vonfini 04.11.2022

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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(Der folgende Text wurde mir von einer Gruppe zugesendet, die sich “Reflektionsraum NRW” nennt. Der Text wurde bereits auf Indymedia veröffentlicht in Form einer PDF zum herunterladen, ausdrucken und auslegen. Allerdings ist die Plattform teilweise nicht erreichbar, deswegen veröffentliche ich ihn zusätzlich auf meinem Blog in 3 Teilen.)

Derzeit gibt es auch in der deutschen Linken vermehrt sogenannte „Outings“ von Täter*innen, denen sexuelle Übergriffigkeiten und/oder Missbrauch vorgeworfen werden. Besonders sichtbar verhandelt wurden oder werden vor allem Vorwürfe gegen „prominente“ Personen bspw. im Musikkontext. Allerdings ist das natürlich nur die Spitze des Eisbergs und wie bei den meisten sozialen Praxen, häufen sich derzeit die Vorfälle, weil es nun eine Möglichkeit gibt, sie zu artikulieren und Gehör zu finden. So fragt sich manche*r Genoss*in derzeit, unter welchen Menschen er*sie eigentlich die letzten Jahre freundschaftlich gelebt bzw. mit welchen Menschen er*sie politisch ggf. durchaus riskante Dinge getan hat und wie mit solchen Vorfällen umgegangen werden soll – insbesondere, wenn eine allgemeine Vorsicht besteht, die Polizei und die bürgerliche Gerichtsbarkeit einzuschalten.

Wir beschäftigen uns aus verschiedenen Gründen schon länger mit dem Thema, sind seit Jahren/Jahrzehnten Aktivist*innen, Awareness-Personen oder haben als Sprösslinge linksaktiver Möchtegern-Dynastien interessante Perspektiven beizutragen, weswegen wir uns als lose Vernetzungsgruppe in NRW entschieden haben, hierzu einen Text zu veröffentlichen. Er soll Menschen Werkzeuge an die Hand geben, Prävention zu üben, sich in diesem hässlichen Feld zu bewegen, bestimmte Fehler nicht selbst machen zu müssen und aus einer passiven Haltung herauszufinden. Fühlt Euch deswegen eingeladen, über diesen Text zu sprechen, mit ihm zu arbeiten oder ihn für Eure Zwecke anzupassen. Sowohl Einzelpersonen als auch Gruppen haben in Sachen Prävention von sexuellen Übergriffen verschiedene Aufgaben zu erfüllen, diese könnt Ihr anhand dieses Textes für Euch entwickeln.

Wir beschränken uns bei diesem Text aus einem pragmatischen Grund auf die deutsche Linke: Wir kennen sie relativ gut – ob und inwieweit unsere Beobachtungen und Schlussfolgerungen auch auf internationale linke Zusammenhänge passen, müsste von anderen Menschen eingeschätzt werden. Der Text dreht sich außerdem nur um sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen innerhalb von politisch aktiven Gruppen und sozialen Zusammenhängen, nicht um Übergriffe durch gänzlich fremde Personen.

Auch wenn sie es immer noch nicht wahrhaben wollen: Wir sind nicht die Guten

Linksaktive Menschen in Deutschland haben von sich das Bild, moralisch überlegen zu sein. Abgesehen vom Zeit- und Stressaufwand ist es durchaus mit gesellschaftlichen Sanktionen verbunden, politisch linksaktiv zu sein, weswegen es sich ja irgendwo lohnen muss. Man stützt sich dann häufig auf die ein oder andere große philosophische Idee (Aufklärung, Humanismus, Marxismus, kritische Theorie, Postkolonialismus etc.), um die eigene Distanz von der „Normalgesellschaft“ auf moralisch besonders belastbare Füße zu stellen. Alles, was die „Normalgesellschaft“ (was genau darunterfällt und wer als Gegner*in der Sache gesehen wird, ist fließend, deswegen die Anführungszeichen) dann ausmacht, hervorbringt oder fordert, kann unter Rückgriff auf das eigene theoretische Fundament leicht abgeblockt werden – ohne in sowas wie moralische Dilemmas zu führen, denn die ursprüngliche moralische Ebene wurde einfach nur durch eine andere ersetzt. Stabilität bieten neben der theoretischen Fundierung auch die Menschen, die dieser neuen moralischen Setzung ebenfalls folgen und sie für richtig bzw. gut halten. Philosophisch könnte man dies als „Konsenstheorie“ beschreiben: Sofern alle meine Bezugspersonen mir und meinem Verhalten zustimmen, verhalte ich mich scheinbar richtig, auch wenn gewisse gesellschaftliche Normen das anders bewerten würden. Auf diese Weise wurde/wird die linke Szene genau zu dem teils utopischen, teils grausamen Ort, der sie ist: Apriori gesetzte gesellschaftliche Normen inklusive ihrer Gerichtsbarkeit werden ad hoc unter teils unklaren Verhältnissen und häufig mangelnden Ressourcen neu ausgehandelt. Da die linke Szene in Deutschland nun schon eine gewisse Geschichte hat, haben wir zusätzlich dann noch irgendwann mal ausgehandelte „neue“ Normen, die aber inzwischen in eine Art linke Tradition übergegangen sind. Und tada: Schon haben wir eine neue Normalgesellschaft – hoffentlich mit weniger restriktiven Rahmenbedingungen und mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung bzw. Veränderung, aber im Prinzip reproduzieren wir auf die ein oder andere Art nur das uns Umgebende. Und deswegen brauchen wir auch keine moralische Überlegenheit zu proklamieren, die gibt es nicht und sie ist mehr als gefährlich für Menschen, die Kontakt zu dieser gesellschaftlichen Bubble suchen oder auch Teil von ihr werden.

Auf Scheiße gebaut

Ein zentraler Aspekt weswegen die moralische Überlegenheit gegenüber „der Welt da draußen“ problematisch zu betrachten ist: Sie ist sehr offensichtlich eine Illusion. Schauen wir uns die Anfänge in den Bewegungen der 68er, der Spontis, Bürgerinitiativen oder Antifa genauer an oder reden mit den Kindern dieser Bewegungen dann wird sehr schnell deutlich wie viele Leichen da in den Kellern liegen. Auch innerhalb dieser Bewegungen gab es persönliche Bereicherungen, seltsame Todesfälle, Vergewaltigungen und Kindesmissbrauch – sowie traumatisierte Wiederholungen dieser Erlebnisse. Diejenigen, die die heutigen autonomen oder sozialen Zentren erobert und mitgestaltet haben; die die Entnazifizierung von Deutschland vorangetrieben haben; die für Geschlechtergerechtigkeit gekämpft haben; die unsere musikalischen Idole waren usw. waren nicht die besseren Menschen, sondern natürlich dieselben Menschen, wie sie auch sonst überall zu der jeweiligen Zeit vorgekommen sind.
Einer der wenigen Unterschiede ist nur der, dass wir weniger Gerichtsurteile haben, weil solche moralischen „Verfehlungen“ häufig innerhalb der Szene geklärt wurden/werden sollen. Eine Möglichkeit, die durch die vielen sozialen Verflechtungen entsteht, bestand schon immer darin, Einzelpersonen an den sozialen Pranger zu stellen und zu „outen“, in der Hoffnung, dass das direkte soziale Umfeld einen positiven Einfluss auf den Delinquenten nimmt. Eine andere Möglichkeit, die immer wieder genutzt wurde, war es den*die Täter*in aus der Stadt zu jagen oder im besten Falle aus der politischen Szene (sofern da genug Vernetzung bestand). Dies hat den massiven Nachteil, dass die Person in jeder anderen gesellschaftlichen Nische mit demselben Verhalten weitermachen und dann nicht mal mehr ein soziales Umfeld adressiert werden konnte. Einige Bumerangeffekte dieses Problems sehen wir derzeit in besonders alten linken Strukturen, wo moralische Verfehlungen aus den 70ern oder 80ern nun neu verhandelt werden müssen, weil nicht klar ist, ob die Täterperson sich tatsächlich „gebessert“ oder einfach nur jedes Mal den sozialen Kontext gewechselt hat, wenn ihr Verhalten wieder negativ aufgefallen ist. Dass einige solcher alten Übergriffe und Vergewaltigungen überhaupt thematisiert wurden, war einzelnen Feminist*innen zu verdanken, die solidarisch mit den Opfern waren. Und genauso liegt es heute an Feminist*innen und Allys, dass wir diese Debatten überhaupt führen, dass Opfern von Übergriffen zugehört wird und dass Antifaschismus und Kapitalismuskritik ohne Feminismus nur dazu führen, dass nicht männliche Geschlechter und ihre Körper weiterhin ausgebeutet und benutzt werden.

Dies alles wollten wir gerne vorab einmal deutlich machen, denn deswegen müssen wir uns und die Ressourcen, die für uns notwendig sind, innerhalb einer linken Szene genauso schützen, wie in jeder anderen sozialen Umgebung auch. Solange wir nicht in dem Stadium dieser „befreiten Gesellschaft“, an der wir auf die ein oder andere Weise hoffentlich arbeiten, angekommen sind, tragen wir die patriarchale, neoliberale Normalgesellschaft mit uns herum und reproduzieren sie überall, wo wir die Gelegenheit dazu bekommen. Das einzige, worin wir uns üben können, ist Prävention und die Etablierung von sozialen Strukturen, in denen Übergriffe und Gewalt sichtbar, besprechbar und bearbeitbar werden.

Lifestyle vs. Politik

Die Agenda der deutschen Linken hat mehrere Programmpunkte (stark vereinfacht):

    1. Die Revolution (aus Mangel an Wahrscheinlichkeit und in Depression über die unglückliche Sache mit den „real existierenden Sozialismen“ vertagt)
    2. Aktionen oder Aktionismus vor Ort (Abschiebungen verhindern, Nazis hauen, Gewerkschaftsarbeit, mehr Geld für den sozialen Bereich usw.)
    3. Mitgestaltung gesellschaftlicher Diskurse (allerlei Öffentlichkeitsarbeit, Kunst & Kultur)
    4. Erlebniswelt „Links“: Ausdifferenzierung eines möglichst behaglichen Lifestyles (also das richtige Leben im Falschen suchen, Selbstversorung und in erster Linie: Hedonismus).

Insbesondere der letzte Punkt ist besonders attraktiv für durch Disziplin und Leistung erschöpfte Individuen im Neoliberalismus. Politisch unbefleckte – häufig junge, idealistische oder ausgegrenzte Menschen – Menschen, die neu in eine linke Szene kommen, werden einerseits angelockt durch das moralische Glitziglitzi, die vielen Freiheiten und die tolle Utopie, die da vor sich hergetragen wird, haben aber gerade zu Beginn dermaßen wenig Möglichkeiten, sich ein tatsächlich umfassendes Bild der Situation zu machen oder etwas mitzugestalten, dass es meist Jahre dauert, bis ihnen dämmert, dass sie mit dem Kopf durch die Wand in der gesellschaftlichen Nachbarzelle gelandet sind.

Gerade in Anbetracht der uns umgebenden Klima- und Wirtschaftskatastrophe wäre es spätestens jetzt deswegen mal an der Zeit, den letzten Programmpunkt einfach zu streichen, stabile Freund*innenkreise nach der eigenen, individuellen Bedürfnislage und abseits politischer Kontexte zu entwickeln und sich in Sachen Politik vielleicht eher auf die konkrete Politik, anstatt auf Beziehungsarbeit zu konzentrieren.

Niemand möchte ein „Beziehungsverbot“ verhängen, trotzdem betrachten wir es als äußerst kritisch, wenn eine an sich auf politischen Aktivismus ausgelegte Sozialstruktur primär für Partner*innensuche und das Ausleben sexueller Interessen in den 20ern genutzt wird. Dass es hierbei zu Übergriffen und Vergewaltigungen kommt, ist nahezu vorprogrammiert, denn die Szene hat für diese Formen von experimentellem Miteinander keine sozialen Rahmen und Vorgaben ausgehandelt. Sexualität ist seit den 68ern zwar immer wieder und bekannterweise ein Mittel in der radikalen Linken gewesen, um Menschen zunächst zu politisieren, sie aber letztendlich nur in die patriarchalen Träume einzelner männlicher Führungspersonen einzubauen. Deswegen ist es zwar naheliegend, dass mit dem Versprechen von individueller Freiheit auch die sexuelle Freiheit daherkommt, allerdings gibt es inzwischen deutlich ausdifferenziertere und einfach zugängliche Szenen, die ausschließlich um sexuelle Freiheit kreisen. Sollte Sexualität bei Einzelpersonen oder Freund*innenkreisen also die oberste Priorität haben und praktische Politik (die durchaus wahnsinnig unsexy ist, wenn man sich bspw. Arbeitskämpfe oder Migrationspolitik anschaut) eher nachgelagert werden, bietet es sich an, den sozialen Kontext ebenfalls nach diesen Prioritäten zu wählen: Es gibt in Deutschland eine große Swingerszene und auch die BDSM-Szene ist inzwischen sehr ausdifferenziert und weist große Schnittmengen mit der queeren Szene auf.

Moralische Ideale oder politische Werte wie Antirassismus, Queerfreundlichkeit und -feminismus, die vermeintlich nur unter Linken vorkommen, sind inzwischen deutlich weiterverbreitet und bilden auch in den genannten Lifestyle-Szenen durchaus die Grundlage des Miteinanders – nicht immer, nicht überall, aber durchaus realisierbar. Einen simplen und relativ sicheren Einstieg in diese sozialen Strukturen bieten einschlägige Partys mit kinky Outfits oder auch öffentlich inszenierter Sexualität wie im Kit Kat Club in Berlin oder auf entsprechenden sexpositiven Events in Köln/Karlsruhe, die Flowers&Bees im Ruhrgebiet oder andere lokale Angebote. Darüber hinaus gibt es mit dem JOYclub mit 4,6 Mio Mitgliedern eine enorm große sexuell offene Community im Internet, die es auch Einzelpersonen einfach ermöglicht ihre sexuellen Neigungen sicher und konsensuell auszuprobieren. Hier gibt es neben einer mehr oder weniger klassischen Datingbörse mit Sicherheitsfunktion (ID-Check) und einem Forum die Möglichkeit, kommerzielle Events und private Dates zu suchen, private Partys zu erstellen oder zu besuchen sowie in Livestreams eigene Bedürfnisse von der Couch aus zu testen. Wenn Sexualität, Beziehungsarbeit und Sexpositivität also gerade die Hauptthemen Deines Lebens sind, dann sind solche sozialen Kontexte für Dich und Deine Freund*innen vermutlich der sicherere und auch zielführendere Ort.

Teil II: Date Rape – Täter kann jede*r sein

Teil III: Konsens-Basics VOR, WÄHREND und NACH sexuellen Handlungen

Originaltext: https://de.indymedia.org/node/238565

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