Lady Maclaine, vielleicht haben wir ihre Existenz in der Geschichte der BDSM-basierten Sexarbeit Deutschlands dem Deutschen Film zu verdanken. Wahrscheinlich inspirierte das Sehen von DIE FLAMBIERTE FRAU von Robert van Ackeren die junge Tina Spahr dazu, den Beruf einer professionellen Domina zu ergreifen.
DIE FLAMBIERTE FRAU erzählt von der jungen Eva aus besseren Verhältnissen, die die Welt der Sexarbeit für sich und als Werkzeug der Befreiung von bürgerlichen Fesseln entdeckt. Durch einen Zufall kollidiert sie mit BDSM und entwickelt sich bald zur sehr erfolgreichen Domina. Doch ihr Erfolg stürzt die Beziehung zu ihrem männlichen Love Interest in eine folgenschwere Krise.
Nachbarn
Tina Spahr stammt aus bürgerlichen Verhältnissen. Ihr Zuhause, ihre Eltern, Generation Nachkriegszeit, hatten für sie nie jene Liebe übrig, die ein kleines Mädchen braucht. Insbesondere das Verhältnis zur Mutter war problematisch: „Meine Mutter wollte mich nicht. Sie war eine böse Frau und sie war böse zu mir“, gibt Tina Spahr in Rosa von Praunheims dokumentarischer Arbeit 30 JAHRE AN DER PEITSCHE zu Protokoll. Es ist dann auch dieser Mangel an Liebe, den Spahr als ein sie ewig begleitendes Element ihres weiteren Lebens beschreibt. Wir kommen darauf noch zurück.
Mit 30 JAHRE AN DER PEITSCHE, Weltpremiere am 25. Oktober 2024 bei den Hofer Filmtagen und Berlin-Premiere am 27. Oktober 2024 beim Pornfilmfestival Berlin, nähert sich Rosa von Praunheim dem Leben von Tina Spahr alias Lady Maclaine. Die beiden kennen sich schon lange als Nachbarn. Praunheims Wohnhaus in der Konstanzer Straße in Wilmersdorf, dem Epizentrum Berliner Bürgerlichkeit, beheimatete über mehrere Jahrzehnte auch das Studio von Lady Maclaine.
Tanz der Formen
In Praunheims Fall muss man den Begriff der dokumentarischen Arbeit genauer betrachten: Viele seiner Werke können als Dokumentarfilme im eher altbackenen Sinne beschrieben werden, sprechende Köpfe und so weiter. Visuell ist da wenig zu holen fürs Kino. Allerdings wissen wir bei Praunheim nie so genau, wo wir am Ende rauskommen, wo ihn (und damit uns) die „Geschichte“ hinverschlägt. Praunheim-Dokus beziehen aus dieser Offenheit für die Unvorhersehbarkeit ihren großen Reiz. Für den Kinoraum spannender sind Praunheims hybride Arbeiten. Im Kern zwar zweifelsohne dokumentarische Erzählungen, aber eingewoben in einen dichten Teppich aus Sequenzen fiktionalisierter Spielfilme und eher klassischerer Dokumentation.
Gelebtes Leben filmisch zu dokumentieren ist eine schier unlösbare Aufgabe, ist Leben doch nicht weniger als die endlose Gleichzeitigkeit komplexester Zusammenhänge, Handlungen und nicht zuletzt Emotionen. (Dokumentar-)Film als Resonanzraum von Leben muss also Wege für die Greifbarmachung dieser vielgestaltigen Gemengelage finden. Oder scheitern. Die Antwort Praunheims, des früheren Professors für Regie an der Filmuni Babelsberg, auf diese Aufgabe liegt in einem faszinierenden Tanz der filmischen Formen. Eine komplexe und zugleich virtuose Schrittfolge, die aufeinander aufbauend gemeinsam jenen Resonanzraum oder besser Gedanken- und Erinnerungskosmos erschafft, der uns einem Menschen und seinem gelebten Leben näherkommen und ihn verstehen lässt.
Geliebtwerdenwollen
Wie landete Tina Spahr also bei ihrem Beruf einer Sexarbeiterin, Fachgebiet BDSM? Zurück zur Liebesfrage: Der Mangel an Liebe und der tiefe Wunsch, geliebt zu werden, war eine zentrale Triebfeder ihres Lebens, wie sie es beschreibt. Ihre ersten sexuellen Erfahrungen, wirklich genossen hat sie davon keine. Ihr ging es darum, so erklärt sie es uns, aber wohl auch sich selbst, Aufmerksamkeit zu bekommen und gemocht zu werden.
Die Sucht nach Liebe oder wenigstens nach einem positiven Gefühl, nach Glück – vielleicht ist es wenig überraschend, dass Tina Spahr schnell in der Spielsucht landete. Die Filmbilder zeigen uns die fiktionalisierte und sehr schöne Tina (dargestellt von Katja-Inga Baldowski) in einem verrauchten, aber edlen Untergrundcasino. Der Roulettetisch – ein, genauer, ihr verbotenes Königreich im sanften Zwielicht. Das Geld dafür – sie hatte es nie. Aber gewisse Männer hatten es zuhauf. Eine Mischung, geschaffen für den Untergang. Eigentlich.
Meinhard
Meinhard, Tina Spahrs Lebenspartner für über zehn Jahre, war auch eine ihrer Geldquellen und Besitzer jenes Clubs mit dem illegalen Casino. Ein aufregender Typ, so scheinen es die ungemein atmosphärisch dichten Filmbilder zu erzählen – bis der Umschnitt Tinas erste Begegnung mit Meinhards Wohnung illustriert. „Sogar auf dem Nachttisch hatte er Spitzendeckchen“, kommentiert Tina Spahr die Filmbilder einer bürgerlichen Spießerhölle auf der Tonspur.
Tina, die zwei Wochen vor dem Abitur aus ihrem verhassten bürgerlichen Zuhause abhaute, der Liebe oder vielmehr dem Geliebtwerdenwollen wegen, landet plötzlich zwischen Spitzendeckchen, Porzellanpüppchen und Ehebett mit Besucherritze. Sie blieb.
Ausgerechnet in diesem Setting macht sie Bekanntschaft mit dem, was schließlich mal ihr Beruf werden sollte: BDSM. Es ist Meinhard, der ihr dieses Begehren offenbart, als es sexuell nicht mehr so zwischen den beiden läuft, also für Tina gefühlt das Geliebtwerden in Gefahr gerät – und ihre Geldquelle.
Käfig und Roulette
Praunheim arbeitet in 30 JAHRE AN DER PEITSCHE deutlich heraus, wie widerwillig und unbeholfen Tina Spahr die Rolle der Domina zunächst annimmt, kaum wissend, was sie da tut und vor allem wie. Aber Tina Spahr macht ebenso klar, dass sie in diesem Spiel nicht die allein Getriebene war. Meinhard, so scheint es, konnte sich seine eigenen Dämonen auch nur als Sklave auf Abstand halten.
„Ich bin keine Sadistin, mit meiner eigenen Sexualität hat das nichts zu tun“, lernen wir gleich zu Beginn des Films von der Protagonistin. Trotzdem wurden es am Ende 30 Jahre im Beruf der Domina. Als sie anfing, besaß sie schon alles, was sie dafür brauchte, Meinhard hatte ihr einen Playroom eingerichtet, Käfig inklusive. Doch nachdem Tinas Dämon, das Roulette, einmal mehr zugeschlagen und Meinhard dabei halb umgebracht hatte, lief auf dieser Ebene nichts mehr zwischen beiden. Im Käfig – nur noch Staub. Warum nicht Geld machen mit dem Kram? Für Spahr schien die Kugel doch wieder auf die richtige Zahl gefallen.
Praunheim, der Pathologe
Wir wären aber nicht in einer Praunheim-Arbeit, würde sich nun alles in Wohlgefallen auflösen. Die Achterbahnfahrt von Tina Spahrs Berufs- und Privatleben interpretiert Praunheim auf seine Weise. Und bei aller Raffinesse der Form, Rosa von Praunheim ist im Kern immer noch der aktivistische Filmemacher hinter der wutschnaubenden Erstlingsarbeit NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS. Im Fall von 30 JAHRE AN DER PEITSCHE ist irgendwann nicht mehr zu übersehen, wie wenig Praunheim seine kritische Position zu BDSM zügeln kann.
Auch Tina Spahr ist weit weg von Glorifizierung, sie weiß um die Ambivalenzen und Vorurteile (auch ihre eigenen) gegenüber BDSM. Doch wo Spahr in den dokumentarischen Sequenzen spürbar bemüht ist, ihr irres Leben einerseits und die Professionalität und Ernsthaftigkeit ihres Berufs und ihrer Berufsausübung andererseits verständlich zu machen, gerät Praunheim auf Abwege der Pathologisierung von BDSM-basiertem Begehren.
Begehren, dessen tiefere Motive und Wurzeln keiner simplen Kausalität folgen. Die Welt des Kink ist eine verdammt komplexe Veranstaltung, die binäre Erklärmuster immer ins Scheitern führt. Sie ist oft einfach im Moment, so wie BDSM-Spielpartner tief in einer Session oft einfach nur sind. Körper, aufgelöst in Lust und Empfinden, in Trance und Sinnesrauschen. (Fantastisch) entgrenzt jenseits der Nachvollziehbarkeit – und für eine Berufs-Domina übrigens ein ungemein anstrengender Arbeitsgegenstand, wie Tina Spahr unumwunden klarstellt. Praunheim hält diese Entgrenzung, hält dieses ewig ephemere Unbekannte der Conditio humana nicht aus. Er muss, er kann gar nicht anders, als Menschen im BDSM und ihr Begehren zu pathologisieren.
Praunheim, Staatsanwalt der Lust
Doch wenn ein Filmemacher hinter jedem Peitschenhieb eine beschädigte Seele wähnt, die mit Erniedrigung und Schmerz den falschen Weg der Besserung wählt, gar vermeintlich missbraucht wird, gerinnt jede Filmminute zur Anklage und wirkt die auffallende Fixierung auf die Abgründe von Tina Spahrs (Berufs-)Biografie in 30 JAHRE AN DER PEITSCHE ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch abstoßend. Werden Tina Spahrs Erinnerungen als Beweise zweckentfremdet und wird Film-Tina in den fiktionalisierten Spielfilmsequenzen zur Kronzeugin des Anklägers einer Welt, die in seinen Augen wohl gar nicht existieren sollte, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Allerdings: Wirklich überraschend ist das bei Praunheim nicht. Sexpositivität suchte man in seinen Arbeiten im Feld der menschlichen Lust immer schon vergebens. Stattdessen: Der Filmemacher als Staatsanwalt der Lust. Bei BDSM in Deutschland scheint Praunheims Position auf eine Kategorisierung als krankhafte Obsession zur Überformung von Trauma hinauszulaufen. Im Fall der Generation von Tina und Meinhard, jener Traumata von Nachkriegskindern, die ihre seelischen Verwundungen durch die kriegsgeschädigte deutsche Tätergeneration nur mehr in der Perversion noch auszuhalten vermögen, anstatt zum Therapeuten zu gehen.
Glück
Das mit dem Glück wurde für Tina Spahr dann doch noch was. Sie war über Jahrzehnte in ihrem Beruf erfolgreich und bildete in dieser Zeit zudem 30 Frauen im Beruf aus, die heute oft in eigenen Studios als Dominas Klient:innen versorgen. Und sie ging zur Therapeutin – um (erfolgreich) die Spielsucht zu überwinden, wenn auch nur durch einen schmerzhaften, aber folgerichtigen Schnitt. Zu ihrer eigenen Überraschung erbte sie außerdem von ihren verhassten Eltern ein gewisses Sümmchen, sodass ihr heute ein bequemes Leben als Rentnerin möglich ist.
Das mit dem Schlagen von, nun ja, Bällen hat sie übrigens nicht aufgegeben. Indes, statt im schwarzen Lederdress, schlägt sie heute im pinken Poloshirt Bälle – als erfolgreiche Spielerin eines Golfclubs. Klar, bürgerlicher geht es kaum. Aber anders als Praunheim, der seine eigene (Klein-)Bürgerlichkeit immer noch wie ein unterdrücktes Triebschicksal hinter vermeintlich aktivistischem Filmemachen zu verstecken sucht, hat Tina Spahr in der Bürgerlichkeit ihr Glück gefunden. Gut für sie.
30 JAHRE AN DER PEITSCHE, 89′, DEU 2024, R: Rosa von Praunheim, dokumentarische Form
• Die Arbeit wird bei Missing Films, Berlin verliehen.
Wenn der Autor schreibt, Rosa von Praunheim sei nicht sexpositiv in vielen Filmen, dann hat er sich bei allem Respekt nie wirklich mit von Praunheims Werk beschäftigt. Oder er versteht es nicht, zum Beispiel, weil er von Praunheims Filme nicht im entsprechenden zeitlichen Kontext bewertet. Überhaupt scheint der Autor beim Berliner Pornfilmfestival ein ganz anderen Film gesehen zu haben als ich bei den Hofer Filmtagen. Sicherlich ist er aber auch nicht der erste Filmkritiker, der sich beim Schreiben wegen seiner Agenda hat in die Irre führen lassen. Die Kritik macht jedenfalls schlichtweg keinen Sinn, wenn man von Praunheim versteht und keine falschen Schlüsse zieht.