vonmanuelschubert 23.10.2024

Filmanzeiger

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22. Oktober 2024, 23:55 Uhr | Düsternis allenthalben

Mit der nunmehr 19. Ausgabe lädt das unabhängige Berliner Pornfilmfestival zu sechs Tagen vollgepackt mit filmischen Erzählungen über den menschlichen Körper, Geschlechter, Begehren, Lust und Sex.

35 fiktionale und dokumentarische Arbeiten in Spielfilmlänge und satte 18 Kurzfilmrollen wurden für den Jahrgang 2024 ausgewählt. Zudem präsentiert das Kurator:innen-team um Jürgen Brüning, Manuela Kay, Paulita Pappel, Kiki Petersen, Constanza Godoy und Walter Crasshole ein Retrospektiven-Programm des kanadischen Kurators Jon Davies, Thema: San Francisco Sexual Babylon.

Nicht zu vergessen, die zweite Ausgabe des Branchen-Programms „Adult Industry Only“, die sich mit ihrem umfänglichen Workshop- und Diskussionsprogramm dezidiert an Performer:innen, Filmemacher:innen, Produzent:innen und Verwerter:innen richtet (was in der unabhängigen Porno-Community häufig ein und dieselbe Person meint).

Talk mit der EU?

Auf der Tagesordnung für 2024 stand dabei auch die Paneldiskussion „Future of the Adult Sector: New Law, New Tech, New Voices“ am Eröffnungstag des Festivals. EU-Direktiven wie beispielsweise der Digital Services Act (DSA) machen vor der Pornobranche keinesfalls halt. Ursprünglich war, erstmals überhaupt in einer Veranstaltung der Pornobranche, dazu eine Vertreterin der EU-Kommission als Sprecherin angekündigt. Doch die Vertreterin der Kommission cancelte ihre Teilnahme kurzfristig am Dienstagmorgen.

Hat man in Brüssel sonst keinerlei Scheu, sich mit Lobbys aller und selbst der problematischsten Art auszutauschen (fossile Energien, Atomwirtschaft, Rüstungsindustrie, Big Tech etc.), hört der Wagemut offenbar auch 2024 immer noch dann auf, wenn es um Vertreter:innen jener Branche geht, deren Produkte in nahezu jedem EU-Haushalt zum Alltag gehören. Ein irritierendes Vorgehen der Kommission.

Aber während die EU wenigstens oberflächlich zum Gespräch mit der Branche bereit schien, verweigert die deutsche Politik den Dialog völlig. Stattdessen gewährt sie lieber den sogenannten Jugendschützern die lange Kette und führt aktuell eine der restriktivsten Regulierungen von Erwachsenen-Angeboten unter allen EU-Mitgliedern. Bevormundung und Repression statt Dialog – ein wiederkehrendes Muster deutscher Politiker:innen im Kontext von Sexarbeit.

Porn Made in Germany?

Wenn es um Branchenfragen geht, stellt das Pornfilmfestival Berlin in gewissem Maße ein Paradox dar: Seit 19 Ausgaben erweist es sich als ein Nährboden für neue Stimmen, Talente, Filmsprachen und Filmverwertungsformen im Bereich des unabhängigen sexuell expliziten Erzählens. Wenn man so will, ist das Festival ein zentraler Motor der unabhängigen Pornobewegung.

Zugleich sieht sich die übergroße Mehrheit der (nicht nur) Berliner Protagonist:innen der Community aktuell gezwungen, mit ihren Produktionsfirmen und digitalen Verwertungsplattformen ins EU-Ausland umzuziehen, denn der deutsche „Jugendschutz“ fordert von den Firmen immens restriktive und damit teure „Jugendschutz“-Vorkehrungen im Netz. Etwas, das sich die überwiegend aus kleinen und mittelständischen Unternehmen bestehende Community weder leisten noch am Markt erwirtschaften kann. Düstere Aussichten für Porn Made in Germany.

Düsternis allenthalben

Dass die gesamte Menschheit aktuell durch miese Zeiten geht, spiegelt auch die Filmauswahl 2024 auf ihre Weise. Schon einen der Eröffnungsfilme (es gibt dieses Jahr drei!) beschreibt das Programm als „groteske, dystopische und ekelerregende Vision einer auf ihre niedersten Wünsche und verdorbenen Fantasien reduzierten Menschheit“. Die Rede ist vom österreichischen Beitrag 2551.02 – THE ORGY OF THE DAMNED von Norbert Pfaffenbichler (AT 2023).

Ähnlich abgründig liest sich auch die Einführung zur Kurzfilmrolle „XXXX Porn Shorts“: „Spiele mit Körperflüssigkeiten (Blut und darüber hinaus), Gewalt und Vergewaltigungs- und Rachefantasien“, oder die zu den „Angst und Horror Porn-Shorts“: „mitunter wird es sehr blutig oder es kostet sogar das Leben“.

Dass die Festival-Klassiker „BDSM Porn Shorts“ und „Fetish Porn Shorts“ um Erkundungen sexueller Abgründe nie verlegen sind, ist Festival-Stammgästen längst geläufig. 2024 scheinen die Erkundungen der Düsternis (auch der sexuellen) indes einen regelrechten Schwerpunkt im Programm zu bilden. Film als Resonanzraum der Gegenwart.

Sexual Babylon

Erinnerungen an vermeintlich bessere Zeiten haben in Krisen besonders Konjunktur. Vor dieser Folie gelesen, wirkt die Retrospektive 2024 wie eine Einladung zur totalen Realitätsflucht. „San Francisco Sexual Babylon“, kuratiert von Jon Davies, versammelt in sechs Programmen filmische Erkundungen San Franciscos als Vortex gesellschaftlicher und sexueller Befreiung zwischen 1960 und 1990.

In der Retrospektive: Maxie und Karl in ELEVATOR GIRLS IN BONDAGE | (c) Bild: Buffalo Films/Michael Kalman

Vor allem die 1960er und 1970er waren in San Francisco, in den USA und weltweit Jahrzehnte des Umbruchs und der gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Kurzum, Zeiten, die auf gewesene und drohende Abgründe mit Utopien zu antworten versuchten und diese auch gleich im Alltag lebendig werden ließen.

Machen wir uns nichts vor, selten zuvor war utopische Kraft so bitter nötig wie dieser Tage. Nichts einzuwenden also gegen ein bisschen Realitätsflucht. Und vielleicht liegt der erste Schritt zu einer besseren Zukunft ja in einer Zeitreise ins (ehemalige) „Sexual Babylon” namens San Francisco.


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