folgen Lalo, wie er sich vor allem auf TwitterX inszeniert und seine Follower anheizt – und die ihn. Dort nimmt auch ein Pornolabel Kontakt zu ihm auf. Die filmische Erzählung lässt uns im weiteren Verlauf teilhaben an einigen Stufen der professionellen Sexarbeit vor der Kamera: Auf das Casting folgt der erste große Pornodreh, folgt die Entdeckung der Schattenseiten der Industrie und schließlich der Einstieg in die Welt der Content Creation, also der Selbstvermarktung eigener pornografischer Inhalte auf großen Plattformen wie OnlyFans oder JustForFans.

Im Gegensatz zu dieser schlichten Aufzählung ist die Skizze dessen, was Manuel Abramovich mit seiner filmischen Erzählung eigentlich will, schon wesentlich schwieriger. Am ehesten und wohlmeinendsten ließe sich PORNOMELANCHOLIA noch als Sondierung des Alltags eines Sexarbeiters im digitalen Raum lesen. Doch dafür fehlt eigentlich alles, was eine intensive Auseinandersetzung mit einem Protagonisten respektive einer Figur auszeichnet – allem voran: Empathie und Respekt.

Je länger, desto mehr Fragezeichen

Empathie für die Figur und Respekt für das Publikum dieses Films. Filmemacher Manuel Abramovich, der mit seinem Kurzfilm BLUE BOY und der dokumentarischen Arbeit SOLDADO bereits bei der Berlinale Filme präsentiert hat, vermag zu keinem Zeitpunkt der Arbeit transparent zu machen, was für einen Film er eigentlich vorlegen möchte. Was ist das hier? Ein fiktionaler Film? Eine dokumentarische Arbeit? Ein Hybrid? Ist Lalo Santos noch Darsteller einer fiktionalen Figur oder schon ein echter Protagonist – oder umgekehrt? Wo verlaufen die Grenzen? Hat Lalo Santos Agency über das, was hier mit ihm passiert, wie er dargestellt wird? Je weiter die 98 Minuten Laufzeit voranschreiten, desto mehr Fragezeichen drängen sich auf.

Vor einem Jahr präsentierte das Pornfilmfestival mit RUA DOS ANJOS eine dokumentarische Arbeit, die auf geradezu vorbildliche Weise die Frage der Agency und der Verantwortung der Subjekte hinter und vor der Kamera verhandelte: Wie sieht eine wahrhaftige Repräsentation dessen aus, was Menschen zu dem macht, was sie sind und wer sie sind?

Eine Frage, die nicht allein auf dokumentarische Arbeiten beschränkt ist. Auch eine fiktionale Erzählung wird am ehesten dann funktionieren, wenn die Entwicklung ihrer Figuren zusammenpasst, wenn sie glaubwürdig ist. Selbst fiktionale Filmfiguren haben in gewisser Weise ein Recht auf eine wenigstens plausible, im besten Fall authentische, nah- und nachvollziehbare Zeichnung. Es sei denn, die Filmemacher:innen wollten, dass sie nur Marionetten sind. Aber gehen wir als Zuschauer für Marionetten ins Kino? Und wollen wir Filmen von Filmemacher:innen zusehen, die ihre Figuren als Marionetten in einem fragwürdigen Spiel benutzen?

Marionette

Stöbert man durch den Instagram-Account des Hauptdarstellers von PORNOMELANCHOLIA, Lalo Santos (@lalo.oaxaca), wird man schnell auf eine Sammlung von Instagram-Stories zum Projekt PORNOMELANCHOLIA stoßen. Darin finden sich diverse Stories und Memes, die selbst über die Sprachbarriere hinweg recht unmissverständlich erkennen lassen, dass sich Lalo Santos von Filmemacher Manuel Abramovich wohl in erheblichem Maße als Marionette missbraucht fühlt und mit der Verwendung seiner Person für diesem Film inzwischen absolut nicht mehr einverstanden ist.

Kaum weniger als eine Abrechnung nimmt Santos mit dem Filmemacher vor, wenn er ihm in Memes Sätze wie „Ich habe dich nur benutzt, um mein kulturelles Kapital zu erweitern, Kumpel“ in den Mund legt. Oder die offenbar halbseidenen Rechtfertigungen des Filmemachers auseinander nimmt: „Es ist eine Reflexion über die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, Kumpel.“ Und wie tief das Zerwürfnis letztendlich wohl reicht, zeigt auch dieser Satz: „What substantial difference is there between cinema and a sweatshop?“

Legt man die Äußerungen von Santos über die Dysfunktionalität des Films zugrunde, wird deutlich, dass PORNOMELANCHOLIA also wohl tatsächlich weniger Film als ein Marionettenspiel ist, womit die Frage im Raum steht, was das obere Ende der Fäden uns denn nun beizubringen gedachte? Das lässt sich, trotz satten 98 Minuten Lauflänge, kurz fassen: Manuel Abramovich will uns mit seiner sinistren Fabel seine Sicht auf digitale Sexarbeit präsentieren – man könnte auch von seinen Vorurteilen sprechen. Sexarbeit für den Bildschirm macht einsam, depressiv und stumpf. Die digitalen Fans sind keine echten Freunde, und Menschen werden als Sexarbeiter:innen im digitalen Raum jeden Morgen allein im Bett aufwachen. Abramovichs Thesen, sie sind pure Regression und intellektuelle Verzwergung.

Man muss dem Pornfilmfestival Berlin dankbar dafür sein, dass es dieses Werk als Opener programmierte. Nicht, weil PORNOMELANCHOLIA ein guter Film ist, das ist er sicherlich nicht. Sondern weil er auf äußerst ernüchternde Weise verdeutlicht, wie weit der Weg für Menschen in der (filmischen) Sexarbeit noch ist, bis sie für ihre Arbeit vor der Kamera wenigstens ein Minimum an Respekt von Filmemacher:innen und der Mehrheitsgesellschaft erfahren.

PORNOMELANCHOLIA, Manuel Abramovich, 98′ | Ab November 2023 via GMFilms in Deutschland im Kino

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https://blogs.taz.de/filmanzeiger/2023/11/06/pornfilmfestival2023/

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