vonfini 25.05.2020

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Für jemanden, der sich wie ich seit nahezu 10 Jahren mit Philosophie, Menschenvernichtung und Normativität auseinandersetzt, ist es absolut seltsam, plötzlich in einem Reallabor dieser ansonsten etwas blutleeren Theorien und Thesen zu sitzen. Schon der morgendliche Gang durch meine E-Mails wirft derzeit grundlegende Fragen auf, die sich an offiziellen Grußformeln wie „Bleiben Sie gesund!“ entzünden.

Ich bin genauso wie jeder andere Bürger*in deutlicher denn je Teil eines nationalen Kollektivs für dessen Fortbestand und Gesundheit ich durch mein individuelles Verhalten zu sorgen habe. Nach Michel Foucault ist dies ein Mechanismus der Biopolitik: Im Ganzen werde ich als Bestandteil der nationalen Bevölkerung reguliert – Statistiken, Rechenbeispiele, rechtliche Vorgaben – und als Individuum werde ich diszipliniert, mich an die offiziellen Regulierungen zu halten, da ich sonst mit sozialem Ausschluss, moralischen Anschuldigungen oder sogar rechtlichen Sanktionen zu rechnen habe. Mein Handlungs- und Verantwortungsbereich reicht nun sehr sichtbar nicht bis an meine eigene Nasenspitze, sondern an die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland.

Der zivilisierte Mensch stirbt nicht

Mit Hilfe dieser Grenzen wird versucht, dem Tod Herr zu werden. Diesem schwer fassbaren und dennoch notwendigerweise zum Leben gehörenden Ding, dem doch eigentlich mithilfe moderner Technologie und gesellschaftlichem Fortschritt Einhalt gebieten wurde. Er ist auf einmal wieder allgegenwärtig und bewusst wahrnehmbar im gesellschaftlichen Leben. Er verbreitet Angst und Panik, weswegen er unbedingt wieder in seine Schranken verwiesen werden muss. Das höchste Ziel und das Versprechen der modernen Zivilisationen ist es, den plötzlichen, massenhaften Tod ihrer Bevölkerung zu verhindern. Biopolitik bedeutet: Leben machen.

Ich stehe daneben und staune, wie im Kampf gegen diesen Tod jedes Mittel in rasender Geschwindigkeit ergriffen wird: Von der empfindlichen Einschränkung unsere Grundrechte bis zur Gefährdung der wirtschaftlichen Stabilität – das hat es bisher noch nicht gegeben, um Menschenleben zu retten. So wichtig ist es, den Tod wieder aus unseren Reihen zu drängen. Irgendwo anders hin, da hinter die Grenzen in die unzivilisierte Welt.

Mord und Totschlag

Mörder! Erschallt es in Podcasts, Zeitungsartikeln, Blogposts, Social Media Kommentaren. Mörder, wer sich nicht an die Vorgaben des Robert Koch Instituts hält. Mörder, wer leichtsinnig handelt. Mörder, wer COVID-19 nicht den entsprechenden zivilisationsbedrohenden Stellenwert gibt. Ich habe 2013 eine Organisation für geflüchtete Akademiker*innen gegründet und in diesem Zuge viel mit der europäischen Asylpolitik zu tun gehabt, aber auch mit dem ganz gewöhnlichen Alltagsrassismus von Menschen und Institutionen. Ich habe erlebt, wie Teilnehmende unseres Programms plötzlich nicht mehr erschienen sind, sich nicht mal erklären konnten, weil sie mitten in der Nacht abgeschoben wurden oder aus Angst davor untergetaucht sind. Wenn jemand nach Eritrea oder Afghanistan abgeschoben wurde, wussten wir: Der Mensch ist tot. Er wurde getötet. In erster Linie durch die eritreische Armee. In zweiter Linie durch die deutsche und europäische Asylpolitik. In dritter Linie durch die Polizeibeamten, die ihn abgeholt haben. Und in vierter Linie auch durch uns, weil wir ihn nicht geschützt haben. Das deutsche Recht würde hier klassischerweise fahrlässige Tötung durch unterlassene Hilfeleistung diagnostizieren.

Ich bin ein Mörder und das schon mein Leben lang. Von ein paar Menschen weiß ich ganz klar, dass mein Handeln oder Unterlassen sie das Leben gekostet hat. Von anderen weiß ich, dass sie starben, weil sie meine Schuhe und Hosen nähten, meine Avocados und Spargel pflückten oder meine Shrimps pulten. Für sie wurde und wird kein Grundrecht eingeschränkt, geschweige denn die neokoloniale Wirtschaft auch nur um Kleinigkeiten verändert. Hier klagt mich niemand als Mörder an. Denn hier wird nur eine subjektlose Menschenmasse (Arbeits-)Bedingungen ausgesetzt, die früher oder später zum Tod führen. Diese Tode seien insofern nicht in meinem Verantwortungsbereich und könnten kausal auch nicht auf mich zurückgeführt werden.

Wenn x, dann y…?!

Das mit der Kausalität ist eine spannende Sache. Sie ist zunächst simpel die Beziehung zwischen einer Ursache und einer Wirkung, in diesem Falle: Die Beziehung zwischen individuellem Handeln und dem Tod von Menschen(-massen). In der Logik würde dies bei einer Monokausalität folgendermaßen formuliert: A ist die Ursache für die Wirkung B, wenn B von A herbeigeführt wird oder auch: A > B. Solche Beziehungen und auch ihre Richtung (also ob A > B oder B > A oder auch A II B) können in der Naturwissenschaft experimentell herausgefunden werden, indem kleine Variationen an A vorgenommen werden und entsprechende Variationen an B festgestellt werden können.

Nun gibt es neben dieser einfachen oder auch Monokausalität, bei der nur eine Ursache eine (oder auch mehrere) Wirkung erzielt, noch weitere Formen der Wirkungsbeziehungen: Nämlich Kausalketten und Multikausalitäten. Kausalketten kennen wir auch als Dominoeffekt oder aktuell aus den Modellen der Virusausbreitung: Wenn A, dann B; wenn B, dann C; wenn C, dann D usw. Diese Kausalitäten sind streng voneinander abhängig und führen immer wieder auf dieselbe Weise zu derselben Wirkung.

Kompliziert wird es nun bei den Multikausalitäten: Mehrere Ursachen bewirken eine oder auch mehrere Wirkungen. Also beispielsweise: Wenn A und B, dann C; wenn A, B und C, dann D und E; wenn A, B, C und D, dann E, F und G usw. Hier ist eine Wirkung nicht die Folge einer Ursache, sondern dem Zusammenspiel mehrerer, verschiedener Ursachen. Insbesondere bei komplexen Zusammenhängen wie globalen Auswirkungen bspw. bei der durch Menschen hervorgebrachten Veränderung des Klimas, haben wir es mit Multikausalitäten zu tun.

Bei Multikausalitäten wird es nun wahnsinnig schwierig, den jeweiligen Einfluss der einzelnen Ursachen empirisch festzustellen, da hierfür jeweils ein neues Variationsexperiment vorgenommen werden müsste. Inzwischen sind wir dank moderner Technik dazu in der Lage viele dieser Experimente errechnen zu lassen, der einzelne Mensch kann dies jedoch insbesondere in Alltagssituationen nicht. Beim moralischen Empfinden wird dann also in Folge einer Überforderung eine der Ursachen, deren Wirkung scheinbar einsehbar ist, herausgegriffen und moralisch (über-)bewertet im Verhältnis zu den übrigen Ursachen. Dies ist jedoch der verzweifelte Versuch, Multikausalitäten auf Monokausalitäten oder Kausalketten herunter zu brechen, obwohl es denn Multikausalitäten bleiben: Weder das Regenwasser, das sich auf dem Dach gesammelt hat, noch ein schwerer Ast, der auf das Dach weht, hätten es jeweils zum Einsturz gebracht – in Kombination allerdings schon, weswegen sowohl das Wasser als auch der Ast „Schuld haben“ (um bei dieser moralischen Kategorie zu bleiben).

Die neue Normalität: Unter Mördern

Die Anklage „Mörder!“ ist also in jedem Falle richtig: Wir sind als eine von mehreren Ursachen beteiligt am Tod der Corona-Kranken, wenn wir uns nicht an die Vorgaben der Virologen halten. Wir sind auf dieselbe Weise beteiligt am Tod der Arbeiter*innen in den Nähfabriken in Bangladesch, der Inhaftierten in den lybischen Internierungslagern und der Fliehenden an den Grenzen Deutschlands, die hier nun kein Asyl mehr beantragen können. Um nur ein paar der hunderttausende Tode zu nennen, die unser ganz alltäglicher Konsum und damit unser Wirtschaften verursacht. Eine Todesursache ist also seit Jahren und Jahrzehnten jeder von uns – nur bisher war das für unser Kollektivempfinden kein Problem. Unangenehm und kaum zu vereinbaren mit dem Selbstverständnis, die Krone der zivilisatorischen Schöpfung zu sein.

Nun ist aber der Tod nach Deutschland zurückgekehrt. Es sind nicht mehr die, die sterben, es sind wir – es sind womöglich meine Eltern, Großeltern oder ich selbst in Folge der Überlastung des Gesundheitssystems. Damit hat die Biopolitik, die seit dem 18. Jahrhundert unsere Regierungsart bestimmt und uns „Leben macht“, ihr Versprechen gebrochen. Wir sind verwundbar, wir sind verletzlich und wir werden sterben.

Wir spüren gerade am eignen Leib, dass Globalisierung multikausal funktioniert. Dass einfache und direkte Ursache-Wirkung-Zusammenhänge nicht mehr greifen. Dass wir doch nicht die „Guten“ sind und die eine Ursache finden, ausmerzen und danach geht alles weiter wie gewohnt. Das wird nicht wieder. Und erst recht nicht gut.

Willkommen in der neuen Normalität.

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