Den angeblichen Traum aller Kinder, „nachts allein in der Kaufhausspielwarenabteilung“, träumte ich als Kind nie; wäre mir ehrlich gesagt damals auch zu unheimlich gewesen, so ganz alleine nachts in einem Kaufhaus. Aber „nachts allein im Louvre“, so wie Nan Goldin, das wäre für mich heute tatsächlich ein Traum. Oder noch besser: „ein Kirchenfenster gestalten“, so wie Gerhard Richter im Kölner Dom (technisch genauer: Im Jahre 2007 erhielt das Fassadenfenster des südlichen Querhauses des K.D. eine farbige Verglasung nach einem Entwurf von Gerhard Richter). Um die Gestaltung eines Kirchenfensters reißen sich natürlich selbst die erfolgreichsten und etabliertesten Künstler und Künstlerinnen, so von wegen „Ewigkeit erlangen“. Aber dazu später …
Den Traum, einmal eine ganze Kirche für sich allein zu haben, träume ich spätestens seit dem immer wieder wunderbaren und nie langweilig werdenden Film „La Grande Bellezza – Die große Schönheit“ von Paolo Sorrentino. Dort gibt es nämlich eine Figur, die die Schlüssel für sämtliche Kirchen und Paläste Roms verwaltet und dort mit seinen Freunden nachts Partys feiert und sich die Ewige Stadt von oben anschaut.
Wie ich mir diese beiden Wünsche – zumindest in einer Miniatur-Version – in diesem schönen Mai erfüllt habe, sei hier ganz kurz erzählt:
Neu Temmen liegt im schönsten Teil der Uckermark und hat eine schöne 1749 fertiggestellte kleine Kirche, die heute vom Naturschutzbund NABU unterhalten, gepflegt und „bespielt“ wird (gelegentliche Gottesdienste inklusive). 2022 wurde die Turmstube fertiggestellt: ein kleiner quadratischer Raum mit einem kleinen Fenster mit Blick in den Himmel über der Schorfheide. Dort können seit Mai 2024 (also seit gerade eben) Künstler und Künstlerinnen für 3 Wochen denken (sehr gut), arbeiten (gut), schlafen (noch nicht optimal) und träumen (sehr, sehr gut). Als Gegenleistung wird die Arbeit, die dabei in und um die Kirche herum entstanden ist, im Rahmen einer Veranstaltung präsentiert.
Ich habe mich dafür natürlich sofort beworben und so wurde ich der „erste offizielle Turmstübler der NABU-Kirche Neu Temmen“.
In meiner Abschlussveranstaltung am letzten Samstag habe ich mein an dieser Stelle schon veröffentlichtes Gedicht IN EINER SOMMARNACHT TANZTE DER TOD ÜBER DIE INSEL von der Kanzel herab nicht gelesen, sondern eher performt, um nicht zu sagen: gepredigt. Am Anfang, in der Mitte und am Ende habe ich dabei jeweils 22 Inschriften der Grabplatten der Gedenkstätte Karlshagen (ein Beispiel: HOLZ – KIND 1 – GEBOREN UNBEKANNT – GESTORBEN: 18. AUGSUST NEUNZEHNHUNDERTDREIUNDVIERZIG) einzeln verlesen und dann das Blatt mit diesen Informationen (natürlich doppelt bedruckt, um Murphys Gesetz auszutricksen!) von der hohen Kanzel in den Kirchenraum schweben lassen. Am Ende des Gedichtes lagen somit 66 „Grabplatten“ verteilt auf dem Altar, den Blumenvasen, der Bibel, dem Kreuz, dem Boden. Als ich dann am Ende meines Vortrags langsam die schmale Holztreppe hinuntergestiegen bin und schon die ersten Zettel wieder eingesammelt habe, weil ein großes Schweigen die Kirche ausfüllte, brach unter den zwölf ZuschauerInnen – nach gefühlten drei Minuten kompletter Stille – ein langanhaltendes Klatschen aus. Ich hoffe also, dass dieser Vortrag nicht nur mich selbst ein wenig berührt hat …
Abschließend ein paar Eindrücke von der Veranstaltung und noch einmal den Text (immer noch work in progress):
IN EINER SOMMARNACHT TANZTE DER TOD ÜBER DIE INSEL
I
Des einen Brot, des andern Tod, so sagen die da unten auf der Insel.
One man’s meat is another man’s poison, so sagen die da oben in ihren Maschinen.
Und der Oberst der Royal Air Force bekommt später einen Orden für mein Morden.
Verstehe einer die Sterblichen und ihren Gott, denkt da der Tod.
In dieser Nacht bittet der Tod zum Tanz.
In dieser Nacht wählt der Tod seine Tanzpartner.
In dieser Nacht akzeptiert der Tod kein Nein.
In dieser Nacht ist der Tod ein Master Bomber aus Engeland.
II
Der Tod tanzt einen Charleston mit dem Herrn Holz.
Er bittet Frau Holz zu einem Walzer.
Er wirbelt Kind eins links herum.
Er wirbelt Kind zwei rechts herum.
Wirbelt Kind drei in der Luft.
Wirbelt Kind vier über den Boden.
Der Tod gibt nicht eher Ruh‘ bis die ganze Familie eine Ruh‘ gibt.
Der Tod ist bester Dinge in dieser Nacht.
Der Tod findet kein Ende in dieser Nacht.
Der Tod wird einfach nicht müde in dieser Nacht.
III
Vater Levenhagen liest den Kindern aus der Tora vor.
Da erscheint der Tod.
Und das jüngste Kind fragt:
„Tod, warum unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?“.
Da lacht der Tod:
„Für euch armen Seelen ist diese Nacht Alles, für mich ist es eine wie jede andere.“
IV
Der Sanitäter hat oft geholfen in der Not, sich selbst konnt’ er nicht helfen, jetzt ist er tot.
Macht das Fräulein ihm auch schöne Augen, nach dem Tanze wird der Tod auch ihr Blut aussaugen.
Frau oder Mann, schön oder stark, heiß oder kalt, wenn sie sich sträuben, gebraucht der Tod Gewalt.
Ist das Kind auch noch so klein (was schert’s den Tod, ob Mütter schrei’n), soll’s trotzdem seine Beute sein.
Hat der Herr auch ein Diplom, der Tod fegt ihn schon vom Thron.
Legt der Soldat sich mit dem Tode an, nur einer gewinnen kann.
Der Arme hat kein Geld, den Tod juckst nicht, zieht ihn auch so in seine Welt.
Mit Geld kann man den Tod nicht erweichen, mit Genuss bricht er die Reichen.
© alle Bilder und Texte: Fred Hüning