27. Oktober 2024, 23:16 Uhr | PS:
Liebe Produzent:innen von BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ,
lieber Markus Stein, lieber Ringo Rösener,
liebes Team vom Salzgeber-Filmverleih,
TUNTEN werden nicht mit „Queens“ übersetzt!
TUNTEN werden nicht mit „Queens“ übersetzt!
TUNTEN werden nicht mit „Queens“ übersetzt!
TUNTEN werden nicht mit „Queens“ übersetzt!
TUNTEN werden nicht mit „Queens“ übersetzt.
Eine englischsprachige Untertitelung muss nicht den Runway von RuPauls Drag Race laufen und keine seiner Challenges bestehen. Es ist völlig in Ordnung und absolut angebracht, einem (internationalen) Publikum den Begriff „Tunte“ zuzumuten und sie damit einzuladen, sich im Kopf eine eigenes Bild von jenen einzigartigen Wesen zu formen, das Berlins Damenimitatorinnen waren und bis heute sind.
Weit bevor RuPaul die Vokabel „Drag“ zu Geld machte, regierten Westberlins Tunten, genauer gesagt, Westberlins Trümmertunten (sic!) längst über die Nacht. Und den Tag. Und das Zwielicht. Und das Showlicht. Ihnen diesen einzigartigen Platz in der urbanen wie geschichtlichen Erzählung Berlins durch eine schrecklich einfältige Untertitelung wie „Queens“ zu rauben, ist nicht weniger als ein Schandfleck auf der ansonsten herausragenden dokumentarischen Erzählung BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ.
27. Oktober 2024, 23:16 Uhr | PPS:
Lieber Markus Stein,
da stehen Sie nun, vor der leeren Leinwand des Kino Moviemento, Saal 1. Soeben ist eine Vorführung ihrer Arbeit BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ zu Ende gegangen. Neben ihnen steht Jürgen Brüning, Gründer des Pornfilmfestivals, ihr Gastgeber an diesem Abend und Moderator des Filmgesprächs. Eigentlich.
Aber sie geben ihm keinerlei Raum, eigene Gedanken und Fragen zu formulieren. Sie übernehmen sofort das Mikrofon, sie besetzen die Bühne, adressieren das, adressieren IHR Publikum. Aber denjenigen, dem sie an diesem Abend das Publikum verdanken, würdigen Sie kaum eines Blickes.
Dabei ist der Mann neben ihnen selber Zeitzeuge jener Zeit, welche ihr Film soeben versuchte für die Leinwand verständlich zu machen. Jürgen Brüning ist nur ein Jahr älter als Jürgen Baldiga und wie Baldiga (und unzählige Andere) ein Zugezogener dieser Stadt.
Anstatt mit ihm zusammen in den Dialog zu gehen, anstatt die Zeitkapsel des schwulen Westberlins (und darüber hinaus) in diesem besonderen Augenblick kollektiv, gemeinschaftlich und sprechend weiter zu erkunden – nur eitler Egotalk.
Was für eine vergebene Chance, was für eine Einladung zur Fremdscham. BALDIGA – EISERNES HERZ ist eine großartige Arbeit (ebenso UNTER MÄNNERN – SCHWUL IN DER DDR) , aber fortan muss ich in meinem Kopf penibel zwischen Werk und Künstler trennen.
27. Oktober 2024, 23:14 Uhr | PP
Etwas fehlt in diesem 19. Jahrgang des Pornfilmfestivals. Etwas, das de facto jedem queeren, jedem nicht-heterosexuellen Fick diese eine Prise mehr Erregung, Geilheit, Schwärmerei und lustvolle Entspannung verpasst: Poppers.
Diese eine kleine Zutat, die inzwischen sogar Heteros für sich entdeckt haben – auch wenn sie sich immer noch etwas ungeschickt beim Einsatz dieser chemischen Magie für die Nase anstellen (Poppers beim Work-out? WTF?).
Basierend auf meinen Beobachtungen bisher (fünf bis sechs Screenings pro Tag), war Poppers lediglich in ON THE GO von María Gisèle Royo und Julia de Castro im Bild. Ein Roadmovie über eine schwangerschaftsgierige Hetera und ihren schwulen Begleiter. Ein Film, der so dermaßen verklebt ist von Filmreferenzen (Araki, Jarman, Jarmusch, Cameron-Mitchell u. v. a.), dass er kaum selbst zum Atmen kommt. Dabei ist Atmen beim Poppers entscheidend.
Doch wie üblich in Spielfilmen mit kommerziellem Verwertungsziel (Salzgeber verleiht die Arbeit in Deutschland), ist das Poppers hier kaum mehr als eine Behauptung. Eine kleine braune Flasche, ohne Label und hörbar so leer und trocken wie eine Wodkaflasche nach einer ausgelassenen Party. Aus diesem Teil strömt keiner dieser faszinierenden Dämpfe mehr, die für einen Augenblick alles möglich erscheinen lassen – und sogar möglich machen.
Sex ohne Poppers? Das ist nur die halbe Miete. Porno ohne Poppers? Was soll das?! Nichts geht über Nasenflügel, die auch Tage nach einer ausgelassenen Session (ob allein oder gemeinschaftlich) noch heilen müssen von der Berührung mit einer dieser faszinierenden Flüssigkeiten namens Isopropylnitrit und Co. Darauf einen tiefen Zug – in der Hoffnung auf mehr Poppers & Porno beim 20. Pornfilmfestival 2025.
27. Oktober 2024, 15:40 Uhr | Let me be your Doll
Puppen. Was hat sich die Menschheit eigentlich mit diesem Ding namens Puppen eingebrockt? Ernsthaft, was soll das? Künstliche Mädchen und Frauen, eingehüllt in auf befremdliche Weise eigentümliche Textilformen. Eine Freakshow aus Hartplastik und Synthetikgarn. Dinge, die verstörend zur Sexualisierung einladen, aber eigentlich bis heute geschaffen werden, um kleinen Mädchen einzutrichtern, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist (zu Hause) und wie ihr Körper auszusehen hat (Modelmaße). Der blanke Horror.
Pornografie als Kunstform, die gesellschaftliche und menschliche Abgründe transzendiert, um daraus etwas Neues zu schaffen, Traumatisierung zu überwinden und Empowerment zu fördern, hat einen speziellen Platz für Puppen. Im Programm des Pornfilmfestivals Berlin 2024 finden sich dazu mehrere aktuelle Positionen, die auf vielfältige Weise das Thema „Puppe“ behandeln.
In der US-amerikanischen Porno-Komödie D.O.L.L.S. von Stella Smut und Bree Mills begegnen wir der vielleicht radikalsten Form der Puppe: Androiden. Diese Androiden haben allerdings wenig mit „Data“ aus Star Trek zu tun. Hier handelt es sich um drei Tran(s)droids. Sie stammen aus den Händen von drei reichlich irren und ruhmsüchtigen Wissenschaftlerinnen, die von ihren Investoren beauftragt simd, eine Haushaltshilfe zu konstruieren – nur eben mit erweiterten Anwendungsmöglichkeiten und den Wünschen des Marktes entsprechend.
Hassobjeckt
Die brasilianische Arbeit BARBIE VAI AO HOSPÍCIO (Barbie Goes To the Madhouse), zu sehen in der neuen Heavy-BDSM-Kurzfilmrolle „XXXX Porn Shorts“, gedreht und performt von Kink Barbie und Jo Rios, verhandelt das Barbie-Thema auf zwei Ebenen: In der vordergründigen Erzählung wird Pink Barbie von einem verrückten Arzt entführt und in einer Klinik für allerlei sadistische Spielereien „verwendet“. Parallel läuft in einem anderen Universum sozusagen eine umgedrehte Erzählung.
Die deutsche Produktion YOU’LL BE SORRY von Maryann Peony, zu sehen im Stammprogramm des Pornfilmfestivals „BDSM Porn Short“, widmet sich der Puppe als spezieller Spielform des BDSM. „Dollyfication“ bedeutet das völlige Versinken eines Menschen in die Rolle einer leblosen Puppe, sodass der oder die Top diese „Puppe“ nach Belieben bearbeiten kann.
Puppen gehören wohl zu den meistgehassten und meistgeliebten Gegenständen der Menschheit. Üblicherweise werden dabei Liebe und Hass von ein und derselben (weiblichen) Person an einer Puppe ausagiert. Wenn Puppen sprechen könnten, hätte die Menschheit keine ruhige Minute mehr.
Marktgesetze
Den Menschen das Leben zu erleichtern, daran forschen drei Wissenschaftlerinnen in einem Labor irgendwo in den USA. Auf ihren (OP-)Tischen liegen besondere Formen von Haushaltshilfen: Androiden. Ausgestattet mit allerlei Features (Fondue-Kocher inklusive) sollen sie bald den Markt erobern und jedes Familienheim bereichern. Doch ein Investorencall stellt die ehrgeizigen Frauen unvermittelt vor ein Problem: Kochen, Putzen und Ähnliches ist nicht mehr gefragt – die Androiden müssen Sex können. Allerdings hatten die drei exzentrischen Forscherinnen ihre Meisterwerke dafür nicht konzipiert. Was also tun?
Die passende Ausstattung – pralle Brüste, schöne Schwänze, schöner Hintern – ist zwar schnell angebracht, aber schon beim ersten Test-Orgasmus brennen den „Trandroids“, oder vielmehr Tran(s)droids, die Platinen durch. Ein riesiges Problem, denn den drei Frankensteins bleiben nur noch 24 Stunden bis zum nächsten Investorencall, um ein marktreifes Produkt zu präsentieren.
Stella Smut und Bree Mills helfen in ihrer Porno-Komödie D.O.L.L.S. der Entwicklung ein wenig auf die Sprünge, indem sie die smarte, aber missachtete Laborassistentin nach Feierabend ein paar heimliche Manipulationen am „Brain-Serum“ durchführen lassen. Mit dem Ergebnis, dass die Hightech-Puppen zu Sexmaschinen mutieren – zur Überraschung und (körperlichen) Freude der Wissenschaftlerinnen. Folglich gehen die Tran(S)droids und die Wissenschaftlerinnen in den verbleibenden Minuten von D.O.L.L.S. nahezu jeder denkbaren sexuellen Spielform nach, die in einem trans*-lesbischen Porno-Kontext vorstellbar ist.
Allerdings ist dieser an Wahllosigkeit grenzende Überfluss auch das größte Problem in D.O.L.L.S.. Der Film nimmt gefühlt kein Ende. Ihn in einem privaten Kontext zu sehen, böte wenigstens die Möglichkeit des Vorspulens, aber das hilft nur bedingt angesichts von Sexszenen, die ebenso endlos wie langweilig, unsexy und blutleer wirken. Pun not intended. D.O.L.L.S. ist leider ein Paradebeispiel für die alte Regel, dass nichts so quälend sein kann wie konventionell gefilmte Pornografie. Selbst als sexpositive Produktion mit gesteigertem Production Value möchte man diesen Film schon nach der ersten Sexsequenz verlassen. Die eigentlich recht originelle Grundidee hat angesichts der satten Porno-Regression, die aus dieser Klamotte strömt, keine Überlebenschance.
Barbie(s) töten
Vernichtung ist etwas, das viele Puppen während ihres Produktlebenszyklus erfahren. Denn Puppen (auch Barbies) sind für Mädchen oft der einzige Kanal, um ihre Wut über Misshandlung und Geringschätzung durch das Patriarchat wenigstens ansatzweise zu kanalisieren. Barbie kann schließlich nicht Nein sagen.
In diesem verstörenden Gedankenkosmos des „Sie-kann-sich-nicht-wehren“ bewegt sich das Duo Kink Barbie & Jo Rios in ihrem BARBIE VAI AO HOSPÍCIO (Barbie Goes To the Madhouse). Barbie, lebensgroß, langbeinig, in High Heels und Pink, geht nachts eine Straße entlang und wird von einem unheimlichen Typen entführt. Wenn wir als Publikum nach dem Schnitt gemeinsam mit Barbie wieder „aufwachen“, finden wir uns in einem altmodischen OP-Saal wieder – und in der Gegenwart eines offenkundig sehr sinistren Arztes.
BARBIE VAI AO HOSPÍCIO verwebt diverse Elemente des BDSM-Playbooks, etwa Rollenspiele sowie hartes Spanking, Bondage, Kliniksex und Impact Play. Dabei beeindruckt – neben dem hungrigen Lächeln, das diese „Barbie“ manchmal im Gesicht trägt, etwa wenn der „Doktor“ sie in die rosa Zwangsjacke steckt und sich dann an ihr vergeht – vor allem die Produktionsqualität der Arbeit (Kink Barbie und Jo Rios arbeiten sichtbar auch außerhalb des Pornokontexts im Film. Set- und Lichtgestaltung sind ihre Professionen).
Sich verselbstständigen
Neben Barbie werden allerdings ebenso wir als Zuschauer:innen „gefickt“. Die Filmemacher:innen penetrieren die vordergründige Erzählung zunehmend mit einer parallelen Geschichte, einem alternativen Universum. In dieser Welt ist „Barbie“ alles andere als wehrlos. Sie ist eine einäugige Psychopathin, und der „Arzt“ verliert mehr als nur seinen Penis an ihr Messer.
Aber so sind sie eben, die Puppen: Von Menschen geschaffene Dinge, die nur darauf warten, sich zu verselbstständigen – und es uns allen heimzuzahlen. Niemand könnte behaupten, wir hätten unsere Bestrafung nicht verdient.
Strafbare Scheiße baut auch Lou. Entgegen des ausdrücklichen Verbots ihrer großen Schwester klaut sie deren schwarzes Lieblingskleid und zieht es ihrer Puppe zum Spielen an. Die Puppe ist allerdings lebensecht und die Werkzeuge dieses speziellen Puppenspiels bestehen aus Spritzennadeln, einem Tacker und mehr. Diese „Puppe“ hat einiges auszuhalten.
Und der Zorn der großen Schwester – über den Diebstahl und Missbrauch ihres Kleids – er entlädt sich ebenfalls an der Puppe. Der Tacker ist dabei noch das kleinste Übel. Eine Barbie als Dildo? Ja, das geht. Schließlich reicht nichts so tief wie die Wut von Geschwistern aufeinander. Das Mädchenzimmer wird hier um Hochrisikogebiet.
Zen und Terror
YOU’LL BE SORRY wirft ein gleichermaßen faszinierendes wie verstörendes Licht auf eines der herausforderndsten Sujets im BDSM-Bereich. Dollyfication ist eine Spielart, bei der das körperliche Element ohne das tiefenpsychologische nicht möglich wird. Schmerz, als Grundpfeiler der meisten BDSM-Formen, wird hier mit einer radikalen Form von Rollenspiel und Unterwerfung verbunden. Der oder die Sub versinkt in eine extrem tiefe Form des Zen. Die erwünschte und vereinbarte Willenlosigkeit, absolute Regungslosigkeit und das völlige Ausgeliefertsein für alle Arten von (ausgehandeltem) Schmerz und „Gebrauch“ werden dadurch überhaupt erst möglich. Für den oder die Top ist es eine genauso anspruchsvolle Spielform, denn es geht um nicht weniger als die auf Lust zielende Ausübung von Terror am Körper der:des Sub:s.
Maryann Peony gelingen in YOU’LL BE SORRY schnörkellose, aber ungemein wirkmächtige Bilder für diesen außergewöhnlichen Teil des BDSM-Kosmos. Nicht nur nebenbei schenkt sie uns dabei einige kostbare Minuten mit der einzigartigen Sadie Lune, längst eine Legende des sexpositiven Pornoschaffens, als große und, das Wort ist im besten Sinne angebracht, sadistische Schwester.
Diese Puppe ist hier irgendwann einfach fertig. Doch Puppen, sie sind mit uns noch lange nicht fertig. Wir sollten uns Sorgen machen. Oder uns, Menschen aller Geschlechter, vielleicht einfach der Strafe hingeben?
27. Oktober 2024, 14:06 Uhr | Sicherheit
„A safe word is a word used to communicate your boundaries, because ‘stop’ and ‘no’ can sometimes mean the opposite. It should be a word you don’t normally use. So, what’s this word you never use?“
–
„I love you!“
Aufgeschnappt in Koji Shiraishis ungemein unterhaltsamer BDSM-Lovestory SAFE WORD (OT: Aishiteru!, übersetzt „I Love You!“) im Pornfilmfestival 2024.
26. Oktober 2024, 23:57 Uhr | Kunst & Ficken
„Kunst & Ficken, das ist mein Leben. Ich liebe mein Leben.“
„Wenn ich Glück habe, mach’ ich noch ein Jahr, und dann will ich wenigstens ein paar Kratzer an der Wand hinterlassen.“ – mit diesem Zitat schließt ein Porträt über den Fotografen und Lyriker Jürgen Baldiga. Das Stück ist in der taz vom 21. Februar 1991 erschienen, auf einer Sonderseite jener Zeit, die rubriziert war mit „Leben mit dem Virus – Aids in Berlin“.
Man findet diesen Text heute tief in der internen alten Archivdatenbank der taz (als taz-Mitarbeiter habe ich darauf Zugriff), welches bis 1999 genutzt wurde und wo alle erschienenen Zeitungsseiten seit Beginn der taz und bis ’99 als Faksimile gespeichert sind. Auf die Idee der Suche im alten taz-Archiv brachte mich Jürgen Baldiga. Nicht persönlich, denn Baldiga ist seit etwas mehr als 30 Jahren tot. Aber er erwähnt die taz in einem seiner Tagebücher.
Am 1. Dezember 1992 prangt ein Baldiga-Selbstporträt sogar auf der Titelseite: Es ist die Ausgabe zum Welt-Aids-Tag. Auch am 10. Dezember 1993 findet sich auf Seite 26 ein Baldiga-Selbstporträt – es bebildert seinen Nachruf, Überschrift: „Unter Engeln“.
Jürgen Baldigas Nachlass lagert heute überwiegend im Archiv des Schwulen Museums in Berlin. Was für ein Ort dieses Archiv ist, wie dieser Nachlass heute aussieht, Filmemacher Markus Stein zeigt es im Anfang seiner Arbeit von BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ.
Die Kisten, in denen die Archivalien aufbewahrt sind, der Inhalt, die Tagebücher, Fotonegative, Abzüge, Bücher etc. Filmemacher Markus Stein verortet, nein, er inszeniert die Materialien an ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort, dem Archivraum. Diese Materialien haben ihren Besitzer lange verloren, sie liegen nun in Magazinschränken, umgeben von anderen Toten, von anderen Geschichten. Darauf wartend … BITTE HIER WEITERLESEN…
25. Oktober 2024, 02:59 Uhr | Ein Märchen in 8mm und Penis
„Sommercamp. Ich nehme am Rettungsschwimmer-Lehrgang teil. Der Anleiter – super sexy. Seine Speedo – prall gefüllt. Ich drehe fast durch. Ertrinkende, so lernen wir, geraten in Panik und stellen damit eine Gefahr für sich und den Rettenden dar. Man muss sich ihnen von unten, von den Beinen her nähern und sie dann kontrolliert mit den Armen umschließen. Ausgerechnet mich pickt der Anleiter als Ertrinkenden heraus, um die Sache zu demonstrieren. Ich strample im Wasser, er packt mich von unten. Ich werde super geil, seine Arme arbeiten sich die Beine hinauf, berühren meinen steifen Schwanz in meiner Badehose, er arbeitet sich weiter hoch, umschließt mich mit seinen muskulösen Armen. Ich spüre sein fettes Paket an meinem Körper. Rollenwechsel, plötzlich soll ich die Rettungsübung an ihm vorführen. Ich berühre seine Beine, mein Arm, meine Hand streifen über seine Speedo und seinen harten Schwanz darin. Ich lege meinen Arm um seinen Oberkörper, seinen sexy Hals ganz nah bei mir, ich könnte reinbeißen. – Dann ruft er den Nächsten auf, es zu probieren. Hinterher lobt er mich als denjenigen, der die Übung am besten absolviert hat.“
Wir hören diesen Text, diese Worte auf der Tonspur. Wer da zu uns spricht, wer dieser Mensch ist, wie er heißt, bleibt ein Rätsel. Wir wissen nur, dass dieses scheinbare Teenager-Selbst ansonsten kaum die Worte findet, um zu beschreiben, was es, was er ist. Die Leinwand präsentiert uns derweil betörende Bilder von einem See und dem ihn umsäumenden Pinienwald. Auch ein kleiner Strand und Hütten kommen ins Bild. Echtes Sommercamp-Feeling. Ist dies der Ort, wo unser Erzähler einst mehr fürs Leben lernte, als er selber zu hoffen gewagt hätte? Auch das bleibt ein Rätsel.
Aber so ist das eben mit Märchen: Sie haben ihre eigenen Geheimnisse, sie geben uns Rätsel, sie entführen unseren Kopf und verschleppen uns in unbekannte Welten, die ihre wahre Natur erst allmählich preisgeben. Willkommen in MEMORABILIA.
Männer, Sex und Sperma
Charles Lum war ein Produzent, Filmemacher und überhaupt Filmmensch aus New York. Geboren am 25. Juni 1958, gestorben viel zu früh, am 30. November 2021 infolge einer Krebserkrankung. Schon mit zehn Jahren nahm er die Kamera in die Hand.
In der ersten Phase seine Oevres arbeitete er mit 8-mm-Film, ab Mitte bis Ende der 1980er mit Video. Seine Arbeiten umkreisten jene Themen, die ihn besonders interessierten – oder reizten: Männer, schwuler Sex, die Cruising-Kultur. Und natürlich Sperma. Später dann auch: das Leben mit HIV. Eine seiner Arbeiten in diesem Kontext, OVERDUE CONVERSATION, schaffte es sogar in den Filmkatalog der Deutschen Aidshilfe.
Mit seinem Tod ging sein filmischer Nachlass an den Filmemacher Todd Verow. Charles Lum war viele Jahre eng mit ihm befreundet und Partner in Crime bei vielen Filmprojekten. Nachlass, das bedeutet hier unzählige Stunden 8-mm-Film und Videos auf diversen digitalen Trägermedien. Aber auch: genauso zahllose kleine Notizen über Charles Lums sexuelle Begegnungen, die er in kurzen, aber prägnanten Worten oft auf jegliche erdenkliche Art von Papierfetzen kritzelte. „7 Loads. Nice. Nice. Nice. Nice.“
Zeitkapsel schwulen Lebens
Todd Verow arbeitete sich durch das Konvolut und begann die Sicherung des Materials. Manche Filmrolle wartete noch auf Entwicklung, andere hatten sogar einige Restminuten Drehzeit übrig, wenn auch eigentlich längst abgelaufen. Film ist ein flüchtiges Trägermedium. Rettung war überfällig, denn hier ging nicht nur einfach Material verloren, hier war eine unersetzliche Zeitkapsel schwulen Lebens bedroht. Ein Leben, das durch die Hochphasen und die Abgründe schwuler Kultur, schwuler Sexualkultur ging. Und außerdem unglaublich schöne Filmbilder in sich barg.
Noch zu Lebzeiten entwickelte Charles Lum die Idee für MEMORABILIA, Todd Verow fiel nun die Aufgabe zu, die Idee in Film zu übersetzen. Rein technisch gesprochen ist es eine knapp 70-minütige Montage von 8-mm-Bewegtbild, überlagert von einem Erzähler im Off und einem eindrücklichen Klangteppich.
Indes: Die technische Beschreibung führt hier nicht weiter.
Kommen wir noch einmal zum Teenager im Sommercamp zurück, der unversehens elektrisiert wird von einem geilen Rettungsschwimmer mit üppig gefüllten Speedos. Wollte man die ganze Faszination und unbeschreibliche Magie schwulen Begehrens in eine Märchenerzählung übersetzen, MEMORABILIA wäre dieses Märchen. Eher gesagt, ist es. Und was für eines! Wobei man den Begriff des Märchens hier etwas konkretisieren muss. Dieses Märchen ist weit davon entfernt, „jugendfrei“ zu sein und Moral – ja nun, (er-)sparen wir uns diesen Begriff gleich ganz. Ein pornöses Märchen im schönsten aller Sinne.
Das Einzige, was unser Teenager-Erzähler wirklich sicher weiß: Er findet seine Leute während des Familienurlaubs auf Fire Island sofort, oder vielmehr instinktiv – im Unterholz hinter dem Strand.
Der kaputte Staubsauger
Es gibt eine leicht chronologische Entwicklung in dieser Erzählung. Wir starten also beim Teenager-Ich des Erzählers, der mit uns über den gesamten Film hinweg auf der Tonspur seine Gedanken teilt, oder vielleicht eher seine Form von Erinnerung? Wir lernen auch, dass seine Mutter irgendwann den Staubsauger ersetzen musste, denn dieser war aufgrund von, nennen wir es, Zweckentfremdung kaputt gegangen. Das Nachfolgemodell bedeutet für das Teenager-Ich das Ende der ersten sexuellen Beziehung in dessen noch recht jungem Leben.
Die College-Jahre beginnen. Sein Zimmer im Wohnheim teilt er sich mit einem fitnessverliebten Hetero, der den ganzen Tag im College-Gym abhängt. Gut für unseren Helden, denn er hat viel Zeit allein, um sich auf die verschwitzten, Testosteron-gesättigten Klamotten seines Mitbewohners einen zu wichsen. Perfekt. Und so geht es weiter. Unser Held wird erwachsen und ist getrieben von Leben und Lust. Er reist um die Welt und entdeckt in London etwas völlig Neues: Die Klappe. Cruising auf öffentlichen Toiletten. Männer aller Körper und Herkünfte, Schwänze aller Größen, Sperma ohne Ende – er ist in seinem Element.
Das Märchen in MEMORABILIA ist eine unzuverlässige Veranstaltung. Jedenfalls, sofern man mit der Erwartung biografischer Erkenntnisse über das Leben von Charles Lum in diesen Film geht. Ja, Charles Lums Notizen und Erinnerungen sind der Stoff, aus dem diese Geschichte gewoben ist. Aber ebenso sind auch Erfahrungen und Erinnerungen von Todd Verow, der eine ähnliche Sozialisierung wie Lum erfahren hat, eingeflossen. Ein Märchen der Erinnerung, nur eben eher kollektiver Natur.
Und selbst die Filmbilder, sie bestehen nicht nur aus Film, den Charles Lum selbst gedreht hat. Denn wie gesagt, in seinem Nachlass fanden sich noch Restminuten ungedrehten Films, die Todd Verow nun verwendet, um die visuelle Welt dieses Märchens weiter auszuschmücken. Ein schöner Arsch im weißen Jockstrap, ein Staubsaugerschlauch und ein Schwanz, ein sexy Typ, der sich vor dem Spiegel mit einer Klinge und jeder Menge Rasierschaum rasiert – ohne seinen sehr eindeutigen Blick zu uns im Spiegel abreißen zu lassen. MEMORABILIA operiert konstant in diesem vexierenden Zwischenreich aus Fiktion und Erinnerung.
Betörendste Naturaufnahmen
Ein fesselnder Mindfuck kombiniert mit glückseeligem Versinken in die Materialität von Film, in all die Vorteile von analogem Film, selbst im kleinen und stummen 8-mm-Format. Satte Farben, kräftige Filmkörnung, warmes Licht. Ein Traum für die Augen. Jeder Frame eine Einladung, abzutauchen in diese kinematografische Orgie aus einer verlorenen (Film-)Zeit.
Charles Lum filmte wie ein Besessener, was ihm vor die Linse kam. Und Lum war auch ein Reisender. Nicht von ungefähr lebt dieses Märchen daher auch in einer Welt wunderschönster Naturaufnahmen aus den USA und weit darüber hinaus. Häufig wiederkehrende Motive: der Strand, das Meer, die Sonne, der Horizont.
Wo ein Strand ist, da sind natürlich auch Männer nicht weit weg. Schöne Ärsche funkeln sonnenmilchverschmiert im Licht. Prallgefüllte Speedos verlocken den Betrachter. Das Ich unseres Erzählers, es hat seine frühe Prägung nie abgelegt. Und ganz ehrlich, warum auch? Lycra und Schweiß, Sonnenmilch und Sperma – nichts ist schmerzhafter, als die lustvoll schimmernde Welt von MEMORABILIA nach 70 Minuten wieder verlassen zu müssen.
• MEMORABILIA, USA 2024, Charles Lum & Todd Verow, 70′
24. Oktober 2024, 14:04 Uhr | Die Pornokönigin
Es gibt diesen Typ Dokumentarfilm, der sich auf sonderbarerweise einfach festsetzt im Kopf. Dokumentarische Arbeiten, die der Kinoleinwand zwar formal und visuell nur wenig anzubieten haben. Die in ihrer formalistischen Einfältigkeit auch irgendwie nerven. Die aber trotzdem etwas lostreten. Einen Gedanken, eine Idee – eine Faszination.
THE QUEEN OF THE DEUCE ist solch eine Arbeit. Ein im schlechten Sinne typisch amerikanischer Dokumentarfilm. Eine wenig kinoaffine Aneinanderreihung von Talking Heads und Archivmaterial. Hier und da noch garniert mit ein paar animierten Sequenzen, als ob das Publikum zu doof wäre, sich aus der Erzählung selber ein Bild im Kopf zu formen. Betreutes Filmgucken.
Trotzdem macht die Filmemacherin Valerie Kontakos in ihrer Arbeit QUEEN OF THE DEUCE etwas richtig. Sie bringt uns in Kontakt mit einer außergewöhnlichen Frau, deren Leben den ganzen (schrecklichen) Wahnsinn des 20. Jahrhunderts individuell spiegelte: Chelly Wilson.
Königin der Porno-Kinos
Chelly Wilson floh, sich aus einer Familie armer sephardischer Juden in Salonika (dem heutigen Thessaloniki) zu Geld und Einfluss emporarbeitend, auf dem letzten Schiff, das 1939 Athen Richtung Amerika verließ. Ihre Rettung vor der Vernichtung, nicht ohne vorher noch ihre junge Tochter in einer Pflegefamilie zu verstecken. Sie fing in einem unbekannten Land und einer ihr unbekannten Sprache neu an, mit einem Imbisswagen. Hot Dogs & Pepsi. Sie steigerte sich zu einem Kino und wurde schließlich in den 70ern zur ziemlich reichen Königin der Porno-Kinos in New Yorks 8th Avenue, auch genannt The Deuce.
Egal wie konventionell die Herangehensweise auch sein mag, dieser Lebensgeschichte ist kein formaler Widerstand gewachsen. Sie drängt sich in all ihrer Faszination und Außergewöhnlichkeit so oder so auf die Leinwand. Hier der Schnelldurchlauf: Schon in Griechenland, sich nur äußerst ungern den Normen ihrer konservativen Herkunft beugend, brachte sie es schnell zu wirtschaftlichem Erfolg. Selfmadewomen bevor auch nur irgendjemand an die Erfindung des Begriffs überhaupt nur dachte.
Dann die Chuzpe, die eigene Vierjährige in der Heimat bei einer nicht-jüdischen Pflegefamilie zu verstecken, obwohl die gesamte Nachbarschaft (aber nicht die Deutschen) wusste, dass dieses Kind jüdisch ist. Wissend, ein Neuanfang mit Kind im Schlepptau wäre noch viel härter als sowieso schon, und vertrauend darauf, dass die Menschen in der alten Heimat die Klappe halten, um das Kind zu schützen. Sie lag richtig.
Poker mit der Mafia
Schließlich: Amerika. So schlecht sie auch mit der Sprache zurechtkommt, ihr Sinn fürs Geschäft ebnet den Weg. Die alte Erzählung vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Chelly Wilson hat sie zu 300 % mit Leben erfüllt. Imbiss, Kino, Porno-Kino, Porno-Studio, Porno-Vertrieb, Immobilienkönigin.
Dazwischen nur ein paar vergleichsweise fast schon unbedeutende biografische Stichpunkte: Leidenschaftliche Unterstützerin des griechischen Widerstands gegen die deutschen Faschisten. Erste Frau überhaupt, die ein Porno-Kino eröffnet. Erste Porno-Unternehmerin, die ein Porno-Kino für schwule Männer eröffnet. Dazu noch Shopping-Bags voller Bargeld im Wohnzimmer, Pokerspiele mit der Mafia (die Mafia hatte Respekt vor ihr) und ein spätes Ausleben ihres Lesbischsein.
Dass sie ihre erwachsene Tochter im eigenen Porno-Unternehmen beschäftigte, muss das noch erwähnt werden? Oder dass sie ihren erstgeborenen Sohn erster, gleichermaßen arrangierter wie verhasster Ehe schließlich 1948 de facto aus den Händen der frisch gegründeten israelischen Armee herausklaute – sattsam Geld und ihr schier untrügliches Geschick für Deals einsetzend?
Wie gesagt, kinematografisch ist diese Arbeit vernachlässigbar, das Gegenteil der Opulenz von Chelly Wilsons Wohnung. Die übrigens stilecht über dem eigenen Pornokino lag. Aber eben, diese Lebensgeschichte, sie setzt sich einfach im Kopf fest. Was für ein unglaubliches Leben! Es schreit nach weiteren filmischen Auseinandersetzungen, nur nächstes Mal hoffentlich der Außergewöhnlichkeit Chelly Wilsons auch filmisch gerecht werdend.
• QUEEN OF THE DEUCE, GR 2023, Valerie Kontakos, 78′, dokumentarische Arbeit
23. Oktober 2024, 22:59 Uhr | Sexy Van Life
Wir starten in einem Van, der zu einem Wohnmobil ausgebaut scheint. Zwei Frauen sitzen vorne, die Fahrerin fragt die Beifahrerin, wohin sie will. Einfach weg, antwortet diese schmallippig. Okay, Fremde, dann also einfach weg. Die Stimmung wirkt trotz des rätselhaften Intros der Namenlosen entspannt. Eine sehr schöne Montage aus Bildern und Musik illustriert die gemeinsame Fahrt zu einem unbekannten Ziel. Harter Schnitt.
Ein Rastplatz, Pause. Beide sitzen nebeneinander auf dem Bordstein des Parkplatzes, teilen sich eines dieser schrecklich geschmacksbefreiten Sandwiches mit weißestem Weißbrot, wie man sie eben nur in Raststätten bekommt. Wie es schmeckt? Nun ja. Eine zarte Annäherung bricht sich Bahn, das gegenseitige Interesse oder wohl eher Begehren scheint geweckt. Wieder Schnitt.
Der Van parkt irgendwo in der Pampa, weit und breit niemand. Sie steigen aus und flux entspinnt sich ein ungemein sinnliches und elektrisierendes Warm-up. Ihre Körper geilen sich aneinander auf, aber eben nur das. Der zügige Umschnitt ins allzu Explizite bleibt erst einmal aus. Sie stehen da im Gras, angelehnt an den Van; mildes Licht färbt die Szenerie, färbt ihr intensiver werdendes Spiel miteinander. Wohlige Behaglichkeit und irgendwie auch Geborgenheit wohnt dieser Sequenz inne. Der Cast, die beiden Performer:innen, strahlen eine fesselnde Nähe zueinander aus. Ein perfekt auf die Stimmung abgestimmter Soundtrack unterstreicht die visuelle Ebene.
Schlüssel zu einer gelungenen sexuellen Erzählung
Nach dem furiosen letztjährigen Beitrag A TASTE OF YOU, in den „Female Porn Shorts“, kehrt die österreichische Filmemacher:in Bea Blue nun mit MY STRANGER erneut ins Pornfilmfestival Berlin zurück, diesmal in die Kurzfilmrolle „Lesbian Porn Shorts“. Und einmal mehr beweist sie ihre handwerkliche Qualität als Filmemacher:in sowie ihr Gespür für eine Inszenierung, die ungemein atmosphärisch und geschmackvoll ist. Wenn mensch so will, codiert sie die Bedeutung von Vanilla auf ihre Weise um. Statt etwa peinlich prüdem Herumwurschteln von Körpern: absolut sinnlicher wie heißer Sex, der eingebettet ist in eine ausgesucht ästhetische Bildgestaltung und eine subtil packende Klangwelt auf der Tonspur. Die stringente und fesselnde Montage nicht zu vergessen.
Die Form ist dabei zu keinem Zeitpunkt Selbstzweck, sondern die Bühne für Performer:innen, die bewundernswert furios miteinander in (sexuelle) Resonanz gehen. Das ist in MY STRANGER bzw. mit Serafina Sky und Ana B nicht anders als in TASTE OF YOU bzw. mit dem Berliner Performance-Duo Toussik. Resonanz – im Kontext sexuell explizit erzählender Filme ein vielleicht bisher unterbelichteter Aspekt.
Doch genau genommen ist es eigentlich der Schlüssel zu einer gelungenen sexuellen Erzählung. Denn schließlich wollen auch wir als Publikum am Ende nicht weniger als in Resonanz gehen mit den sexuellen Freuden, die wir da sehen. Und Bea Blue versteht es virtuos, diesen Resonanzraum auf die Leinwand zu bringen. Fantastisch.
• Die Arbeiten von Bea Blue sind beim Kreuzberger Streaming-Anbieter CHEEX verfügbar.
23. Oktober 2024, 17:38 Uhr | Bed Time Stories
Wir blicken für einen kurzen Moment in ein Tal hinab, dann schneidet das Bild auf ein Bett im Gras: ein richtiges Ehebett mit ornamental verzierten Metallstreben an beiden Enden. Man könnte auch sagen, ein altes Bett. Ein Bett, das ein ganzes Menschenleben gesehen beziehungsweise gelegen hat. Plötzlich setzt sich das Bett in Bewegung, rollt den Abhang ins Tal hinab, durch hohes Gras und ein Kornfeld, bis es unter einem Baum stehen bleibt. Schnitt.
Ein Körper erscheint plötzlich auf dem Bett, ein nackter Männerkörper.
Noch ein Schnitt und ein nackter Frauenkörper erscheint neben ihm. Die beiden beginnen, herumzumachen, spielerisch umeinander herumzutollen, um das Bett herumzuflitzen, sich über das Bett hinwegzujagen. Rein ins Bett, raus aus dem Bett, übereinander herfallend, voreinander ausbüchsend. Einige Momente geht das so, das Bett hat einiges auszuhalten, dann Schnitt.
Ein nackter älterer Mann sitzt in einem Baum über dem Bett, spielt eine Trompete.
Schnitt, ein Mann mittleren Alters sitzt im Schneidersitz auf dem Bett, scheinbar meditierend.
Schnitt, plötzlich fliegt ein jüngerer nackter Männerkörper über das Bett, rein ins Bild, raus aus dem Bild.
Schnitt, eine Familie, Menschen verschiedener Generationen stehen angezogen um das leere Bett herum. Offenbar in Trauer. Schnitt.
Miniaturen von kleinsten Erzählungen in der Erzählung
Aus dem Schicksal eines Bettes, oder auch: Die Geschichte eines Menschenlebens erzählt durch ein Bett. So ließe sich die, in Ermangelung anderer passender Worte, Story von James Broughtons THE BED paraphrasieren. Allerdings ist dieses experimentelle Kleinod aus dem San Francisco der späten 1960er Jahre viel mehr.
Mit seinen Stakkato-Schnitten, mit diesen lichtdurchfluteten und mit schnellstem Strich hingetupften Miniaturen von kleinsten Erzählungen in der Erzählung – und seiner experimentellen Soundtrack-Gestaltung – wirken diese 20 Minuten Film wie ein Traum. Irrlichternd, jeglicher Zeit entrückt, fantastisch, versatzstückhaft, bruchstückhaft, ephemer, verrückt, verwunschen.
Ein, das Wort ist angebracht, bezaubernder Bilderreigen, der den Kopf auf eine Reise schickt und uns zugleich mit elementaren Fragen unseres Seins konfrontiert. THE BED ist Teil der Retrospektive im Pornfilmfestival 2024, zusammengestellt vom kanadischen Kurator Jon Davies, die sich San Francisco als utopischem Ort sexueller Freiheit zwischen den 1960ern und 1990ern nähert. Eine Phase also, die gleichermaßen sexuelle wie filmkünstlerische Energien freisetzte und Dinge möglich machte, die heute wie aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Schließlich existiert auch das San Francisco, welches THE BED möglich machte, heute längst nicht mehr.
Plötzlich setzt sich das leere Bett wieder in Bewegung, diesmal liegt die Kamera im Bett und wir rumpeln mit ihr weiter den Abhang hinab ins Tal. Denn schließlich haben jeder Traum und jedes Menschenleben auch jene Phasen, bei denen man nicht weiß, wo man landen wird, wo die Dinge einfach passieren. Außer Kontrolle.
23. Oktober 2024, 14:55 Uhr | Orgie der Verdammten
Filmische Dystopien sind ein schwieriges Sujet. Weniger, weil sie auf das Hervorrufen von Unbehagen im Publikum abzielen. Nein, die gelungeneren Arbeiten des Genres erfüllen diese Aufgabe sogar besonders gut. Eher, weil sie filmisch zumeist aufwändig in der Umsetzung sind und allzu dünn gestricktes Storytelling da schon mal unter dem Gewicht von Setdesign, Kameraarbeit und Schauspiel erdrückt wird. Umgekehrt gerinnt jede Story zur Lachnummer, sobald sich die visuelle Inszenierung im Trash verliert. Der Bewegungsspielraum für dieses Genre, das aus der Entgrenzung seine Kraft zieht, ist paradoxerweise sehr eng.
Der österreichische Filmemacher Norbert Pfaffenbichler stellt mit 2551.02 – THE ORGY OF THE DAMNED nicht nur einen der (drei) Eröffnungsfilme des Pornfilmfestival 2024 vor, sondern auch eine ausgesucht abgründige Dystopie. Abscheulich wäre ein anderes passendes Wort. Angesiedelt in einer zeit- und ortlosen, dafür aber reichlich düsteren, madenverseuchten und um keine Ekel-Perversion verlegenen Unterwelt aus Tunneln und Katakomben, lässt er uns einer männlichen Affengestalt und ihrer Suche nach einem verlorenen Kind folgen.
Wir sehen hier den zweiten Teil einer Trilogie. Wie uns ein Introtext zu Beginn wissen lässt, erzählt der erste Teil die Begegnung des Affenmenschen mit dem Kind. Obgleich der Affenmensch das Kind zunächst loswerden will, entwickelt sich doch eine Verbindung, bis das Kind entführt wird. Teil zwei setzt nun nach der Entführung ein. Die Suche beginnt.
Er sucht Sie
Pfaffenbichler, der eigentlich aus dem experimentellen Filmschaffen kommt, führt in dieser Geschichte diverse Erzählstränge parallel: die Suche des Affenmenschen nach dem Kind, das Schicksal des Kindes in den Händen einer Art neofaschistischer Polizei und die Suche ebendieser „Polizei“ (angeführt von einem hinkenden Kommissar mit Schnabelmaske) nach dem Affenmenschen.
Der Affenmensch wiederum kommt aber ersteinmal von seiner Kindssuche ab, denn die äußerst gewaltvolle Begegnung mit einer geheimnisvollen Fremden in mexikanischer Boxermaske bringt ihn zwar halb um, lässt ihn aber offenbar auch eine Art Gefallen an der Fremden finden. Noch eine Suche beginnt: Er sucht sie. Aber die Fremde hat eigentlich kein Interesse daran, gefunden zu werden. Die Konventionen linearen Erzählens wollen es so, dass sich irgendwann all diese Storys irgendwo in 82 Minuten Laufzeit kreuzen. Mit manchmal durchaus überraschenden Ergebnissen, um Plottwists ist diese Arbeit jedenfalls nicht verlegen.
Grundlegendes Unbehagen
Gleichwohl hat THE ORGY OF THE DAMNED ein Problem, etwas funktioniert nicht. Pfaffenbichler und sein Team investieren viel Energie in Setdesign, Bild-, Sound- und Lichtgestaltung. Auf der visuellen Ebene ist dies deshalb ein herausragender Film. Was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Kontextualisierung, Dramaturgie und Schnitt nicht recht vorankommen.
Alle wirklich markerschütternden Arbeiten im Genre Horror und Dystopie vermögen es, ihrem Publikum grundlegendes Unbehagen einzuflößen. Sie beschlagnahmen Erwartungshaltungen, okkupieren die Fantasie, zelebrieren Ängste – kurz: sie verhexen den Kopf.
THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE war in Deutschland nicht jahrzehntelang verboten, weil es eine besonders bluttriefende Veranstaltung ist. Im Gegenteil, dieser Kultklassiker kommt mit überraschend wenig Blut aus. Durch eine sehr kluge oder besser gesagt ausgesucht fiese Montage evoziert Tobe Hooper einen Horror von legendär verstörender Qualität in seinem Publikum.
Unsere Realität
Wenn auch mit den Mitteln und dem Budget des (Action-)Mainstream-Kinos gedreht, gelingt Alfonso Cuarón in seinem Meisterwerk CHILDREN OF MEN eine ähnliche Erschütterung durch seine Erzählung von einer Menschheit, die ob weltweiter Unfruchtbarkeit dem Ende geweiht ist und deren zivilisatorischer Firnis sich darüber allmählich komplett zerlegt. Nicht ohne Grund angesiedelt in einer Welt, die der Realität vor der Kinotür fast aufs Haar gleicht, oder einst geglichen hat.
Auch die Zombie-Meisterwerke 28 DAYS LATER und 28 WEEKS LATER spielen mit dem Element einer Welt, die bis eben noch unsere gelebte Realität gewesen sein könnte. Wenngleich genretypisch etwas blutig, vermögen Danny Boyle und Juan Carlos Fresnadillo es virtuos, jegliche Hoffnung auf Rettung zu pervertieren und dem Publikum (vor allem in 28 WEEKS LATER) den finalen Wirkungstreffer erst am Ende zu versetzen. Kinomomente, die sich für immer einbrennen.
THE ORGY OF THE DAMNED lässt indes manches an montagetechnischer Raffinesse vermissen, um dem Publikum wirklich den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Der Aufenthalt in diesem Horrorhausen gerinnt sattdessen irgendwann zur Litanei, deren dramaturgische Schwächen immer stärker zutage treten. Längen stellen sich ein.
Auch der erzählerische Überbau einer komplett nihilistischen und aus ausschließlich abscheulichen Gestalten bestehenden Unterwelt entfaltet nicht jene Gravitationskraft, um die gezeigte Handlung mit dem notwendigen Terror aufzuladen. Das sieht zweifellos gut aus, nutzt sich aber alles sehr schnell ab.
Was am Ende von dieser Arbeit übrig bleibt, ist vor allem die Erinnerung an ein Lichtdesign, das mit seiner faszinierend vielfältigen monochromatischen Lichtsetzung und dem klugen Einsatz von Farbkontrasten zumindest einige visuell äußerst ansehnliche Momente auf die Leinwand bringt. Immerhin. Und die Dystopie ist sowieso längst unsere Lebensrealität.
22. Oktober 2024, 23:55 Uhr | Düsternis allenthalben
Mit der nunmehr 19. Ausgabe lädt das unabhängige Berliner Pornfilmfestival zu sechs Tagen vollgepackt mit filmischen Erzählungen über den menschlichen Körper, Geschlechter, Begehren, Lust und Sex.
35 fiktionale und dokumentarische Arbeiten in Spielfilmlänge und satte 18 Kurzfilmrollen wurden für den Jahrgang 2024 ausgewählt. Zudem präsentiert das Kurator:innen-team um Jürgen Brüning, Manuela Kay, Paulita Pappel, Kiki Petersen, Constanza Godoy und Walter Crasshole ein Retrospektiven-Programm des kanadischen Kurators Jon Davies, Thema: San Francisco Sexual Babylon.
Nicht zu vergessen, die zweite Ausgabe des Branchen-Programms „Adult Industry Only“, die sich mit ihrem umfänglichen Workshop- und Diskussionsprogramm dezidiert an Performer:innen, Filmemacher:innen, Produzent:innen und Verwerter:innen richtet (was in der unabhängigen Porno-Community häufig ein und dieselbe Person meint).
Talk mit der EU?
Auf der Tagesordnung für 2024 stand dabei auch die Paneldiskussion „Future of the Adult Sector: New Law, New Tech, New Voices“ am Eröffnungstag des Festivals. EU-Direktiven wie beispielsweise der Digital Services Act (DSA) machen vor der Pornobranche keinesfalls halt. Ursprünglich war, erstmals überhaupt in einer Veranstaltung der Pornobranche, dazu eine Vertreterin der EU-Kommission als Sprecherin angekündigt. Doch die Vertreterin der Kommission cancelte ihre Teilnahme kurzfristig am Dienstagmorgen.
Hat man in Brüssel sonst keinerlei Scheu, sich mit Lobbys aller und selbst der problematischsten Art auszutauschen (fossile Energien, Atomwirtschaft, Rüstungsindustrie, Big Tech etc.), hört der Wagemut offenbar auch 2024 immer noch dann auf, wenn es um Vertreter:innen jener Branche geht, deren Produkte in nahezu jedem EU-Haushalt zum Alltag gehören. Ein irritierendes Vorgehen der Kommission.
Aber während die EU wenigstens oberflächlich zum Gespräch mit der Branche bereit schien, verweigert die deutsche Politik den Dialog völlig. Stattdessen gewährt sie lieber den sogenannten Jugendschützern die lange Kette und führt aktuell eine der restriktivsten Regulierungen von Erwachsenen-Angeboten unter allen EU-Mitgliedern. Bevormundung und Repression statt Dialog – ein wiederkehrendes Muster deutscher Politiker:innen im Kontext von Sexarbeit.
Porn Made in Germany?
Wenn es um Branchenfragen geht, stellt das Pornfilmfestival Berlin in gewissem Maße ein Paradox dar: Seit 19 Ausgaben erweist es sich als ein Nährboden für neue Stimmen, Talente, Filmsprachen und Filmverwertungsformen im Bereich des unabhängigen sexuell expliziten Erzählens. Wenn man so will, ist das Festival ein zentraler Motor der unabhängigen Pornobewegung.
Zugleich residiert das Festival qua Impressum in Spanien und sieht sich die übergroße Mehrheit der (nicht nur) Berliner Protagonist:innen der Community genötigt, mit ihren Produktionsfirmen und digitalen Verwertungsplattformen ins EU-Ausland umzuziehen, denn der deutsche „Jugendschutz“ fordert von den Firmen immens restriktive und damit teure „Jugendschutz“-Vorkehrungen im Netz. Etwas, das sich die überwiegend aus kleinen und mittelständischen Unternehmen bestehende Community weder leisten noch am Markt erwirtschaften kann. Düstere Aussichten für Porn Made in Germany.
Düsternis allenthalben
Dass die gesamte Menschheit aktuell durch miese Zeiten geht, spiegelt auch die Filmauswahl 2024 auf ihre Weise. Schon einen der Eröffnungsfilme (es gibt dieses Jahr drei!) beschreibt das Programm als „groteske, dystopische und ekelerregende Vision einer auf ihre niedersten Wünsche und verdorbenen Fantasien reduzierten Menschheit“. Die Rede ist vom österreichischen Beitrag 2551.02 – THE ORGY OF THE DAMNED von Norbert Pfaffenbichler (AT 2023).
Ähnlich abgründig liest sich auch die Einführung zur Kurzfilmrolle „XXXX Porn Shorts“: „Spiele mit Körperflüssigkeiten (Blut und darüber hinaus), Gewalt und Vergewaltigungs- und Rachefantasien“, oder die zu den „Angst und Horror Porn-Shorts“: „mitunter wird es sehr blutig oder es kostet sogar das Leben“.
Dass die Festival-Klassiker „BDSM Porn Shorts“ und „Fetish Porn Shorts“ um Erkundungen sexueller Abgründe nie verlegen sind, ist Festival-Stammgästen längst geläufig. 2024 scheinen die Erkundungen der Düsternis (auch der sexuellen) indes einen regelrechten Schwerpunkt im Programm zu bilden. Film als Resonanzraum der Gegenwart.
Sexual Babylon
Erinnerungen an vermeintlich bessere Zeiten haben in Krisen besonders Konjunktur. Vor dieser Folie gelesen, wirkt die Retrospektive 2024 wie eine Einladung zur totalen Realitätsflucht. „San Francisco Sexual Babylon“, kuratiert von Jon Davies, versammelt in sechs Programmen filmische Erkundungen San Franciscos als Vortex gesellschaftlicher und sexueller Befreiung zwischen 1960 und 1990.
Vor allem die 1960er und 1970er waren in San Francisco, in den USA und weltweit Jahrzehnte des Umbruchs und der gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Kurzum, Zeiten, die auf gewesene und drohende Abgründe mit Utopien zu antworten versuchten und diese auch gleich im Alltag lebendig werden ließen.
Machen wir uns nichts vor, selten zuvor war utopische Kraft so bitter nötig wie dieser Tage. Nichts einzuwenden also gegen ein bisschen Realitätsflucht. Und vielleicht liegt der erste Schritt zu einer besseren Zukunft ja in einer Zeitreise ins (ehemalige) „Sexual Babylon” namens San Francisco.
Danke für diesen sachlichen Artikel und den überraschend freundlichen Umgang mit Genre. Freilich wäre die1:1 Übertragung der sinnlichsten Momente glücklicher Menschen einer früheren Epoche in San Francisco der langweiligste Film der jemals gedreht wurde. Um Wirkung zu erreichen, muss Film anderes tun.
Gefahr lauert, wenn Porno massenhaft konsumiert wird, während reales Erleben außerhalb der Erreichbarkeit bleibt. Wenn die Fiktion also die Realität ersetzt und dann auch irgendwann in sie eintreten kann.
Eltern und Schulen sollten verantwortungsvoll dazu anleiten, eine Tüte zu rauchen, Grateful Dead zu hören und dabei Slowsex zu haben.