vonfini 08.02.2023

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Ich rolle von der Matratze, die erste Sekunde fühlt sich an, als hätte ich einen Nikotinflash. Plötzlich merke ich das mein Kopf normal funktioniert, es ist die Welt, die aus den Angel gesprungen ist. Es ist nicht allein das Haus was bebt, die ganze Welt wackelt. Mehrere Minuten hält das Beben an, begleitet von einem omnipräsenten und aus allen Richtungen kommenden Knacken.
Ich befinde mich in Syrien in Qamishlo, einige hundert Kilometer entfernt vom Epizentrum des Erdbebens und dennoch werden wir alle im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Bett geworfen. Wenige Sekunden später: Sturmgewehrfeuer von der Straße. So warnt man hier die Nachbarn: Gewehre zu Sirenen. Wie ich am nächsten Morgen erfahre, ist Qamishlo kaum betroffen, mir ist kein eingestürztes Gebäude bekannt. Für das gesamte betroffene Gebiet steht zwei Tage später die Zahl von geschätzten 20.000 Toten im Raum, es gibt in Syrien schon 1600 und in der Türkei 3000 bestätigte Tote.

Die Tage nach dem Erdbeben vergehen wie im Flug, jede Stunde werden Opferzahlen aktualisiert, Hilfe wird versprochen, es scheint gut anzulaufen mit der internationalen Solidarität. Doch die politische Situation ist kompliziert, gerade in Syrien. Die Autonome Administration Nord und Ostsyrien, das Regime in Damaskus und die türkisch besetzen Gebiete haben ähnliche Probleme bei der Bewältigung der Katastrophe. Das Regime ist von Sanktionen belegt und Hilfe kann deswegen nicht einfach ins Land; die türkisch besetzten Gebiete leiden schon ohne Erdbeben massiv unter der Besatzung und können kaum auf die ohnehin überforderte Türkei setzen und die Autonome Administration ist gleich von drei Embargos unterschiedlichen Ausmaßes betroffen.

Nachbeben

Die Welt um mich herum hat noch einmal einen Sprung gemacht: am 06.02.2023 um ca. 10.30 spüre ich das zweite Mal eine starke Erschütterung. Ich brauch wieder einen kleinen Moment, um zu realisieren, was passiert. Dann springe ich auf, mein Stuhl rollt hinter mich, ich laufe aus dem Gebäude, ein Kollege ist hinter mir. Mein, übrigens wesentlich ruhigerer, Kollege bedankt sich später mit einem zuckersüßen Unterton für den ihm in den Weg gerollten Stuhl. Das macht mir in den ganzen Tag zu schaffen. Niemandem, den ich kenne, ist etwas passiert, aber ein Mensch war eine Sekunde langsamer wegen meiner Unbedachtheit. Ein mieses Gefühl. Die meisten Leute hier fühlen sich aber wesentlich schlechter, haben Angst um Freunde und Angehörige in anderen Städten oder der Türkei.

Dazu gibt es allen Grund: Im besetzten Afrin soll es 50 Tote alleine geben, Ibrahim Sheiko von der Afrin Human Rights Organisation sagt: Die Zahlen sind unzuverlässig, die tatsächlichen Opferzahlen könnten deutlich höher sein. In den besetzten Gebieten gibt es kaum Journalist*innen, die Berichten könnten. Aus Jindires nahe Afrin hört man, es sollen 70% der zweistöckigen Gebäude eingestürzt sein. Das Ausmaß der Katastrophe und das Glück, das ich habe, wird mir erst so richtig durch Bilder und Videos von völlig zerstörten Städten klar. Viele Freund*innen und meine Familie sehen die Bilder auch und fragen, wie es mir geht. Ich habe mich über jede Frage gefreut und kann nach wie vor sagen: Es geht mir gut.

Verwehrte Hilfe?

Die Bilder werfen aber auch andere Fragen auf, unbequemere: Warum sind auch 35 Stunden nach den Beben keine Hilfskräfte in manchen Städten? Auf Twitter verdächtigen viele die türkische Regierung, den Kurd*innen erst als letztes helfen zu wollen. Auch wird die türkische Regierung die Frage beantworten müssen, warum in der Türkei so wenig erdbebenfest gebaut wurde. Die Türkei gilt als eines der am meisten durch Erdbeben gefährdeten Länder. In den nächsten Wochen wird sich die politische Dimension dieser Katastrophe erst noch offenbaren, was keine 48 Stunden nach dem ersten Beben schon berichtet wird, lässt schlimmes vermuten. Auf Twitter lese ich Berichte von türkischen Städten in denen auch 35 Stunden nach dem Erdbeben keine Hilfe eingetroffen ist, die türkische Regierung wird beschuldigt Kurd*innen nicht oder als letztes zu helfen. Gelder sollen veruntreut worden sein, LKWs mit Hilfsgütern, die von der pro kurdischen HDP organisiert wurden, sollen aufgehalten worden sein.

Gegen diese Hiobsbotschaften steht eine gewaltige Hilfsbereitschaft von Menschen, Geschichten von gelebter Menschlichkeit prägen diese Zeit ebenso. Das sogar Griechenland, regelmäßig Ziel von Kriegsdrohungen der türkischen Regierung, Hilfe in die Türkei schickt und Mazloum Abdi, Oberbefehlshaber der Syrian Democratic Forces, der Türkei Hilfe anbietet, lässt mich hoffen, dass diese Katastrophe andere Konflikte in der Region zumindest für eine Zeit in den Hintergrund treten lässt. Im Laufe des Tages musste ich allerdings lesen, das die Türkei am 07.02. schon wieder Tel Rifaat mit Artillerie beschossen hat, 35 km entfernt vom schwer von den Beben des Vortages betroffenen Aleppo. Wohnhäuser wurden von der Artillerie getroffen.

In Qamislo haben viele Menschen gestern und heute in ihren Autos geschlafen oder gleich die Stadt und mit ihr die mehrstöckigen Gebäude verlassen. Die Angst vor einem weiteren und näheren Nachbeben ist bei vielen Menschen groß. Größer als die Angst vor der Kälte in vielen Fällen. Diese Zeilen schreibe ich sitzend neben einem Dieselofen, die übliche Heizungsart hier, das Haus ist nicht isoliert, so wie alle Häuser, die ich hier kenne. Wenn ich den Ofen ausgehen lasse, ist es innerhalb von 1-2 Stunden so kalt wie draußen, d.h. ungefähr 4 Grad, dazu regnet es. Und es soll noch kälter werden. In der Südosttürkei / Nordkurdistan ist es bereits kälter. Schnee bedeckt die Ruinen ganzer durch das Erdbeben eingeebneter Städte, Ruinen unter denen noch Menschen begraben sind.

Humanitäre Unterstützung notwendig

Um durch diese Katastrophe zu kommen, wird es mehr als viele Ressourcen brauchen. Politischer Wille wird benötigt und dort, wo er fehlt, muss Druck aufgebaut werden. Die türkische Regierung hat Kurd*innen in den vergangenen Jahren wenig Grund gegeben ihr zu trauen, es ist an der internationalen Gemeinschaft sicher zu stellen das bei der Verteilung der Hilfe niemand außen vorgelassen wird. Auch könnte jetzt darauf gedrängt werden, einen Grenzübergang zwischen der Autonomen Region Kurdistan im Irak und der Autonomen Administration Nord und Ostsyrien zu öffnen, um mindestens humanitäre Hilfe in die Region zu lassen.

Israel hat, obwohl offiziell keine diplomatischen Beziehungen zu Damaskus existieren, bereits Hilfe für die Krisenbewältigung in Syrien zugesagt. Die Naturkatastrophe kann alte Feinde zusammenbringen oder deren Wunden tiefer aufreißen. Es sind politische Entscheidungen, die getroffen werden und nicht zu handeln ist auch eine Entscheidung.

Ein weiterer Versuch, der Individualisierung zu entkommen, besteht für deutsche Linke seit einigen Jahren darin, nach Rojava oder auch: “die Autonome Adminstration Nord und Ostsyrien” zu fahren. Ich begleite die Reise von Erik Hagedorn dorthin virtuell: Erik hat länger Politik und (im Nebenfach) Psychologie studiert, als es an den meisten Unis erlaubt ist, er interessiert sich für Sicherheitspolitik, Basisdemokratie und RPGs (Rollenspiele). Er arbeitet in Rojava journalistisch zu immerhin zwei dieser Themen. Seine Copingmechanismen für alles, was diese Welt so an Hässlichkeiten in der Hinterhand hält, sind schwarzer Humor und Zynismus, für die er schon öfters zurecht kritisiert wurde. Er arbeite dran, schreibt er.

Erster Brief: Ankunft in Rojava

Zweiter Brief: Krieg und Frieden im Kopf

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