vonfini 17.12.2022

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Ein weiterer Versuch, der Individualisierung zu entkommen, besteht für deutsche Linke seit einigen Jahren darin, nach Rojava oder auch: „die Autonome Adminstration Nord und Ostsyrien“ zu fahren. Ich begleite die Reise von Erik Hagedorn dorthin virtuell: Erik hat länger Politik und (im Nebenfach) Psychologie studiert, als es an den meisten Unis erlaubt ist, er interessiert sich für Sicherheitspolitik, Basisdemokratie und RPGs (Rollenspiele). Er arbeitet in Rojava journalistisch zu immerhin zwei dieser Themen. Seine Copingmechanismen für alles, was diese Welt so an Hässlichkeiten in der Hinterhand hält, sind schwarzer Humor und Zynismus, für die er schon öfters zurecht kritisiert wurde. Er arbeite dran, schreibt er.

Contentwarnung: Krieg.

Erster Brief:

Mit einem breiten Dauergrinsen sitze ich im Auto, während die Landschaft an mir vorbeifliegt. Braune Wüste. Dass die Wüste sehr gleichmäßige Furchen hat und in ihr offensichtlich Ackerbau betreiben wird, ist ein erster Hinweis der Umwelt an mich, wie wenig ich doch über Rojava weiß. Es ist schon ein bisschen komisch: Seit Jahren setze ich mich mit der Region, dem politischen System, dem Kampf gegen den IS, den Invasionen und Drohnenangriffen der Türkei, der Umweltzerstörung und vielen Themen mehr auseinander. Dennoch ist die Karte im Kopf größtenteils weiß. In das Weiß sind hastige Bleistiftskizzen gekrakelt, um die Wissensinseln zu verbinden.
Hier bin ich also endlich: in Rojava. Auf dem Hinflug nach Erbil (Irak/Südkurdistan) habe die Idee entwickelt, es wäre angemessen mit den Worten: „Welcome to the free world“ begrüßt zu werden, wie in einem US/Soviet Agententhriller. Das erzähle ich auch den beiden Leuten, die mich von der Grenze Irak/Syrien (Rojava) abholen. Das und vieles mehr. Genauso wenig wie ich das Grinsen aus dem Gesicht kriege, kriege ich es hin, Zurückhaltung zu üben und erstmal den Mund zu halten. Beides versuche ich auch gar nicht. Nach zwei Nächten mit jeweils nur zwei Stunden Schlaf und mit genügend Adrenalin im Blut, dass ich die Müdigkeit nicht fühle, erzähle ich munter von meiner Anreise, wie alles reibungslos geklappt hat und vielem mehr.

Der Prozess des Grenzüberquerens war wie erwartet langwierig und mit reichlich, ganz offensichtlich unnötiger, Bürokratie verbunden. Einige der Leute, die mit mir in den Schlangen an verschiedenen Schaltern standen (um verschiedenen Stempel auf ein Dokument zu setzten, was dann doch einbehalten wurde) konnten Deutsch. Man wird es nicht los, dieses Deutsch. Nichts ahnend steht man da, als sich plötzlich ein junger Araber lächelnd umdreht und sagt: „Guten Tag!“
Während meines Redeschwalls sind die Fenster des Autos offen. Wir haben angenehme 25 Grad, der Fahrtwind rundet das Bouquet der haptischen Erfahrung ab.

Es ist der Anfang meines Aufenthaltes und dennoch fühlt es sich wie das vorläufige Ende einer Reise an, die wesentlich länger als nur zwei Tage von Bonn nach Quamishlo gedauert hat. Mein dopaminerges System stellt mein Gehirn auf Zufriedenheit ein: Ich fühle mich angekommen.

Eine Exekution auf offener Straße

Ich kann und will in diesen Artikeln einige Dinge nicht erzählen, eigentlich alles, was mit Aufenthaltsorten und Strukturen von Menschen zusammenhängt. Ich bin oft darum gebeten worden, vorsichtig zu sein. Ein unnötiger Hinweis, denn schon am ersten Abend in Qamishlo höre ich einen Knall in der Ferne. Es stellt sich heraus: Eine türkische Drohne hat ein Auto in Qamishlo mit einer Rakete zerstört. Ein Kämpfer der „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF) stirbt, 2 Zivilist*innen werden verletzt.

Es fühlt sich anders an, wenn man die Explosion hört. Mit der physischen Distanz schwindet auch die emotionale. In Deutschland lese ich regelmäßig, bestimmt jeden dritten Tag, von türkischen Drohnenangriffen. Ich habe mich irgendwie an diese Nachrichten gewöhnt. Der Kloß im Hals und Magen, den ich jetzt habe, braucht einige Zeit, bis er sich auflöst. Bis ich mich daran gewöhnt habe, werde ich wohl eine Weile brauchen. Falls ich mich überhaupt daran gewöhne.

Drohnenangriffe können hier jede*n treffen. Nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit vielleicht. Die Türkei versucht hauptsächlich Personen zu töten, die wichtig für die Stabilität in Rojava sind: Personen des öffentlichen Lebens, z.B. Politiker*innen, sind ebenso Ziele wie Militärs oder Händler*innen. Es sind regelrechte Exekutionen, die hier immer wieder stattfinden. Auf offener Straße, ohne Gerichtsverhandlung, ohne Täter*in vor Ort. Treffen kann es grundsätzlich jede*n, keine*r hat die Chance, sich zu Verteidigen.

Die Unsicherheit macht etwas mit den Menschen, insbesondere die Unfähigkeit, wirklich zu beeinflussen, ob es dich trifft oder jemand anderes. Und wenn du neben einem Auto stehst, in dem die politisch engagierte Ärztin mitfährt, die von einer Drohne exekutiert werden soll, trifft dich die Explosion auch.

Solche scheinbar zufälligen Opfer sind keine Kollateralschäden, sie werden nicht einfach nur in Kauf genommen. Sie sind Teil der türkischen Strategie. Je mehr Unsicherheit herrscht, je mehr Menschen in die Flucht getrieben, werden desto besser für die Türkei.
Damit ich nicht in einer Explosion Teil der türkischen Strategie werde, gebe ich mir alle Mühe nichts über meinen Aufenthaltsort zu veröffentlichen. Seit dem ersten Abend bin ich mir ganz sicher, dass ich jeden Text hundert Mal auf verräterische Informationen prüfen werde.

9 auf einen Streich

Diese Drohnenangriffe und auch Artilleriebeschuss, das ist Normalzustand schon seit Jahren. In der Nacht vom 19. auf den 20. November wurde 2022 aus der Normalität der Ausnahmezustand. Rojava wurde in den nächsten Tage Ziel von tausenden Granaten, abgeschossen von türkischer Artillerie und dutzenden Luft- und Drohnenangriffen.
Einer der ersten Angriffe war in der Nacht von 19. auf den 20. November. Das Kraftwerk von Teqil Beqil wurde Ziel eines sogenannten „double tap“ Angriffs. Das Prinzip ist einfach: Man bombardiert eine Stelle, wartet bis Helfende vor Ort sind und bombardiert dann die selbe Stelle nochmals. Im ersten Angriff auf Teqil Beqil sind 2 Personen gestorben. Danach kamen die Dorfbewohner*innen aus der Umgebung zur Stelle der Explosion, ein Journalist war kurze Zeit später auch da. Der zweite Angriff traf diese Menschen, 9 weitere Tote waren die Folge.
Ich bin am nächsten Tag hingefahren und habe Interviews mit Zeug*innen geführt. Die Menschen erzählten mir, wie sie zum Ursprungsort der Explosionen gelaufen sind, dass sie nach Überlebenden suchen und helfen wollten. Wie weitere Raketen einschlugen und sie schließlich bis 9 Uhr morgens Körperteile sammelten. Wie sie in Tränen ausgebrochen sind, beim Anblick von verbrannten und verstreuten Teilen menschlicher Körper. Wie Freund*inne von ihnen bei dem Angriff gestorben sind, beispielsweise der Hawarnews Reporter Issam. Issam wurde anhand seiner Schuhe erkannt, der Körper war zur Unkenntlichkeit zerstört. Die Namen der 11 in Teqil Beqil getöteten Menschen sind:

Husin Ali, Issam Abdullah, Chichak Harouni, Hilal Qasim, Hadia Abdullah, Mazin Osi, Husin Khilto, Noury Chafchi, Fayez Abdullah, Mahmoud Ali, Abid Khalid.
Mir ging es einige Zeit schlecht damit. So richtig gut kann es einem mit solchen Interviews glaube ich nicht gehen. Ich denke ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um zur Aufklärung und zur Veröffentlichung dieses grausamen Verbrechens beizutragen. Mehr kann ich nicht machen. Es fühlt sich nur nicht genug an. Ich war fast froh, mich in den nächsten Tagen regelrecht in meine Arbeit vergraben zu können. Eine Flucht vor der Grausamkeit des Krieges, wie sie in den Gesichtern der Überlebenden zu erkennen ist, in die Grausamkeit des Krieges wie sie Zahlen und Worten zu lesen ist. Die türkischen Angriffe gaben mir die Gelegenheit mich auf die Angriffe auf die Umwelt, das mir äußere, fokussieren zu können, um mich nicht mit den Folgen für das Innere beschäftigen zu müssen.

Stromausfälle in Kiew

Der Angriff auf Teqil Beqil war der mit den meisten Toten in dieser Eskalationsphase vom ca. 20.11. bis 01.12. – die hohen Opferzahlen stechen heraus, der Angriff ist ein Mahnmal. Typisch ist der Angriff dennoch: Die erste Rakete zielte auf die Infrastruktur, nicht auf die Menschen. Die Infrastruktur Rojavas wurde in den nächsten Tagen überall massiv angegriffen. Kraftwerke, Krankenhäuser, Tankstellen, Öl-Felder, Öl-Tanks, ganz allgemein alles, was mit Gesundheitsversorgung oder Energie zu tun hatte. Die Folgen habe ich in Quamishlo schnell bemerkt: Es gab Stromausfälle.
Als ich im Dunkeln saß, abgeschnitten von der Außenwelt, denn ohne Strom gibt es auch kein Internet, habe ich aus Gewohnheit einen neuen Tab in Firefox geöffnet und musste kurz auflachen: Mir wurde ein Artikel über die Stromausfälle in Kiew empfohlen. Über die bin ich ganz gut informiert. Ich lese, wenn es welche gibt und weiß, dass Selensky unzufrieden ist mit der Arbeit von Klitschko, der hat das Stromnetz schneller zu reparieren. Stellen Sie sich als Leser*in doch mal die Frage, wie viel Sie über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wissen und wie viel Sie, über die Angriffskriege der Türkei der letzten Jahre auf ihre Nachbar*innen wissen.

Und falls Sie besonders motiviert sind, schreiben Sie doch zum 4. Advent einen Leserbrief an die Redaktion Ihres Vertrauens und bitten darum, dass diese auch über die Kriege der Türkei berichtet – sie ist immerhin NATO-Partnerin und damit ein Teil unserer politischen Reichweite.

Zweiter Brief: Krieg und Frieden im Kopf

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