vonFred Hüning 24.09.2023

FKK – Foto, Kunst & Kapriolen

Fred Hüning, Fotograf & Tagedieb, sitzt in einer einsamen Blog-Hütte im Brandenburgischen und schreibt und fotografiert für sein Blog-Buch.

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Maykäfer, flieg!

Der Vater ist im Krieg,

Die Mutter ist im Pommerland,

Und Pommerland ist abgebrannt.

(dt. Kinderlied aus »Des Knaben Wunderhorn«)

 

VORBEMERKUNG

Im Sommer 1989 hat meine Großmutter Klara Heinke nach über 40 Jahren Schweigen ihre Erinnerungen an die zunächst gescheiterte Flucht mit ihren Kindern aus Pommern Anfang 1945, die Rückkehr in ihren erst russisch, dann polnisch besetzten Heimatort Rummelsburg (heute: Miastko) und schließlich an die Ausreise nach Schleswig-Holstein im Sommer 1946 aufgeschrieben.

Ich habe den Text nicht gekürzt und nur an wenigen Stellen leicht verändert bzw. ergänzt. Der neutrale Leser mag dem Bericht vorhalten, dass er einseitig eine Opferperspektive einnimmt und nicht auf die Vorgeschichte und Ursachen dieser Katastrophe eingeht. Zu diesem berechtigtem Einwand möchte ich anmerken:

Der Ehemann meiner Großmutter und Vater ihrer drei Kinder war Soldat bei der SS und kurz vor den geschilderten Ereignissen gefallen.

Dieser für meine Großmutter fraglos große Verlust (sie hatte nie wieder eine ernsthafte Beziehung) wird in dem Bericht ebenfalls weder erwähnt noch beklagt. Beschrieben wird dagegen der Kampf einer Mutter um das nackte Überleben, um das Leben ihrer Kinder, d.h. auch um das Leben meiner Mutter. Wie jede wahre Geschichte ist die hier erzählte also ganz und gar einmalig. Und doch haben Millionen von Menschen ähnliches erlebt.

Anders als ihre Kinder hat meine Großmutter niemals wieder ihre alte Heimat besucht. Sie hat bis zu ihrem Tod in der holsteinischen Kleinstadt Kellinghusen gewohnt. Dort hat meine Mutter meinen Vater, einen gebürtigen Holsteiner, kennengelernt. Dort wurde ich geboren.

 

KLARA HEINKE — LEBENSGESCHICHTE (AUFGESCHRIEBEN FÜR DIE NACHWELT) – Teil 1

Unsere Flucht aus Rummelsburg begann am Montag, dem 26. Februar 1945, bei kaltem, regnerischen Wetter.

Als Einquartierung hatte ich in meiner Wohnung einen Offizier, mit dem ich sehr oft die feindlichen Sender abhörte, was bei Todesstrafe verboten war.

Einen Tag zuvor erlebte Rummelsburg einen russischen Fliegerangriff. Angriffsziel sollte wohl der Bahnhof sein, getroffen wurden aber kriegsgefangene Russen, die am Bahnhof einquartiert waren; es gab viele Tote.

An besagtem 26. Februar brachte der Offizier mich und meine drei Kinder Rolf (9 Jahre alt), Eckbert (6) und Roswitha (3) zum Bahnhof. Es war wohl der letzte Zug, der Rummelsburg verließ; unsere »berühmte« Parteispitze hatte sich schon lange abgesetzt. Das »Gerücht« ging um, unser Bürgermeister, Dachdeckermeister Strehlow, sollte in Stolp an den Galgen, wegen Flucht. In dem Zug saßen auch Mittelschulrektor Paapcke und seine Familie. Er war einstens mein Klassenlehrer in der Freiherr-von-Stein-Mittelschule gewesen. Er weinte und sagte zu mir: »Ob wir noch einmal zurückkommen?« (Er starb im März 1945 in der Nähe von Stolp.) Wir fuhren bis Stolp, weiter ging es nicht.

Ich ging zum Parteibüro, dort ging es drunter und drüber, alle waren sinnlos betrunken. Man begrüßte mich mit »Heil Hitler! Der Russe kommt nicht nach Stolp!«

Ich war der Auffassung, die Stadt Rummelburg wäre jetzt leer, aber das stimmte nicht. Einige Familien und ältere Bewohner waren in der Stadt geblieben, so Familie Fotograf Klein aus der Schützenstraße (Frau Klein sprach polnisch und glaubte, die Sprachkenntnisse würden ihrer Familie helfen – weit gefehlt, das war nie gut), Ehepaar Anton Schröder aus der Großen Kirchenstraße mit Tochter, Frau Burzlaff aus der Gartenstraße, Johannes Wurch und Arno Kühn aus der A.-H.-Straße [Adolf-Hitler-Straße], ferner Fräulein Strauß, Familie Schneidermeister, Gustav Massow aus der Schützenstraße mit Tochter. Familie N. ist ins Feuer gelaufen, um den Vergewaltigungen zu entgehen. Von einigen hat man nie etwas erfahren, die Familien Klein und Schröder sind umgebracht worden, Familie Massow wurde später ausgewiesen nach Ketzin/Havel. Nach meiner Rückkehr von der Flucht habe ich im Haus Schröder den blutgetränkten Keller gesehen.

Zurück nach Stolp. Nach zwei Tagen Wartezeit fuhr von dort ein Zug ab, er sollte nach Westen gehen; er kam bis kurz hinter Schlawe, in einem Dorf, etwa 9 km von Schlawe entfernt, blieb der Zug stehen. Wir hörten eine Radio-Meldung, Rummelsburg sei am Sonntag in russische Hand gefallen. Am Montag, dem 04. März, nahm uns ein Panzerfahrzeug mit, zusammen mit einer Frau und Kind. Wir saßen wie die »Heringe«. Beinahe wären wir verunglückt, wir landeten im Graben, kamen aber trotzdem bis Neustadt, wo wir abends auf dem Marktplatz ankamen. Der liebe Gott war uns gnädig!

Ich stand mit den Kindern dort, von aller Welt verlassen; die Soldaten waren weg. Vor mir stand ein »älteres Mädchen«, sie nahm uns mit zu ihrer Familie, Mutter mit drei älteren Töchtern, davon war eine verheiratet; außerdem wurden noch drei Soldaten aufgenommen, die schon Zivilkleidung suchten und auch bekamen. Wir saßen alle am Tisch, der Russe rief ständig seine Parolen durchs Radio: »Ergebt Euch! Wir sind nah!« Das stimmte genau. Diese Geschwister mit ihrer Mutter waren Inhaber einer Papierhandlung und der Neustädter Zeitung, soweit ich mich erinnere, denn wir waren noch in der halben Nacht dort, um etwas zu holen. Die Schwester mit Kind hat uns allen die Karten gelegt. Ob man es glaubt oder nicht, bei mir ist alles, aber auch alles, Schlechtes und Gutes, eingetroffen. Die gute Frau hatte ihre Schiffskarten zurückgegeben, weil sie aus den Karten gesehen hatte, das Schiff geht unter, und so war es auch [Anmerkung: Gemeint ist das Passagierschiff Wilhelm Gustloff, das durch ein sowjetisches U-Boot am 30. Januar 1945 vor der Küste Pommerns versenkt wurde. Mehr als 9000 deutsche Flüchtlinge starben.]. – Sie hatte den weisen Blick, wie man so schön sagt.

Am nächsten Tag ging es weiter nach Putzig, ich glaube zu Fuß, denn die Koffer wurden untergestellt bei einer Familie, der letzte Koffer flog in den Chausseegraben. Nach einigen Jahren bekamen wir das eingezahlte Geld zurück. Nun waren wir alles los!

Ich trug meine kranke Roswitha auf dem Arm, und wir besaßen nur noch das, was wir auf dem Leib hatten.

In Putzig im Rathaus-Keller überrollte uns der »Iwan«. Er wurde von den Einwohnern »herzlich« begrüßt, und wir wurden begrüßt, wir, das waren die Flüchtlinge, zusammengedrückt vor Angst und Schrecken: »Uri, Uri« und »Frau komm!«, davon träume ich heute noch. Mein Sohn Egbert war mit russenfreundlichen Einwohnern mitgelaufen, die ihre »Befreier« herzlich begrüßten; und ich bin vor Angst fast umgekommen, weil er weg war.

Am nächsten Tag wurden wir von einigen Deutschen, die sich aus dem KZ gerettet hatten, bestohlen. Mir nahm einer die Schuhe der Kinder weg. Ich sagte zu ihm: »Ich habe Niemandem etwas genommen, und das wird ihnen kein Glück bringen!« Das traf, er machte die Tür wieder auf und warf die Schuhe wieder zurück.

20 bis 30 Menschen waren immer in Wohnungen untergebracht worden, teils bei den Bewohnern, teils in leerstehenden Wohnungen.

Am folgenden Tag mussten wir uns alle auf dem Marktplatz versammeln. Es wurde die Parole ausgegeben: »Wer hier nicht beheimatet ist, muss zurück in seine Heimatstadt.« Ich nahm eine Ostpreußenfrau mit zwei Mädchen im Alter von 5 – 8 Jahren mit. Wir trafen einen Trupp Franzosen, die von den Russen befreit worden waren, später aber sicher wieder eingefangen wurden, das haben wir oft erlebt. KZler haben sie sogar nach Sibirien verschleppt. So z.B. aus Rummelsburg der Fahrradhändler Hopp, der war aus dem KZ nach Rummelsburg gekommen und wurde nach Sibirien gebracht. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört, er war ein Zeuge Jehovas.

Von diesen Franzosen bekam ich einen Ziehwagen; sie luden ihr bißchen Habe ab, um die Kinder draufzusetzen. Was waren wir beiden Frauen froh! Zu Fuß und mit leerem Magen ging es immer weiter. Vorüber zogen Tausende von Russen, Hunderte von toten Deutschen lagen zerfahren und zerschossen an der Chaussee. Einige Male mussten unter russischer Aufsicht, mit Gewehr, die Soldaten begraben werden. Wie viele Panzer waren wohl über sie gefahren? So zerfahren waren sie, sie waren nur an den deutschen Uniformen zu erkennen. Daher gingen wir jetzt nur noch Nebenstrecken, ohne Karte, ohne Kompass. Fragt nicht, wie wir das geschafft haben!

Von Putzig Richtung Laubenburg; vorbei an vielen KZlern. Unter ihnen ein Österreicher, einziger Sohn seiner Mutter, er wäre jetzt aus dem Lager entlassen worden. Sein Vergehen war: Er hatte in einem Lokal das Hitler-Bild zur Wand gedreht; natürlich hatte er etwas getrunken. Ja, so leicht kam man dorthin! Das nur am Rande. Ich glaube nicht, dass er überlebt hat. Er nahm einen Eimer Wasser von der Pumpe und trank ihn leer. Wenn ich das nicht selber gesehen hätte, ich hätte das nie geglaubt. Wir haben ihm dann ein Lager am Ofen gemacht. Ich muss sehr oft an ihn denken.

In Richtung Lauenburg ging es vorbei an Hunderten von Gefangenen, aus dem Lager Stuthof, mit Genickschüssen, in Gefangenen-Kleidung. Es war ja noch kalt, und die konnten wohl nicht mehr weiter. Die Überlebenden waren bis zu ihrer Befreiung in einem Park eingeschlossen gewesen. Außerdem sahen wir noch einige Trupps von weiblichen Gefangenen. Sie waren deutsche und polnische Zeugen Jehovas. Ich habe mit vielen gesprochen; sie erteilten mir noch gute Ratschläge.

In wie vielen Scheunen, Kälber-Buchten, Schweineställen und leeren Häusern wir geschlafen haben, weiß ich nicht mehr. Und wie viele Menschen erstochen oder erschossen wurden, weil sie nicht mit gingen, um vergewaltigt zu werden, ich weiß auch das nicht mehr. Mich hat meine kleine Roswitha beschützt, die hat immer laut geschrieen, ich habe sie nämlich immer gekniffen. Ja, worauf man in seiner Angst kommt! Gott sei Dank haben mich diese »Teufel« nicht angefasst. Ich habe aber auch alte Russen kennen gelernt, die mich vor Unholden gerettet haben, und das öfter, das muss ich zugeben. Diese Unholde warfen mit Messern, einfach so, die wussten, wo das Herz saß, und das Messer traf richtig.

Auf diesem Weg haben wir die Stuthofer Lager-Insassen zu Hunderten (Genickschuss) an der Straße liegen sehen. An einer Scheune lagen ein Berg erschossener Menschen, übereinandergeworfen, es war grausam. Wir waren mit unserem kleinen Wagen und fünf Kindern auf der Chaussee, konnten nicht feststellen, ob es eine Kompanie war, jedenfalls hatten die oberen Menschen keine Stiefel mehr an. Wir tippten auf eine SS-Kompanie. Wir übernachteten in leeren Häusern oder mit anderen Flüchtlingen zusammen, immer die Angst im Nacken; aber der liebe Gott war uns beiden Frauen und den Kindern gnädig. Wir sind nicht vergewaltigt worden, aber ich war oft in Not, stand an der Wand, Gewehr auf mich gerichtet. Wir wurden aus dem Hinterhalt beschossen, Kugeln flogen uns beiden Frauen an der Nase vorbei, als wir den Wagen zogen. So ging es bis Stolp.

An der Straße saß ein alter Russe und kochte Kohlsuppe. Er machte uns die Kanne voll; im selben Moment kamen ein paar deutsche Kinder mit einem Wagen und einem Pferd davor vorbei. Der Alte hielt das Gefährt an, holte einen Eimer zum Tränken und einen Sack Heu und setzte alle meine, sprich: unsere, Kinder rauf. Wir beiden Frauen hatten keine Ahnung von Pferd und Wagen. Es war wohl ein junges Pferd und noch nie im Gespann gewesen. Es war schon schlimm! Gott sei Dank trafen wir eine Rummelsburger Bauersfrau mit ihrer 16-jährigen Tochter. Die kam auf den Wagenboden, Heu darüber und die Kinder oben drauf. Dieses junge Mädchen war aus einem zweistöckigen Haus gesprungen, als ein Russe sie nehmen wollte. Wir haben sie bis Rummelsburg gerettet. Die Bauersfrau hat immer eine Hand voll Heu vor das Panje-Pferdchen gehalten, und so bekamen wir es bis zum Krankenhaus in Rummelsburg. Diese Frau wohnte dort in der Nähe, leider habe ich ihren Namen vergessen.

Die Jugendherberge war abgebrannt, aber unser Krankenhaus stand; dort war schon polnische Miliz und wollte uns Pferd und Wagen nehmen. Ich schaffte es, zeigte ihnen den Stempel auf dem Pferd und sagte: »Das muss ich auf der Kommandantur abgeben.« Die »Dummköpfe« glaubten es, Gott sei Dank. – Worauf man kommt! Ich bewundere mich heute noch!

Das Pferd habe ich dann gegen irgendetwas getauscht, ich glaube, es war Mehl von einem deutschen Bauern. So hatte er wieder ein Pferd; wer weiß, wie lange er es behalten hat, bestimmt nicht lange.

Also, jetzt kamen wir in Rummelsburg an, hin zu unserer Wohnung in der Bahnhofstraße 2. Gleich ging es zur Hofseite. Vor dem Hofeingang lag unser Schlachthofbetreuer, Herr Maschke, mit einem Herzschuss. Er war wohl durchsucht worden. Das Sparbuch war mittendurch zerschossen, das Geld war vorher alles abgehoben bis auf einen Mindestbetrag. Ich habe das Buch aufgehoben, um es einmal den Angehörigen zu übergeben, es ist mir leider nicht gelungen, vor zwei oder drei Jahren habe ich es vernichtet. Wir haben Herrn Maschke dann beerdigt. In der alten Meierei waren Särge untergestellt, ich glaube von Henry Dahlke.

So langsam füllte sich unser Haus. Mein Vater kam, sein Haus in der Bergstraße Nr. 2 war zwei Tage vorher abgebrannt. Es brannte noch jede Nacht etwas. Dann kam meine Schwester mit zwei Kindern, ihr Mann war auf der Flucht verstorben. Wir waren jetzt elf Personen in drei Zimmern mit Küche. Jetzt sollten wir dort, wo Deutsche wohnten, die weißen Fahnen hinaushängen, die Fenster waren übrigens teilweise entzwei. Ach ja, meine Möbel standen zum großen Teil noch, eigentlich alle im Haus. Aber ausgeräumt war alles, aber das haben zum Teil die Deutschen getan, ich sah dann einige mit meinen Sachen; das konnte man ihnen nicht verübeln, die hatten ja auch nichts anzuziehen, man zog sie ja aus.

Inzwischen kamen einige unserer Hausbewohner zurück, Frau Flemmig, Frau Stüwe, Familie Starke.

Jetzt mussten wir zur Kommandantur, »anmelden« hieß es, tatsächlich war es aber eine Zusammenkunft, um die Leute auszusuchen, die nach Sibirien verschleppt werden sollten. Sie nahmen fast alle fest. Vor dem Gartenzaun an Dr. Moses Haus stand ein Russe, er sah mich mit den Kindern, schickte mich mit den Worten »Nicht gut« zurück. Dem bin ich heute noch dankbar (vielleicht war es ja Gorbatschow ???). Es war mein Glück.

Sie haben den Müttern die Kinder abgenommen, ohne Rücksicht. Meine Cousine von der »Eisernen Brücke«, Mutter von zwei Kindern, hat bis 1958 im Bergwerk gearbeitet, sie kam krank nach Holstein.

Und jetzt hatten wir nichts zu essen. Aber da kamen Russen mit einer Kuhherde die Klein Volzer-Chaussee lang, eine Kuh ging in den Graben, das kümmerte sie nicht. Wir holten sie uns, so hatten wir jetzt Milch. Dann hatten wir ein Schaf, auch das war zurückgelassen worden. Mein Vater hat es geschlachtet; es war bei uns im Keller, ich musste das Schaf halten und ihm das Maul zuhalten. Jetzt hatten wir auch Fleisch. Im Schlachthof rührte sich was. Dort wurden jeden Tag elf Kühe geschlachtet für das Krankenhaus, sprich Syphilis – Haus, es war im großen Wohnhaus von Paula Mielke.

FORTSETZUNG folgt.

 

© Foto und alle Texte: Fred Hüning

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