Bruce LaBruce, einst zurecht gefeiert für seine radikale Fusion von Sex und Politik, kocht mit seinem neuesten Werk, THE VISITOR, erneut die Suppe der Kontroverse. Doch hinter der Fassade expliziter Darstellungen und provokanter Botschaften wird nun ein ehemaliger Avantgardist sichtbar, dessen filmisches Erzählen inzwischen so altbacken wie abstoßend wirkt. Eine Anklage.
Im Berlinale Panorama 2004 war ein kanadischer Filmemacher zu Gast, der zu seiner Zeit bereits ein faszinierendes Oeuvre vorweisen konnte und dabei vor allem Menschen damit aufregte, dass er klassische Formen filmischer Narration mit explizitem Sex fusionierte. Sex als Ausdrucksmittel des Körpers, der begehrende, der aufgegeilte, der fickende Körper als Träger der Erzählung. Zu seiner Zeit war das, obwohl wir über die 2000er sprechen, immer noch ein Affront. Bruce LaBruce.
RASPBERRY REICH war ein Film, der dem Publikum keine Kompromisse erlaubte. Entweder ließ man sich von dieser irren und politisch erfrischend schamlosen Versuchsanordnung eines schwulen RAF-Reenactments anstecken, oder man verließ das Kino. Radical Chic.
LaBruce nahm Motive der RAF und ihres Aktivismus/Terrors auf und drehte sie durch den schwulen Fleischwolf. Er erzählt die Entführung eines Bankierssohns, der sich jedoch recht schnell mit den Schwänzen seiner Entführer anfreundet. Im Zentrum aber steht die Anführerin der radikalen Zelle, Gudrun, gespielt von der einzigartigen Susanne Sachsse, die durchweg den Schwanz eines ihrer Kameraden heimsucht und zugleich dem Publikum den Agitprop einer schwulen Revolution entgegenbrüllt. Phrasen, zusätzlich illustriert mit leinwandfüllenden großen Lettern.
Schwule Umcodierung der RAF
RASPBERRY REICH bürstete lustvoll gut gepflegte Diskurs-Heiligtümer der Bundesrepublik gegen den Strich: Während das (konservative) deutsche Bürgertum viel Energie in die Dämonisierung der linken RAF und überhaupt alles Linken investierte, romantisierten weite Teile der alten Linken die tödliche Gewalt der RAF, ihre „Inhalte“ waren sowieso unstrittig. Dass im Zentrum der RAF ein heterosexueller Macho stand, störte beide Seiten nicht. Hier setzte Bruce LaBruce an und nahm nicht weniger als eine veritable schwule Umcodierung vor. RASPBERRY REICH, bis heute ein großartiger, ja zeitloser Film.
Fickende Körper, das RAF-Sujet, aber auch Zombies sollten in den folgenden 20 Jahren bestimmend bleiben für die Filme von Bruce LaBruce – in Berlin respektive im Kontext der Berlinale. In Venedig derweil, wo LaBruce in den letzten zehn Jahren ebenfalls mehrere Spielfilme vorstellte, scheint ein Namensvetter am Werk zu sein.
2024. London. Ein nackter schwarzer Männerkörper steigt aus einem altmodischen Koffer, der am Ufer der Themse liegt. Wie er dorthin kommt – unbekannt. Vielleicht wurde er angespült. Der Körper schlüpft in das Zelt eines Wohnungslosen, schnappt sich dessen dreckige Klamotten, zieht sie an, streift durch die Stadt und landet in der Villa einer reichen Familie; Vater, Mutter, Sohn, Tochter – die Magd. THE VISITOR.
Pissen und Scheißen
Die Magd lässt ihn ein, führt ihn in die Küche. Sogleich lässt sie ihn in die Suppe pissen und auf einen Teller scheißen. Dinnertime. Er, der Besucher, sitzt mit bei Tisch, isst aber nichts. In diesen vielleicht zehn Minuten Laufzeit bündelt sich ein bunter Strauß visueller Topoi, die LaBruce in den letzten 20 Jahren aufgeboten hat: Ein nackter Body of Colour, der weltentrückt – wie ein Zombie – durch eine Stadt streift, das Zelt als sein erster Unterschlupf. Eine Gruppe von Menschen, versammelt um einen großen Esstisch, mit dem Patriarchen und der Matriarchin an den Stirnseiten des Tisches. OTTO; OR, UP WITH DEAD PEOPLE, LA ZOMBIE, THE MISANDRISTS.
In den folgenden vielleicht 50 Minuten sehen wir, wie der Körper nach und nach die ganze Familie fickt bzw. dazu verführt, sich gegenseitig zu ficken. Lediglich die Magd steht beim Sex auf ganz andere Dinge als Penetration. Jede sexuelle Sequenz ist dabei identisch in ihrem Aufbau: Begehren, Verführung, Sex, dazwischen blitzt Agitprop in großen Lettern über die Leinwand: „Open Borders, Open Legs“, „Sex Has No Borders“, „Invade My Ass“.
Sex im Kino kann unglaublich zäh und langweilig werden. Sex allein ist ein schlechter Erzähler. Eine gut funktionierende Sexszene in einer pornografischen Arbeit hat am Stück kaum mehr als 5-10 Minuten Länge. Alles, was länger dauert, muss sein Publikum schon durch besonders außergewöhnliche Performances, Bildgestaltung und Schnitt an sich binden. Das Konzept Pornokino funktionierte nur, weil es einen Zweck hatte – schneller Orgasmus. Und es starb just in dem Moment, als die Zuschauer:innen ein Medium an die Hand bekamen, bei dem sie vorspulen konnten. VHS.
Sex zum Sprechen bringen
Um das Vergießen von Körperflüssigkeiten geht es in THE VISITOR aber nicht, jedenfalls nicht aufseiten des Publikums. Und Bruce LaBruce war zwar stets einer der umtriebigsten, aber nicht unbedingt einfallsreichsten Pornografen. Es braucht also einen narrativen oder visuellen Einfall, eine Reagenz, um den Sex auf der Leinwand für den Kopf zu kontextualisieren und, wenn man so will, zum Sprechen zu bringen.
IN RASPBERRY REICH gab es das, denn de facto war diese Arbeit eine wütende Abrechnung mit Heteronormativität an sich und mit der Homophobie linker Bewegungen im Speziellen. THE VISITOR will vorgeblich eine Auseinandersetzung mit Großbritanniens Flüchtlingspolitik sein. Die Tonspur konfrontiert uns auch gleich zu Beginn unentwegt mit einer flüchtlingsfeindlichen Hassrede, die diverse Talking Points der Konservativen und Rechten in der britischen Politik zusammenmixt. In den Agitprop-Parolen der Sexszenen taucht das Motiv auf. Und natürlich sollen wir auch den Besucher als Geflüchteten lesen.
Aber genau hier liegt das Problem: WIR sollen das so lesen. Eine wirkliche Etablierung, eine irgendwie Bindung entfaltende Zeichnung der Figur findet nicht statt. Viel zu sagen hat der Besucher sowieso nicht. Bindungswirkung für den Kopf entsteht hier nirgends. Eine Auseinandersetzung? Keinesfalls. Eher schon: eine Behauptung von Story, draufgeklatscht auf Sexszenen.
Pornografie jenseits der Massenware
Nachdem der Besucher also die ganze Familie durchgefickt und vulgo befreit hat (vorgeblich ist THE VISITOR übrigens eine Interpretation von Pasolinis THEOREMA), schwärmt diese aus in ihre neuen Leben der befreiten Lust. Vater fickt Twinks im Wald, Mutter rödelt an einem fremden Kerl auf einem Friedhof herum und lässt sich dann von diesem in einer Kirche ans Andreaskreuz hängen. Begehren im Kontext von Kirche und Friedhof, noch so ein Motiv einer früheren LaBruce-Arbeit: DIABOLO IN MADRID für das schwule Pornolabel Cockyboys. Das sexuelle Element von THE VISITOR verkommt vollends zur enervierenden Litanei.
Anders als Bruce LaBruce hat sich die Pornografie jenseits der kommerziellen Massenware weiterentwickelt. Neue Formen, neue Körper, neue Bilder prägen heute die Arbeiten, wie sie nun auf den in den letzten 20 Jahren überall auf der Welt entstandenen Pornfilmfestivals zu erkunden sind.
Es ist eine neue globale Filmsprache, die Sinnesfreude, Lust und vielgestaltige Formen von Kink und Fetisch vermählt hat mit Achtung, Respekt und Repräsentanz diversester Körper. Ein eigener visueller Kosmos, ausdrücklich sexpositiv, irritierend für jene, die damit nicht vertraut sind und deren Vorstellung von Pornografie bei Pornhub endet.
Filmischer Missbrauch
Bruce LaBruce, das spürt man, sucht den Anschluss an diesen Kosmos. Er leiht sich sogar die Performer aus (Bishop Black, Hauptdarsteller in THE VISITOR, ist ein Kind dieses Kosmos) und nimmt ihre Interpretationen von Kink in den Fokus seiner Kamera. Allein, er versteht offenbar nicht, was er da sieht und was diesen Kosmos neuer pornografischer Erzählungen konstituiert. Schlimmer noch, in gewisser Weise vollzieht er eine Art Instrumentalisierung dieses Kosmos für eigene Zwecke, seinen Radical Chic. In THE VISITOR muss dieser Kosmos als Brandbeschleuniger für den scheinbar unstillbaren Hunger eines Filmemachers nach Affront, Tabubrüchen und Skandal herhalten.
Es ist ein filmischer Missbrauch sexpositiver Bilderwelten, den kein:e Intimacy Coordinator:in verhindern kann, ganz egal, wie groß der Name der verantwortlichen Intimacy Coordinatorin auch in den Credits geschrieben sein möge (in THE VISITOR groß, so wie alles andere auch).
Doch hier drängt sich noch ein weiterer Missbrauch auf: Wie kommt es, dass der einzige Body of Colour im Cast die wenigsten Zeilen hat? Wieso wird ihm die Rolle des Sexbunnys zugewiesen, der wie am Fließband den weißen Körpern beizugehen hat? Je länger man über diese Arbeit nachdenkt, desto problematischer wird es.
Für das Panorama reicht es noch
Bruce LaBruce war im Programm des Berlinale Panoramas 2004 nicht der einzige nicht-heterosexuelle Filmemacher, der explizite Sexualität einsetzte: Todd Verow, der zuvor bereits einige Filme im Forum gezeigt hatte, präsentierte in jenem Jahr seinen ANONYMOUS. „Ich wollte einen Film über Beziehungen machen und darüber, wie vielschichtig und letztlich unmöglich eine monogame Sexualität ist“, gab Verow damals dem Katalog der Berlinale zu Protokoll.
Verow, ein Auteur wie LaBruce, hat sich seit ANONYMOUS enorm weiterentwickelt. Mit einer sprachlos machenden Energie fertigt er unermüdlich Filme, deren Stil inzwischen genauso ausdifferenziert wie einzigartig ist. Verow ist ein enorm kluger und genauer Beobachter schwuler Realitäten im Heute. Seine Filme spiegeln das auf ihre Weise und ergründen nicht selten Abgründe, die im Queer Cinema und allem, was dafür gehalten oder als solches vermarktet wird, nicht zu finden sind.
Im Oktober 2023 präsentierte er im Pornfilmfestival Berlin seine jüngste Arbeit, den Psychothriller YOU CAN’T STAY HERE. Eine sinistre Auseinandersetzung mit dem Ur-Trauma schwuler Männer – dem Verstoßen und Verfolgtwerden durch die Mutter für das, was man(n) ist.
In derselben Festivalausgabe war auch Bruce LaBruce mit seinem THE VISITOR zu Gast. Doch während Verow de facto als einer der Headliner des Festivaljahrgangs unterwegs war, wurde LaBruce als namenlose 23:59 Uhr Sneak Preview versteckt. Rückblickend ist das absolut nachvollziehbar: Die Kurator:innen des Pornfilmfestivals Berlin (darunter der RASPBERRY-REICH-Produzent Jürgen Brüning) wären völlig zurecht dafür verrissen worden, hätten sie das regressive Machwerk THE VISITOR ganz normal im regulären Programm präsentiert.
Für das Berlinale Panorama indes hat es gereicht. Das sagt einiges über den Zustand dieser Sektion im Jahr 2024.
THE VISITOR | UK 2024 | Bruce LaBruce | 101′ | Panorama