– Gestern – Heute – Morgen
In Westerlin führten angeblich 1985/86 die Bhagwan-Jünger, die sich in einer Disco am Lehniner Platz trafen – wenn sie nicht gerade im „Flieger“ nach Poona saßen, das erste „Flugzeugspiel“ ein, das auch so genannt wurde. Was man heute als „Schwarmbildung“ bezeichnen würde, hieß damals „Schneeballsystem“: Jeder der 3000 DM einzahlt – und mitspielt, muß etwa vier neue Mitspieler gewinnen, die wiederum je vier neue gewinnen usw. Dadurch rückt man im Flugzeug, so lange es funktioniert, stetig nach vorne, bis man im Cockpit sitzt – und viel Geld kassiert. Das Gewinnfieber erfaßte bald die halbe Kudamm-Scene. Der Inhaber eines Lampengeschäfts vis à vis des KaDeWe war es irgendwann leid, ständig um Geld oder zum Mitspielen angehauen zu werden, er annoncierte in der taz: „Teilnehmer an Flugzeugspielen werden bei uns nicht mehr bedient!“ Die taz veröffentlichte daraufhin 1987 eine Recherche über das Thema:
Dichter „Flugverkehr“ herrscht dieser Tage in Berlin. Doch die Passagiere der zahlreichen „Flugzeuge“ starten nicht vom Flughafen Tegel, sondern bleiben am Boden eines beliebigen Berliner Wohnzimmers. Mental-emotional haben bisher dennoch Tausende von BerlinerInnen kräftig abgehoben; zur Zeit häufen sich die Bruchlandungen – psychischer wie finanzieller Art. Denn was da „durchgestartet“ wird, hat mit der Materie zu tun, die die Welt regiert: Geld. Eine neue Geldbeschaffungsaktion wie weiland „Goldkreis“ macht wieder einmal die Runde – das „Flugzeug- oder Pilotenspiel“.
Allerdings hat sich der Einsatz seit dem „Goldkreis“ verfielfacht: 3.000 Deutsche Mark kostet ein „Ticket“, um sich in eines der „Flugzeuge“ einzukaufen. Doch dafür wird viel versprochen – 21.000 Mark winken den AktivistInnen, die am Ende erfolgreich „ausgeflogen“ sind. Die goldnen Aussichten sind verlockend – man kennt schließlich auch Leute, die schon „auspilotet“, das heißt ausbezahlt, wurden. Nach dem Schneeballsystem wurde hier eine Lawine losgetreten. Da ohne neue SpielerInnen nichts mehr geht, müssen ständig Leute angeworben werden. Um willigen Einsteigern, die nicht über Startgeld verfügen, das „Mitfliegen“ zu ermöglichen, wird beim „Flugzeugspiel“ die gesponserte Teilnahme angeboten. Ein bereits „ausgeflogener“ Pilot übernimmt die Kosten für den Neueinsteiger und läßt sich gemeinhin mit der Hälfte des eingeflogenen Gewinns diese Hilfe gut bezahlen. Aber nicht alle haben solche Hilfestellung nötig. Bei den Treffen „schneller Flugzeuge“ mit gutbetuchten Architekten oder Steuerberatern werden schon mal die Schecks und Geldbündel über den Tisch des Hauses gereicht.
Diese „meetings“ sind auch das wesentlich neue am „Flugzeugspiel“ im Vergleich zu verwandten Systemen. Mindestens zweimal die Woche treffen sich bei diversen Getränken, Snacks und Musik in der Regel mehrere „Maschinen“ (zwischen 30 und 90 Leuten). Meist stellen sich dann die Anwesenden einmal vor, jede/r erhält etwas übertriebenen, solidarischen Beifall und besonders enthusiastisch werden Piloten beklatscht, die bereits einmal „ausgeflogen“ sind, und nun wie der einsteigen. Nach Erläuterung der Spielregeln werden dann organisatorische Details geklärt. Die Listen der MitspielerInnen müssen aktualisiert werden, NeueinsteigerInnen geben ihren Spielnamen und Telefonnummer bekannt, Informationen werden ausgetauscht. Natürlich gibts nur ein Gesprächsthema – neue Kontakte zu knüpfen fällt daher auch kaum schwer, alte Bekanntschaften werden aufgefrischt, und gar mancher einsame „Flieger“ läßt seine Blicke nach einer netten „Mitfliegerin“ schweifen. Die Atmosphäre und der Verlauf dieser Treffen hängt ganz vom Teilnehmerkreis und der „Geschwindigkeit“ des „Flugzeuges“ ab.
Bei manchen „Maschinen“ könnte man meinen, in eine Therapiegruppe geraten zu sein, wo denn auch schon über der Besprechung zwischenmenschlicher Wehwehchen fast verdrängt wird, daß es um den Zaster geht – denn man spricht fast ausschließlich von „Murmeln“. Andere bekennen sich klar zu ihrem Wunsch nach dem schnellen Geld und wollen nichts mit irgendwelcher „Esoteriktünche“ zu tun haben. In München zum Beispiel verfährt man recht eindeutig: Dort gibt es neben dem sogenannten „Volksmodell“ (1.000 DM Einstieg) den „Jumbo“ (5.000 DM) und die „Concorde“ (10.000 DM). Und nicht nur hier fließt der Schampus, delektiert man sich an Lachs, Ka viar, während der Konzernmanager für sich und Ehefrau zwei Plätze belegt – und mit cash-money bezahlt, versteht sich. Trotzdem wird auch an das soziale Gewissen appelliert; die MitspielerInnen sind aufgefordert, zehn Prozent ihres Gewinnes für gemeinnützige Zwecke zu spenden. Die Mitarbeiter von Greenpeace hatten allerdings von so einem Spiel noch nichts gehört. Das Spiel, das via Holland aus den USA kam (dort ist das Spiel mittlerweile verboten, da der Einsatz manchmal schon 100.000 Dollar betragen haben soll), hält nicht nur die Szene in Atem. Manche sind „Jumbo-Profis“ geworden: Sie haben ihren Job hingeschmissen, fliegen gleich in mehreren „Flugzeugen“, haben fast täglich „meetings“ und müssen ständig neue rekrutieren. Ein zunehmend schwierigeres Geschäft: Wer jetzt noch kommt, zahlt drauf – die zuletzt Dazugekommenen beißen bekanntlich die Hunde. Zwar behaupten die ganz in New-Age-Diktion gehaltenen Spielunterlagen, das Spiel sei end- und grenzenlos. Doch die Berliner Kripo scheint das anders zu sehen. Sie überlegt, ob sie ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs einleiten soll – sie weiß nur noch nicht genau, gegen wen… Allerdings müßte sie dann, wie Gerüchte nahelegen, mittlerweile schon in ihren eigenen Reihen nachforschen, oder bei den Kollegen der Berliner Feuerwehr…
Kurz nach der Wende, Ende 1990, veröffentlichte die taz bereits eine erste Flugzeugspiel-Geschichte aus dem Osten – und zwar frisch aus der „Milchbar“ in Ferch bei Potsdam:
Ab Dezember ist hier der Zapfhahn dicht, und auch die Fercher Billiardgemeinschaft muß sich einen neuen Tisch suchen. Nicht nur zu Touristenzeiten ging im biederbürgerlichern Interieur der »SPD-Kneipe« – wie sie heute im Dorf genannt wird, weil der Wirt sich in der gleichnamigen Partei stark macht – wochenends die Post ab. Bei gehobenem Alkhol- und Lärmpegel musizierten die Alten und Jungen schon mal einträchtig mit Tortenblechen und Kochlöffeln, um im nächsten Augenblick wieder an den Billardtisch zu schwanken und der Kunst des Kegelbillards zu frönen.
Jetzt, kurz vor Kneipenschluß, sind die Saufbrüder nicht mehr ganz so ausgelassen. Vor allem das »Pyramidenspiel«, auch »General-« oder »Flugzeugspiel« genannt, hat ihnen die Laune verdorben. »3.000 Märker sind futsch, weil niemand mehr mitmachen will«, jammert ein Dorfjüngling und guckt verstohlen umher, ob er nicht doch noch ein zahlungskräftiges Opfer fände. »Hab‘ ick ja jleich jesacht, allet Humbuk«, meint die Wirtin schadenfroh. Ganze Nachbarschaften hätten sich durch das Glücksspiel verkracht. »Die haben sich viel verschuldet und können jetzt nüscht zurückzahlen.« Im Nachbarort habe sogar neulich jemand seinem Nachbarn aus Wut das Auto angezündet. »Da können sich so einige demnächst hier verabschieden«, sagt die Wirtin nüchtern und meint nicht nur sich selbst.
So langsam kam der gesamte Ostblock auf den Geschmack des Flugzeugspiels, das man dort dann „Pyramidenspiel“ nannte. Aus Albanien berichtete der taz-Korrespondent 1997:
In Lushnja, dem Epizentrum des Aufruhrs in Albanien, wird der festgenommene Finanzakrobat Rrapush Xhaferri vergöttert. Die Wut der Geprellten richtet sich gegen die Regierung
Klapprige Pferdewagen rumpeln über die Straße, zwei Jungen versuchen eine Schafherde zusammenzuhalten, ein Alter zerrt seine Kuh hinter sich her, und ein herrenloser Esel trottet in der Straßenmitte, als wär das Automobil noch nicht erfunden. Die Fahrt in den Süden Albaniens ist ein Ausflug in die Vergangenheit. Doch die Männer, die hinter der Kurve auf die Straße springen, sind keine Wegelagerer, wie sie den Balkan jahrhundertelang heimsuchten. Auch keine Guerilleros, wie man aus den schwarzen Strumpfmasken schließen könnte. Sie sind Soldaten einer Sondereinheit der Armee – Maschinenpistole im Anschlag. Wir befinden uns am Ortseingang von Lushnja, dem Epizentrum des Aufruhrs, der Albanien in die wohl tiefste Krise seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur (1991) gestürzt hat.
Nur noch die verrußten Karosserien der Lastwagen, die nun verloren am Straßenrand stehen, zeugen von den Barrikaden, die tagelang jeden Verkehr zwischen der südlichen und nördlichen Landeshälfte unterbunden haben. Bevor das Parlament die Armee zum Einsatz freigab, war Außenminister Tristan Shehu persönlich nach Lushnja gekommen, um mit den Leuten zu reden. Doch die stopften ihm den Mund mit einer Zwiebel, malträtierten ihn mit Eisenstangen und sperrten ihn in eine Umkleidekabine des Fußballstadions. Dann schlugen sie einen Gefangenenaustausch vor. Sie forderten die Freilassung Rrapush Xhaferris. Der befindet sich seit bald zwei Wochen in der Hauptstadt hinter Gittern. Mit zum Schluß 300 Prozent Zinsen in drei Monaten hatte er rund 300.000 Menschen geködert, die ihre Ersparnisse bei seiner „Stiftung für Volksdemokratie“ anlegten. In Erwartung des Bankrotts dieser „Pyramide“ beschlagnahmte die Regierung sein Konto bei der staatlichen Handelsbank in Höhe von 265 Millionen Dollar.
In Lushnja hat Xhaferri vor etwas mehr als drei Jahren sein Werk der Wohltätigkeit, wie er zu sagen pflegt, begonnen. Hier nennen sie ihn alle nur den „General“. Weshalb, kann niemand mit Sicherheit sagen. Vielleicht weil er sich auf seinem Visitenkärtchen, von denen hier jede und jeder eins hat, als Generalpräsident seiner Stiftung präsentiert. Armeeoffizier war er jedenfalls nie. Der ehemalige Buchhalter hat die Herzen der kleinen Leute im Sturm erobert. Er kaufte für den örtlichen Fußballclub Kicker aus Nigeria und Brasilien ein, als Trainer holte er sich den Argentinier Mario Kempes, der bei der WM 1978 zum besten Fußballer gekürt worden war. Ansonsten brachte er sich dadurch ins Gespräch, daß er in Not geratenen Leuten Geld zusteckte – natürlich in einer Art und Weise, daß es alle erfuhren. „Wenige Tage vor seiner Festnahme hat er ein Festmahl für die Jugend des ganzen Viertels gegeben“, sagt Skender Godo, der drei Jahre lang, zuerst illegal, dann legal, als Bauarbeiter, Kellner und Olivenpflücker in Griechenland gearbeitet hat und sämtliche Ersparnisse bei Xhaferri angelegt hat. „270 Teller wurden aufgetragen, und ein Gratis-Konzert gab es dazu.“
Nicht einer in der Traube, die sich auf dem Hauptplatz der Stadt um den Fremden bildet, der seine Ersparnisse nicht dem „General“ anvertraut hätte. Ein ehrlicher Mann sei der Xhaferri, bestätigen sie alle. Pünktlich habe er die versprochenen Zinsen bezahlt. Doch die meisten haben den schnellen Gewinn auf dem Konto ruhen lassen, auf daß sich ihr Kapital noch schneller vermehre. So richtete sich denn ihr Protest auch nicht gegen den Finanzakrobaten, sondern gegen die Regierung, die diesen daran hindert, die Zinsen auszuschütten. Die Frage, ob sie sich denn auch am Barrikadenbau und an der Brandschatzung beteiligt hätten, löst nur Schweigen und schließlich ein alles sagendes Lächeln aus. „Heute nacht haben sie Dutzende aus ihren Häusern geholt“, erklärt Skender die Zurückhaltung. Doch der Stolz, in diesen Tagen als Avantgarde der Nation Schlagzeilen gemacht zu haben, wird kaum verborgen.
Agim Fuga hingegen hat für Xhaferri kein gutes Wort übrig. Ein Schurke sei der, ein Roter dazu. Der Bürgermeister von Lushnja, nebenbei auch Abgeordneter der regierenden Demokratischen Partei im nationalen Parlament, hat seinen Amtssitz in der Ruine des Rathauses. Wo früher Fenster waren, starren jetzt rußgeschwärzte Löcher. Hinter dem Aufruhr, in dessen Verlauf binnen weniger Tage in über einem Dutzend Städten öffentliche Gebäude in Flammen aufgingen, wittert er die Sozialistische Partei. Nicht zufällig seien als erstes die Kataster zerstört worden und die Unterlagen der Kommission, die über die Rückgabe von Ländereien zu bestimmen hatte. „Das waren nicht unsere Leute aus der Stadt, sondern Bauern der umliegenden Dörfer“, behauptet er, „aufgewiegelt von roten Terroristen.“ Melderegister, Steuerbescheide, alles ist zerstört. Wie verwaltet man eine Stadt ohne schriftliche Unterlagen, ohne Aktenordner und Hängeregister?
Die 46 Angestellten des Rathauses kehren vorerst den Abfall zusammen, befestigen Treppengeländer und legen elektrische Leitungen. Von Festnahmen wisse er nichts, sagt der Bürgermeister. Er ist wohl der einzige in ganz Lushnja, der von den vermutlich 140 Verhaftungen in der Stadt nichts mitgekriegt hat. Berat ist ein Juwel Albaniens. Die Geburtsstadt von Xhaferri liegt 40 Kilometer südlich von Lushnja. Hoch über dem Ort thront eine Burg, die ein ganzes Stadtviertel einschließt. Während der kommunistischen Diktatur Enver Hoxhas, der 1967 Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt ausrief, wurden überall im Land Gotteshäuser zerstört oder in Sporthallen umgewandelt. Hier in Berat hingegen steht noch eine Reihe gut erhaltener orthodoxer Kirchen aus dem 14. und 15. Jahrhundert mit wertvollen Fresken. Und auch die Moschee im Zentrum der Stadt wurde sorgfältig restauriert. Die Stadt zieht sich wunderschön auf beiden Seiten des Flusses die Hänge hoch. Die Fassaden der alten, übereinander geschachtelten Häuser bestehen fast nur aus Glas. Nicht umsonst heißt Berat auch „die Stadt der tausend Fenster“. Doch im Zentrum sind die Fenster zu Bruch gegangen, und es riecht nach Verbranntem. Das Rathaus, die Präfektur, das Gericht, die Staatsanwaltschaft und das Polizeikommissariat wurden abgefackelt.
Das Gespräch mit Miliko Jaho, der Bürgermeisterin, die ebenfalls der Regierungspartei angehört und auch Parlamentsabgeordnete ist, findet im Stehen statt – die Stühle waren aus Holz. Jaho spricht ausgezeichnet deutsch, und sie könnte es noch besser, wenn Enver Hoxha 1961 nicht mit Chruschtschow gebrochen hätte und sie deshalb ihr Architekturstudium in Leipzig hätte abbrechen müssen. Mit ihrem Urteil ist sie sehr zurückhaltend, sie wägt jedes ihrer Worte ab. Daß hinter der Revolte die Sozialistische Partei steckt, glaubt sie nicht. Aber daß die Opposition aus der Revolte politisches Kapital zu schlagen versucht, hält sie für normal in einer Demokratie. Die zahlreichen Festnahmen bestreitet sie nicht. In Berat will kaum jemand mit dem Fremden reden. Die Angst, anerzogen in einem halben Jahrhundert Diktatur, frisch genährt durch die nächtliche Verhaftung von 150 Personen allein in dieser Stadt, ist überall zu spüren. Selbst das Büro der Sozialistischen Partei, die von Präsident Berisha öffentlich des Komplotts bezichtigt wird, ist vorsichtshalber geschlossen. Im ganzen Land sind schließlich zahlreiche Sozialisten polizeilich aus dem Verkehr gezogen worden, unter ihnen auch ein Mitglied der nationalen Parteiführung. Noch steht im Zentrum der Stadt eine verlassene Barrikade. Aber es herrscht Ruhe. „Doch wenn am 5. Februar nicht gezahlt wird“, sagt ein alter Mann, Sozialist, der sein Italienisch noch unter Mussolinis Besatzung gelernt hat, „wird es schlimm werden. Die Jungen sind zu allem bereit.“ Ministerpräsident Aleksander Meksi hat versprochen, am Mittwoch mit der Auszahlung der beschlagnahmten Gelder an die Gläubiger zu beginnen. Es sei genug Geld da, um allen ihre Einlagen zurückzuerstatten, hatte er auf dem Höhepunkt der Unruhen gesagt.
Es reiche gerade, um ein Drittel der angelegten Gelder zurückzubezahlen, meint hingegen Zef Preci, Leiter des unabhängigen Zentrums für wirtschaftliche Studien. Wenn die Regierung alle Leute auszahlen wolle, müsse sie wohl Geld drucken. Und das heißt Inflation. Schon macht das Gerücht die Runde, ein Schiff aus dem italienischen Bari sei mit neuen Banknoten im Wert von 300 Millionen Dollar unterwegs. Während Meksi nicht müde wird, zu betonen, daß alle ihr Geld zurückerhalten würden, schlägt Präsident Saliha Berisha bereits andere Töne an: Zunächst werde man nur in den dringlichsten Fällen Bargeld auszahlen, in allen anderen würden erst mal Zertifikate ausgestellt: zur Bestätigung des Anspruchs auf Geld. Schließlich könne man nicht 300.000 Leute an einem Tag auszahlen. Außerdem würde die erhöhte zirkulierende Geldmenge sofort einen Inflationsschub auslösen. Werden sich die Leute aber mit Papieren zufriedengeben, die zudem von einer Regierung unterzeichnet sind, in die sie ohnehin jedes Vertrauen verloren haben? Der Frust ist groß und die Wut noch nicht verraucht. Doch diesmal sind Armee und Polizei vorbereitet. Die Männer mit den schwarzen Masken sind ein Signal.
Ebenfalls 1997 veröffentlichte die Le Monde Diplomatique einen längeren Bericht über albanische Pyramidenspiel-Organisationen und die russische Firmenvariante „MMM“:
Auch wenn sich im Laufe des April die Lage in Albanien stabilisieren sollte, werden die Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs noch jahrelang zu spüren sein. Im ärmsten Land Europas wußten die Pyramidenspieler, daß sie Hunderttausende von Gutgläubigen finden würden, und konnten auf das Einverständnis der Regierung Berisha rechnen. Das erklärt die Wut dieser Opfer des wilden Kapitalismus und der irreführenden Maxime „Bereichert euch!“.
„Eine verschwindend kleine Minderheit bereichert sich am Ruin der gesamten Bevölkerung.“ Mit diesem Satz hat Saint-Simon die Lage beschrieben, nachdem 1720 das von John Law inszenierte Geldschöpfungsprogramm des französischen Staates zusammengebrochen war. Der Satz könnte auch die aktuelle Situation in Osteuropa beschreiben, wo die „Pyramidengeschäfte“ reihenweise die Volkswirtschaften ruinieren. Das Prinzip ist so alt wie die Welt: Das Geld der neuen Anleger wird nicht wirklich investiert, sondern lediglich benutzt, um die früheren „Anteilseigner“ auszuzahlen. Dieses System beruht auf der stetigen Anwerbung neuer Anleger, die so lange mit sehr hohen Zinssätzen angelockt werden, bis einfach keine neuen Anleger mehr aufzutreiben sind. Den Aufstieg und Fall dieser Pyramiden kann man auch als Parabel für die Hoffnungen und Enttäuschungen sehen, die der Übergang zur Marktwirtschaft ausgelöst hat. Außerdem veranschaulicht das relativ geringe Strafmaß für die betrügerischen Schwindler die unauflösliche Verflechtung von Finanzwelt und politischem Personal, die gleichermaßen von Korruption und Gangstertum unterwandert sind.
Bis zu der Tragödie in Albanien gehörte die berühmteste Pyramide der russischen Investitionsfirma MMM, deren Begründer Sergej Mawrodi in kürzester Zeit zum Volkshelden avancierte. Die mit einem Stammkapital von 1,1 Millionen Rubel gegründete Firma hatte Aktien im Gesamtwert von 1000 Milliarden Rubel ausgegeben. Obwohl die Firma beim Finanzministerium nicht registriert war, ihre Aktien also gar nicht notiert werden durften, wurden sie in unzähligen Verkaufsstellen und sogar in staatlichen Postämtern angeboten. Neu war auch, daß die Firma selbst für die Notierung ihrer Aktien sorgte und die Höhe ihrer fabelhaften Dividenden schon im voraus mitteilte. Von Februar bis Juli 1994 stiegen die Aktien der Firma von 1600 auf 115000 Rubel. Das System brach jedoch zusammen, als Mawrodi verhaftet und angeklagt wurde – nicht etwa wegen Betruges oder unwahrer Behauptungen, sondern wegen Steuerhinterziehung: Der Staat forderte rückständige Steuern in Höhe von 50 Milliarden Rubel.
Mawrodi holte zum Gegenschlag aus. Er startete eine gigantische Werbekampagne in allen großen russischen Zeitungen, er bezichtigte die Regierung, einen Rachefeldzug gegen ihn zu führen, und drohte sogar, seine „zehn Millionen Aktionäre“ zu einem Volksbegehren gegen die Politik der Regierung zu mobilisieren. Um aus dem Gefängnis herauszukommen, ging er in die Politik. Praktischerweise war wenige Monate zuvor ein Geschäftsmann, der einen Moskauer Vorort in der Duma vertrat, ermordet worden. Gleich nach Bekanntgabe der Kandidatur Mawrodis bei den Teilwahlen beantragte ein Gericht seine Freilassung, gestützt auf eine von Präsident Jelzin erlassene Bestimmung, wonach ein Kandidat für einen Duma-Sitz nicht ohne Zustimmung des Obersten Gerichtshofes in Haft bleiben darf. Seine zentrale Wahlaussage lautete, seine Wahl werde eine erneute Notierung der MMM-Aktien ermöglichen. Außerdem versprach er, 10 Millionen Dollar aus eigener Tasche in den Wahlbezirk zu investieren, und gründete eine Partei, die sich aus Beiträgen von MMM-Aktionären finanzieren sollte, die an einer Rückerstattung ihrer Einlagen interessiert waren. Großsprecherisch unterstützte ihn der Ultranationalist Wladimir Schirinowski, der ihn als „Helden des Volkskapitalismus“ und „Opfer staatlicher Willkür“ hinstellte. Mawrodi schaffte den Spagat zwischen Geschäft und Politik. Er ließ zehn andere Kandidaten hinter sich und zog am 31. Oktober 1994 in die Duma ein. Ein stellvertretender Vorsitzender des Haushalts- und Finanzausschusses forderte sogar, der neue Abgeordnete solle „seinen reichen Erfahrungsschatz in die Ausarbeitung des anstehenden Wertpapiergesetzes einbringen“.
In Wirklichkeit funktioniert das Bankensystem außerhalb des Gesetzes oder vielleicht über dem Gesetz. Mittels Darlehen an den Staat, die dieser mit Aktienpaketen von Industriefirmen bezahlte, konnte sich vor kurzem eine kleine Finanzoligarchie die Filetstücke der Industrie des Landes unter den Nagel reißen. Diese Macht und die Art und Weise, wie sie ausgeübt wird, bringt freilich auch gewisse Gefahren mit sich. Allein 1996 sind 26 Bankiers, bei denen man die Einhaltung von „Abmachungen“ angemahnt hatte, eines nicht natürlichen Todes gestorben. Solche oder ähnliche Affären haben alle Länder des früher kommunistischen Europas erlebt. Das von einer Art Goldrausch erfaßte Volk wird zur leichten Beute für einfallsreiche Finanziers, die sich Gesetzeslücken und die Attraktion des schnellen Reichtums zunutze machen. Und außerdem lockt die allgegenwärtige Werbung mit Fernreisen, Luxushäusern und schönen Autos. Werbefirmen schmieren Politiker, die als Gegenleistung – ausdrücklich oder stillschweigend – deren Machenschaften abdecken. Auch können sich die Finanzjongleure durch demonstrativen Bürgersinn und wohltätige Aktivitäten die Sympathien der Öffentlichkeit erkaufen. In ihrer Selbstdarstellung betonen die Pyramidensysteme schon sprachlich den mysteriösen Charakter ihrer zeitgenössischen Alchemie.
In Rumänien behauptete der ehemalige Buchhalter Ion Stoica als Gründer der Investitionsfirma Caritas (die bewußt mit der gleichnamigen angesehenen katholischen Organisation verwechselt werden sollte), er verfüge über eine „magische“ Formel, nach der er den Anlegern nach hundert Tagen das Achtfache ihres Einsatzes zurückzahlen könne. In Anspielung auf das Wunder der Brotvermehrung ließ er sich auch als „Messias“ bezeichnen. Mit solchen Methoden gelang es ihm, vier Millionen Mitbürger übers Ohr zu hauen. Diese „Pyramiden“ führen nicht nur zu privaten Geldeinbußen, sie vergiften den gesamten Finanzsektor und verwüsten am Ende auch noch die politische Landschaft. Angesichts der Attraktivität solch gewinnträchtiger Investitionsmöglichkeiten müssen vormals seriöse, gut geführte Häuser ähnlich verlockende Angebote machen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Bestenfalls lassen sie sich auf hochriskante Anlagegeschäfte ein, schlimmstenfalls machen sie bei den betrügerischen Machenschaften mit. Dank ihrer Profite gelingt es den Finanzjongleuren, die Politiker durch Geldgeschenke bei der Stange zu halten. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die Reaktionen auf die unvermeidlichen Zusammenbrüche. Es entspricht einer wirtschaftlichen Logik, die sowohl vom ideologischen Umfeld als auch von den Interessen ausländischer Gläubiger diktiert wird, daß nach der goldenen Regel caveat emptor (sieh dich vor, Käufer!) die Regierung keineswegs für die Leichtgläubigkeit der Anleger einstehen muß.
Für bestimmte Verfechter des Ultraliberalismus sind solche Krisen sogar eine zwangsläufige oder gar heilsame Lektion im kapitalistischen Lernprozeß dieser Länder. Doch die politische Logik läuft völlig anders: Die Regierungen sind mit dem Zorn der geprellten Sparer konfrontiert, wollen sich aber nicht in die Skandale hineinziehen lassen, und versuchen gleichzeitig, ihre großzügigen Geldgeber so gut es geht zu schützen. Das Ergebnis sind Kompromisse, die niemanden zufriedenstellen können: Entweder setzt man die Notenpresse in Gang, was die Inflation anheizt und die Kaufkraft verringert, oder man versucht, die geprellten Kunden mit fast wertlosen Staatspapieren zu entschädigen. Albanien, das ärmste der ehemaligen Ostblockländer, war offenbar prädestiniert für eine Krise größten Ausmaßes. In dem letzten vom Kommunismus befreiten Land Europas kam zu den Lasten eines ungezügelten Kapitalismus noch der Hang der Regierung, an den unausrottbaren stalinistischen Praktiken festzuhalten. Vor dem Hintergrund staatlicher Willkür und politischer Prozesse betrieb das Regime von Präsident Sali Berisha eine kompromißlose Liberalisierung. Da es sich als einziges Bollwerk gegen die Altkommunisten präsentierte, genoß es trotz zweifelhafter politischer Praktiken die uneingeschränkte Unterstützung der westlichen Regierungen und internationalen Organisationen. 1996 meldete das Land die höchsten Wachstumsraten von ganz Europa – dank Schwarzhandel und Geldwäsche und vor allem aufgrund des künstlichen Booms der Pyramidengeschäfte, deren Zusammenbruch das Land seitdem an den Rand des Bürgerkriegs brachte.
Rund ein Drittel der Albaner (und damit vier von fünf Haushalten) wurden vom Fieber der raschen Bereicherung gepackt und verschleuderten ihre kümmerlichen Ersparnisse, die Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Herden, ihrer jüngst privatisierten Grundstücke oder ihrer Wohnungen, die sie gerade erst zu einem symbolischen Preis erworben hatten, wie auch das Geld, das ihnen ihre nach Griechenland oder Italien ausgewanderten Kinder geschickt hatten. Sie investierten alles in den rund zehn „Stiftungen“, die auf dem Prinzip des Pyramidensparens beruhten. Diese Leichtgläubigkeit ist verständlich: Sie resultiert aus illusionären Vorstellungen über einen Kapitalismus, den man ihnen in den rosigsten Farben darstellte, nachdem man ihn jahrzehntelang verteufelt hatte. Die Kritik am Westen aus der Enver-Hodscha-Ära erachtete man wie selbstverständlich als null und nichtig, die idyllischen Bilder hingegen, die das westeuropäische Fernsehen verbreitete, für wirklichkeitsgerecht. Erwachen im schlimmsten Alptraum
Einer desorientierten Bevölkerung ohne Beschäftigung, deren monatliches Durchschnittseinkommen nicht mehr als 70 Dollar beträgt, mußten die versprochenen Gewinnaussichten von monatlich 35 bis 100 Prozent als einziger Ausweg erscheinen, um ihrem Elend zu entrinnen. Gelegentliche Warnungen vor den Risiken gingen unter im Chor der Beschwichtigungen, die sowohl die Betreiber der Pyramidensysteme als auch die Politiker von sich gaben. Manche Anleger wußten, daß ihre Gelder höchst riskant angelegt waren, hielten sich aber für gerissen genug, sie rechtzeitig wieder abzuziehen. Der plötzliche spektakuläre Reichtum ihrer Nachbarn und das Stehvermögen der Pyramiden, die sich teilweise über zwei Jahre hielten, überzeugten schließlich auch die größten Skeptiker. Wie anderswo auch fanden sich in Albanien Finanzleute, Politiker und Mäzene in fröhlicher Gemeinsamkeit zusammen, wobei die Raffgier allenfalls von den absurden Zügen übertroffen wurde. So ist die Chefin der Sude-Stiftung eine Hellseherin, die man nur „die Zigeunerin“ nennt. Und Rappush Xhaferi, der Leiter der wohltätigen demokratischen Volksstiftung Xhaferi, konnte sich, als er zum Besuch seiner Heimatstadt Lushjna in einem gepanzerten Mercedes eintraf, als veritabler Wohltäter und Volksheld aufspielen. Hatte er nicht aus Brasilien und Argentinien große Fußballstars geholt und einen Mario Kempes für 350000 Dollar als Trainer des örtlichen Fußballvereins eingekauft?
Insgesamt wurden mehr als eine Milliarde Dollar, ein Drittel des albanischen Bruttosozialprodukts, in diesen Pyramiden begraben. Im Dezember 1996 wurden die schwächsten Firmen zahlungsunfähig. Als das Kartenhaus zusammenfiel, merkten alle, die ihr Geld im Schlaf hatten vermehren wollen, daß sie in einem gigantischen Alptraum aufgewacht waren. Die Regierung ergriff zwar eine Reihe von Maßnahmen – man verhaftete die Pyramidenbetreiber, die noch nicht geflohen waren, blockierte einige noch zugängliche Guthaben und ließ die Pyramiden insgesamt verbieten -, aber in den Augen der Öffentlichkeit war die Regierung für das Debakel verantwortlich. Alles schien darauf hinzudeuten, daß die Hauptverantwortlichen der Anlagefirmen enge Verbindungen zur regierenden Demokratischen Partei unterhielten, deren Slogan bei den – von Betrug begleiteten – Wahlen von 1996 gelautet hatte: „Wählen Sie die Demokratische Partei, und alle werden gewinnen“. Es war ein unübersehbarer Hinweis auf den plötzlichen Reichtum, der jetzt scheinbar für alle wahr werden sollte …
Bereits im Februar 2004 hatte die FAZ in einem Bericht das albanischen Pyramidenspiel mit einem in Westdeutschland religiös hinterfütterten Pilotenspiel verglichen, das sich „Herzkreis“ nannte:
Geldstromschnellen. Ein Sittenbild aus besseren Kreisen: Der erste „Herzkreis“-Prozeß
Der Satz auf dem Umweltpapierblatt klingt wie eine Werbung dafür, auch heute noch in die Rentenkasse einzuzahlen. „Rein mathematisch ist die Welt irgendwann alle“, heißt es dort in flapsiger Wortwahl, „doch bis dies eintrifft, werden Generationen vergehen.“ Das nicht weiter ausgeführte Rechenbeispiel soll mißtrauische Frauen überreden, sich ein Herz zu fassen und in den „Zirkel“ einzutreten. Frauen, die argwöhnen, „daß die Letzten im Zirkel die Hunde beißen“. Nun sind die letzten in diesem Spiel laut Gebrauchsanweisung erst „unsere Ur-Enkel (4. Generation)“, und „bis dahin werden natürlich auch wieder viel Frauen geboren. Schau dich mal um, wie viele Frauen du kennst und schau wie viele davon schon im Zirkel sind. Die wenigsten, wenn überhaupt. Wir haben Zeit!“ Von den fehlenden Kommata und dem ungeschickten Tonfall abgesehen, könnte diese schlechte Kopie einer Kopie – die weder Ort noch Datum oder Urheber vermerkt – durchaus in einem Text von Jorge Luis Borges auftauchen. Schließlich erfand Borges in seiner Erzählung „Der Kongreß“ die Idee eines Weltkongresses, der sich im geheimen auf die gesamte Menschheit ausdehnt.
Doch der „Zirkel“ ist keine Liga der außergewöhnlichen Hausfrauen und auch keine feministische Geheimloge. Zwar schwärmt das Papier von der „Auflösung alter Mangelmuster“ – doch am Ende feiert es bloß die Zirkulation von Geld, die auf Strukturen des Mangels beruht wie kaum ein zweiter Kreislauf. Wie zahlreiche nur von Hand zu Hand weitergereichte Zettel wirbt das Blatt für das Schneeballsystem der „Herzkreise“, die im Jahr 2001 zunächst in Kölner Villenvororten auftauchten und nach und nach die besseren Kreise Deutschlands in Rotation versetzten. Wer auf der untersten Ebene mit insgesamt acht „Herzen“ einsteigt, schenkt der Frau an der Spitze fünftausend Euro – und versucht nach der anschließenden „Teilung“ des Kreises durch die Rekrutierung neuer Mitglieder dafür zu sorgen, über Zwischenebenen mit vier beziehungsweise zwei „Herzen“ selbst an die Stelle der Empfängerin vorzurücken und vierzigtausend Euro zu kassieren. In dem oft schon nach drei Generationen eintretenden Moment, wo das Umfeld der Teilnehmerinnen abgemäht ist und sich keine neuen Geldquellen mehr auftun, erklärt die Rhetorik des Spiels die untersten und notgedrungen „inaktiven“ Frauen zu „Energieräuberinnen“. Diese bleiben dann auf der verbrannten Erde eines aufgelösten Zirkels zurück und auf ihren Verlusten sitzen.
Nun drohen die deutschen Eliten durch die „Herzkreise“ kaum in jenem bürgerkriegsartigen Chaos zu versinken, das die junge Marktwirtschaft von Albanien im Jahr 1997 erfaßte, als fast die gesamte Bevölkerung an einem ominösen Pyramidenspiel teilnahm. Doch tatsächlich scheint sich die Welt auf dem Wege der Potenzrechnung weit schneller zu erschöpfen, als die anonymen Stifterinnen des Spiels glaubten, das laut einem anderen Instruktionsblatt „vor fünfzehn Jahren von Nonnen in Kanada ins Leben gerufen wurde“. In England beschäftigten die plötzlichen Nebenverdienste von Teezirkeln und Bridgeclubs im vergangenen Jahr die Öffentlichkeit – als feministisches, mit Wohltätigkeitsfloskeln drapiertes Nachholen des Spekulationswahns der Internetgründerzeit. Im Zuge der Globalisierung hat die Netzwerkbildung nun Deutschland erreicht, und längst dringen die Verästelungen bis ins den hintersten Winkel des Bergischen Landes. Während aber das oben angeführte Papier davon schwärmt, Geld sei „das, was uns im Kreis verbindlich macht“, haben sich die Investitionen an vielen Orten in sozialen Sprengstoff verwandelt.
Eine Summe von insgesamt rund 1,5 Millionen Euro fordert allein der Kölner Rechtsanwalt Erik Millgramm zurück, der etliche aus dem „Herzkreis“ ausgestiegene oder herausgefallene Frauen vertritt. Heute wird am Landgericht Köln das Urteil im ersten bundesweiten Prozeß erwartet, vom Richter als „Pilotverfahren“ eingestuft. Sollte das Gericht im Sinne der Klägerin entscheiden, die von der beschenkten Frau die fünftausend Euro nebst Zinsen zurückfordert, dann könnte das bislang im verborgenen laufende Schneeballsystem seine Richtung umkehren und als donnernde Lawine über Stadt und Land zurückrollen – die Ersten, die oft mehrere Zirkel durchlaufen haben und bis zu achtmal den Gewinn von vierzigtausend Euro eingestrichen haben, würden die Letzten sein. Tatsächlich handelt es sich bei den „Herzkreisen“ um ein Lehrstück über soziale Systeme, die auf Vertrauen beruhen. Einige der Anleitungen berufen sich ausdrücklich auf die „Funktionsweise sich selbst organisierender Systeme“ und fordern die Frauen auf, „Energie, Optimismus und Ideenreichtum“ in den Kreis einfließen zu lassen, da „Inaktivität, Skepsis und Mißtrauen“ die Kybernetik der Gruppe schwächten. Andere setzen auf eine weibliche Läuterung des männlichen Kapitals und beschreiben die Zirkel als „Supergelegenheit, das Geld aus dem Geldstrom der Welt (der die Erde wie ein Gürtel umringt) in eine gute Verteilerstruktur hinein zu lenken und es damit z. B. aus anderen Kreisen (Mafia, Kriegsförderer, dubiose Wirtschaftsgeheimnisse) herauszuziehen und zu reinigen“.
In den meisten Fällen, so Millgramm, steigen Frauen mit einer „Verlusterfahrung“ in die „Herzkreise“ ein. Der Auszug der Kinder oder eine Trennung bildeten oft den Antrieb, in die „fiktive Solidargemeinschaft“ der „Herzkreise“ einzusteigen. Ob die Klägerin, Frau S., ihr Geld zurückverlangen darf, hängt – so deutete der Richter beim Prozeßauftakt im Januar an – von der Durchschaubarkeit des Systems ab. Zwar stehe die Sittenwidrigkeit der „Herzkreise“ wie bei jedem Schneeballsystem gemäß einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. April 1997 außer Frage, doch ein aus dem Römischen Recht stammender und in Paragraph 17 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs festgeschriebener Grundsatz sehe vor, daß Verträge „zwischen zwei schwarzen Schafen“, die beide im „Bewußtsein der Sittenwidrigkeit“ handelten, ihre Gültigkeit behielten. Alles hängt also davon ab, ob zwischen Verlierern und Gewinnern in diesem Spiel Symmetrie herrscht.
Der Kölner Prozeßauftakt ließ als kleines Gerichtsdrama zumindest vermuten, daß die „Herzkreise“ Opfer- und Siegertypen durchaus scheiden – denn Frauen mit hohem sozialem Kapital und großem Organisationstalent können mehrere Kreise gründen und stehen folglich stets sofort an der Spitze, während eher einsame Frauen als ideale Opfer für Anwerbungen zwar das Geld einzahlen, aber nicht über das passende Adreßbuch verfügen, um selbst ins Zentrum des Kreises vorzudringen. Als die Klägerin vor Gericht erklärte, das Spielsystem beim mit „Herzen und Kerzen“ ausgeschmückten Treffen im Hause von Frau B. „ehrlich gesagt. nicht ganz verstanden“ zu haben, erntete sie bei den zahlreichen Frauen im Publikum höhnisches Gelächter. Frau B. hingegen führte als Beispiel für ihre Selbstlosigkeit an, sie sei zu dem Zeitpunkt, als der „Herzkreis“ „undynamisch“ geworden sei, „für unseren ,Herzkreis'“ in andere Zirkel eingestiegen. Als die verunsicherte Klägerin mit leiser Stimme klagt, nach ihrer Einzahlung sei die Beklagte plötzlich „sehr unwirsch und unnett“ zu ihr geworden, blickt die „Mutter einer Tochter meiner Freundin“ verständnislos über den Brillenrand und sagt schnippisch: „Aber Petra!“ Auf dem Flur drängelten sich nach dem Prozeßauftakt Damen im Pelz und mit Handtaschen von der „Avenue des Champs Elysées Paris“, um sich über den Prozeß zu amüsieren. „In unserer Gemeinde hat der Pfarrer von der Kanzel gegen ,Herzkreise‘ gepredigt“, sagt eine Besucherin aus Waldbröl. „Jetzt ist die Kirche leer.“
Waldbröl gilt als Hochburg der Schenkkreise, fast das ganze Dorf nahm offenkundig an dem Spiel teil und liegt nun im Streit. „Da spielt der eine C-Trompete und der andere B-Trompete, das ist jetzt alles kaputt“, klagt ein Mann aus Rösrath, selbst Opfer einer gemischtgeschlechtlichen Schenkbörse. Wiederholt sich in den gutsituierten Gemeinden Deutschlands zur Zeit das Schicksal von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny? Um die Legalität des fatalen Spiels zu beweisen, zieht ein weiteres der kopierten Blätter einen abenteuerlichen Vergleich: „Bausparkassensystem, Renten- und Krankenversicherungen sind legale und sogar gesetzlich verankerte Schneeballsysteme.“ Behüte uns Gott davor, daß diese absurde Gleichung eines Tages zutrifft.
1995 berichtete die taz über Pyramidenspiele in Rumänien:
Der Fall „Caritas“, der größte Finanzskandal der rumänischen Geschichte, hat ein mildes juristisches Nachspiel: Am vergangenen Freitag verurteilte ein Gericht im siebenbürgischen Klausenburg den ehemaligen „Caritas“-Chef Ioan Stoica zu sechs Jahren Gefängnis – wegen „betrügerischer Vermögensverwaltung“ und „betrügerischem Bankrott“. Stoica war nicht Vorsitzender einer „Wohltätigkeitsorganisation für die Menschen“, wie er bis zuletzt standhaft behauptete, sondern international berühmt-berüchtigter Besitzer eines der größten „Pyramidenspiele“ (ähnlich dem hiesigen „Pilotenspiel“), die es jemals gab.
Gegründet 1992, bot die „Caritas“ jeder rumänischen StaatsbürgerIn die garantierte Verachtfachung einer beliebig hohen Summe an. Einzige Bedingung: Die Summe mußte drei Monate lang bei der Firma deponiert werden. Anders als zahlreiche andere „Pyramidenspiele“ in Rumänien funktionierte die „Caritas“ fast ein ganzes Jahr lang. Grund: Klausenburgs Bürgermeister Gheorghe Funar, seit Jahren auch außerhalb Rumäniens bekannter Ultranationalist, hatte dem Spiel offiziellen Segen verliehen. Er trat mit Stoica gemeinsam öffentlich auf und empfahl „Caritas“ als „seriöse Investmentfirma“. Denn Stoica sicherte sich Funars Wohlwollen durch Millionenspenden an die Bürgermeisterei. Die Allianz des Schwindlers mit dem Bürgermeister verfehlte ihre Wirkung nicht. Von Frühjahr bis Herbst 1993 konnte Stoica Millionen Menschen nach Klausenburg mobilisieren. Täglich kamen Sonderzüge in die siebenbürgische Metropole, Rumänien lag im „Caritas“-Fieber. Nach Schätzungen sollen bei dem Spiel rund tausend Milliarden Lei in Umlauf gewesen sein (damaliger Kurs: 800 Millionen Mark). Behörden griffen trotz einer regionalen Preisexplosion und einem landesweit spürbarem Geldmangel nicht ein. Einige tausend Menschen erhielten tatsächlich riesige Summen, die restlichen der geschätzten drei Millionen Beteiligten gingen leer aus.
Die „Caritas“-Pleite, die sich im Herbst 1993 über mehrere Monate hinzog, führte zwar nicht dazu, daß Klausenburg angezündet wurde, wie „Caritas“-Spieler im Falle eines Bankrottes der Firma gedroht hatten. Doch das „Pyramidenspiel“ blieb eine heiße Story: Die Geschädigten-Bewegung desavouierte sich selbst; ihre Anführerin Ana Potcoava verschwand eines Tages mit der Vereinskasse. Stoica tauchte nach dem „Caritas“-Bankrott zunächst unter und wurde im August 1994 verhaftet. Aus seiner Gefängniszelle, die er zeitweise mit dem ebenfalls wegen Finanzbetrügerei einsitzenden Chef einer großen rumänischen Staatsbank teilte, gab er „der Presse und böswilligen Menschen“ die Schuld am „Caritas“-Zusammenbruch. Dabei blieb er, ohne weitere Details zu nennen, bis zuletzt. Das Gericht seinerseits zeigte kein besonderes Interesse, Licht in die Abzockeraffäre zu bringen. Der Verbleib der Milliarden und die angebliche Verwicklung hoher rumänischer Politiker in das Spiel wurden hier nicht aufgeklärt. Der Bürgermeister Funar weigerte sich, im Prozeß als Zeuge aufzutreten. Sein „Caritas“-Engagement wird voraussichtlich überhaupt kein juristisches Nachspiel haben. Während nun darüber spekuliert werden darf, ob die milde Strafe der Preis für Stoicas Schweigen war, ist der Ex-„Caritas“-Besitzer mit dem Urteil keineswegs zufrieden. Stoicas Anwälte wollen in Revision gehen. Gewinner des Prozesses ist im übrigen der Bürgermeister Funar: Stoica muß zehn Millionen Lei (7.000 Mark) Steuern und Gebühren nachzahlen.
1997 legte ein Spiegelbericht nahe, dass Bankgeschäfte und Pyramidenspiele langsam verschmelzen – allerdings vorerst nur in Russland:
Wohin der Wildwuchs führen kann, das hat im Sommer 1994 der Zusammenbruch des Investmentfonds MMM gezeigt. Das MMM-Management hatte den Wertpapiermarkt mit zehn Millionen fauler Aktien überschwemmt. Die Ausschüttungen wurden jeweils mit den Einlagen der Neuanleger finanziert – so wie beim Pyramidenspiel in Albanien. Der Bankrott riß zahllose Anleger in den Abgrund. Es war die folgenreichste Pleite seit der Wende. Es wird wohl nicht die letzte gewesen sein. Denn die Kontrollmechanismen sind leicht zu manipulieren. Im Eisen- und Stahlkombinat Nowolipetzk sperrten die Einheimischen im Aufsichtsrat kritische Aktionäre, die über 40 Prozent der Anteile verfügten, einfach aus – mit der Begründung, die Werktätigen seien „nicht bereit, sich dem Diktat des fremden Kapitals zu beugen“. Noch schlimmer erging es der britischen Metallhandelsgesellschaft „Transworld“, die 1994 ein Fünftel der Anteile der Aluminiumfabrik von Krasnojarsk für 300 Millionen Dollar erworben hatte. Sie wurde ohne Angabe von Gründen von der Aktionärsliste gestrichen. Transworld könnte das ganze Aluminiumpaket natürlich wieder verkaufen. Aber wer kauft schon Industrieanteile, für die er über 3000 Kilometer von Moskau vor einem sibirischen Amtsrichter erst das Stimmrecht einklagen muß?
Die Gesetze zum Schutze der Investoren sind soweit schon in Ordnung. Aber dem System fehlen die Richter, die mit den Gesetzen auch umgehen können. Das Börsenzeitalter begann 1992 in Moskau mit der Ausgabe der „Wautscheri“ (von englisch „voucher“). Sie wurden vorwiegend an den Würstchenbuden und Zeitungskiosken im Umfeld der Wertpapierbörse vertrieben oder gegen Fressalien und Elektroniktinnef eingetauscht. Das war die Zeit, in der man eine Fabrik mit tausend Mann Belegschaft für den Gegenwert von tausend Kisten Westbier kaufen konnte. Die Kautschukfabrik in Jaroslawl nordöstlich von Moskau mit ihren 4000 Mitarbeitern ging für den Preis eines Einfamilienhauses weg. In den 5 Jahren danach stieg ihr Wert auf das Hundertfache. Seitdem hat sich der Aktienhandel verfeinert. An der Moskauer Börse wird heute nur noch per Mausklick gedealt. Sein Computer-Network, sagt Vizedirektor Maxim Beloussow, sei eines der modernsten der Welt. Das mag wohl sein, doch die schöne Technik hat den Nachteil, daß sie nicht viel bewegt. Erst 5 Prozent der russischen Wertpapierverkäufe werden an der Börse abgewickelt. Die anderen 95 Prozent gehen über private Schreibtische. Viele tausend privatisierte Mittel- und Großbetriebe, die überwiegend im Besitz ihrer Mitarbeiter sind, warten noch auf den Einstieg in die Börse. Aber sie müssen erst mal ihre betriebswirtschaftliche Unwucht überwinden, um börsenfähig zu werden. Die wenigsten Finanzbuchhalter wissen, wie man einen ordentlichen Jahresabschluß für die Hauptversammlung macht. Die meisten wissen aber aus der Zeit der sozialistischen Kommandowirtschaft noch ganz gut, wie man Verluste in Gewinne umfälscht, wie man Bilanzen so frisiert, daß unabhängig von der Ertragslage ein Gewinn ausgewiesen wird.
Weil es in Rußland keine Wirtschaftsprüfer im westlichen Sinne gibt und weil deshalb die Ermittlung von Gewinn und Verlust für Uneingeweihte nicht nachzuvollziehen ist, sind hier die Grenzen zwischen Investieren und Zocken so fließend. Der große Umbau der Werte hat der gleichmacherischen Neidkultur eine Menge zugemutet. Früher war „Profit“ eine Totschlagsvokabel aus dem Glossar des Klassenfeindes, mit der man jede wirtschaftliche Initiative ersticken konnte. Nun ist Profit der wichtigste Eckpfeiler der neuen Ordnung. Kapital und der Kapitalismus sind im Prinzip akzeptiert, nur die Kapitalisten kämpfen noch um Akzeptanz. Der Umstieg von der Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft war grausam. Aber es mehren sich die Zeichen, daß das Schlimmste überstanden ist. Die großen internationalen Brokerfirmen – Deutsche Morgan Grenfell, Merill Lynch, Salomon Brothers – haben sich mit sibirischen Blue Chips eingedeckt. Und von den 40, 50 Milliarden Dollar Fluchtgeld, die die Verchuschka, die oberen Zehntausend, in der Schweiz und auf Zypern geparkt haben, sind riesige Summen zurückgeflutet. Nun muß die breite Masse der Sparer noch begreifen, daß ihr Geld auf Bankkonten und vor allem an der Börse besser angelegt ist als im Wäscheschrank oder in einem Erdloch hinter der Datscha. Wenn die Rechtsunsicherheit erst mal beseitigt sei, würden Dollar und Rubel noch schneller rollen, meint der Londoner Investmentbanker Christopher Wood. „Viele Milliarden warten nur darauf, hier den Markt zu überschwemmen.“
Der Rückfluß der Dollar-Milliarden in den russischen Geldkreislauf hat der Wirtschaft tüchtig Schub gegeben. Die Konjunktur nimmt nach langem Siechtum Fahrt auf. Die Jahresinflationsrate ist von über 2000 auf 14 Prozent gesunken. Zum erstenmal seit der Wende hat das Bruttoinlandsprodukt 1997 wieder zugenommen. Der Aktienindex der „Moscow Times“, der 50 Blue Chips bewertet, tobte in 15 Monaten um animalische 500 Prozentpunkte nach oben. Allerdings wurde auch der sogenannte Daudschonski, wie Börsianer ihn nach dem US-Vorbild Dow Jones nennen, Mitte Oktober tüchtig durchgeschüttelt. Die Ausschläge nach oben und unten waren in Moskau sogar noch heftiger als an den Wertpapiermärkten im Westen. Am 28. Oktober fiel der Index um knapp 21 Prozent zurück, tags drauf schoß er dann wieder um gut 22 Prozent nach oben. Trotzdem ist Moskau auf der internationalen Börsen-Profithitliste (nach Istanbul) noch immer die Nummer zwei.
1998 flog laut taz ein „europaweites Pyramidenspiel“ auf:
In Österreich ist ein weitverzweigtes Pyramidenspiel mit wahrscheinlich mehreren hunderttausend Geschädigten in mehr als einem halben Dutzend Staaten Europas aufgeflogen. Die Polizei in Linz, bei der die Federführung für die Ermittlungen liegt, gab den Gesamtschaden gestern mit zumindest 500 Millionen Schilling (71,5 Millionen Mark) an. Die Zentrale des als „Lotteriegemeinschaft“ getarnten Pyramidenspiels sei im Bayerischen Wald ausgehoben worden. Vier Österreicher und ein Tscheche wurden als mutmaßliche Haupttäter verhaftet, weitere 50 Personen seien als Mittäter verdächtig. Die Täter hätten Anlegern in Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen, Kroatien, der Schweiz, Griechenland und Österreich versprochen, ihr Geld als großangelegtes System in die staatlichen Lotterien zu investieren. Die hohen Einlagesummen, die noch höhere Gewinne versprachen, sollen allerdings sofort abgezogen und gewaschen worden sein.
2004 hatte ich mir Gedanken über die Mitspielergewinnung bei den Pyramidenspielen in Ost- und Westberlin gemacht, d.h. ich versuchte herauszubekommen, wie man einen Wunschluss zu einem Geldfluss macht:
Das Schema ist immer das gleiche: eine Art Amway- oder Tupperware-Party unter vier Augen. Da ruft ein ehemaliger Arbeitskollege an und sagt: „Ich mach grad eine Umschulung und dabei ein Praktikum bei einer Vermögensverwaltung. Am Ku’damm“, fügt er hinzu. „Und dabei würde ich gerne eine Vermögensberatung bei dir durchführen – kostenlos“. Die Beratung ergibt dann: „Du zahlst zu viel Steuern.“ Ja, was soll man da machen? „Du solltest dir eine steuerbegünstigte Immobilie zulegen.“ Bei Beratungsschluss hat der Betreffende dann eine Eigentumswohnung nicht weit von Rostock am Hals, in die er sein ganzes Geld gesteckt hat. Dazu muss er fortan noch einen Kredit bei der Bayern-Hypo in 800-Euro-Raten monatlich zurückzahlen. Die Wohnung steht leer, und die Tochterfirma der Baugesellschaft, die für eine Mietausfallgarantie gradesteht, geht nach einem Jahr – zusammen mit der Hausverwaltung – Pleite.
Bei anderer Gelegenheit wirbt – wieder ein Umschüler – den Leiter seiner Maßnahme für eine US-Telefongesellschaft an, die kostenlose Gespräche mit einem Freund anbietet. Dazu müssen beide einen Vertrag unterschreiben. Der Kursusleiter hat eine Freundin in Hannover, mit der er täglich telefoniert, das US-Angebot ist also verlockend – zumal die anderen Telefongebühren der Firma sich „im normalen Rahmen“ bewegen. Das Vertragswerk läuft aber auf ein Pyramidenspiel hinaus: Mit einer 800-Euro-Einlage kann man – nach Anwerben weiterer Kunden – an deren Telefongebühren verdienen. Der Dozent bemerkt zu spät das Kleingedruckte: Als Mitspieler und -gewinner ist er nicht mehr Kunde, sondern „Geschäftspartner“ – und muss für die „Call a Friend for Free“-Anrufe normale Tarife zahlen. Man nennt diese Geschäftemacherei neuerdings „Network Marketing“.
Es ist ein gleichsam „induktives Verfahren“ zur Durchdringung der informellen Ökonomie kleiner und kleinster sozialer Gruppen, um sie mittels Kapitalisierung von innen aufzusprengen. Den Anfang machten all die jungen NVA-Offiziere, die zuvor die Staatssicherheit garantiert hatten und nun als private Versicherungsvertreter Verwandte und Freunde abklapperten, um ihnen eine Police nach der anderen aufzuschwatzen. Spätestens als jeder zweite DDRler hoffnungslos überversichert war, war ihre Allianz-Karriere beendet. Der kurze Erfolg basiert auf der „Schwierigkeit, nein zu sagen“, die dadurch gesteigert wird, dass die Argumente von jemandem kommen, dessen Urteil man vertraut. Wobei man ihm zudem beim Aufbau einer neuen Existenz unterstützt. Es könnte ja auch mal andersrum kommen.
Das Network-Marketing nun ist geeignet, all diese losen Fäden der Kommunikation zusammenzuknüpfen – und dabei Intensitäten in Intention zu verwandeln. So haben etwa die Vermögensberater, die den Versicherungsvertretern auf den Fuß folgten, so viele Wohnungen verkauft, dass es nun 340.000 Bundesbürger gibt, die zu wenig verdienen, um bei anhaltendem Leerstand ihrer Wohnung weiter den Kredit dafür abzahlen zu können. Einem Journalisten, der in der DDR im Knast gesessen hatte, schwatzte man gar einen ganzen leer stehenden Supermarkt im Bayerischen auf – indem man eine ehemalige Leidensgenossin aus Bautzen auf ihn ansetzte, die ihn von der Seriosität der Immobilienverkäufer überzeugte. Erst hinterher kam heraus, dass die Baufirma ein Abkommen mit den umliegenden Supermärkten geschlossen hatte dahingehend, dass die Immobilie zehn Jahre lang nicht von einem Supermarkt genutzt werden durfte.
Um die „Schwierigkeit, nein zu sagen!“ unüberwindbar zu machen, hatte man hier sogar zu „intimen Verfahren“ gegriffen. Übrigens endete auch so manche Tupperware-Party schon in einem Swingerclub. Ich habe das Problem bereits, wenn sich nur ein Bekannter mit mir zum „Wir müssen uns mal wieder sehen“-Gespräch trifft und sich dabei plötzlich als Webpage- oder Handy-Vertreter entpuppt. Auch bei Zeitungsverkäufern, die ich gut kenne, kann ich nicht nein sagen. Diese sozusagen unterste Stufe des Network-Marketings wird in letzter Zeit von Versicherungsvertretern und allerlei Versuchsproduktanbietern „getestet“ – seitdem wissenschaftlich erwiesen ist, dass die „unternehmungslustigsten“ und „risikofreudigsten“ Arbeitslosen eher in Kneipen anzutreffen und zu motivieren sind als solche, die zu Hause vor dem Fernseher hocken. In einigen Bordellen der Stadt kann man sich sogar schon zu Goldschmuck- und Junk-Bond-Käufen animieren lassen.
Im Rahmen der ostdeutschen Betriebsräteinitiative hatten wir schon 2001 mit einem geradezu gigantischen Pyramidenspiel zu kämpfen gehabt. Dabei handelte es sich um die Beschäftigungsgesellschaft „Mypegasus“ von Jörg Stein, der gleichzeitig für die ostdeutschen Betriebsräte und die Treuhandanstalt arbeitete, indem er es übernahm, die in den Betrieben massenhaft Entlassenen mit List und Tücke in seine Beschäftigungsgesellschaft zu überführen. Zeitweilig wurde der schwäbische Arbeitsrechtler darüber zum „größteb Arbeitgeber Ostdeutschlands“, wie er sagte. Sein Beschäftigungssystem funktionierte nach Art eines Pyramidenspiels. Als er starb, veröffentlichte ich in der taz einen „Nachtritt“:
Seit den 60er-Jahren brauche ich morgens bloß die Todesanzeigen in der FAZ zu lesen – und schon habe ich gute Laune. So auch gestern, als ich zwei Todesanzeigen für Jörg Stein entdeckte. Der schwäbische Arbeitsrechtler wurde nach der Wende vom IG-Metall-Chef Steinkühler in die Treuhandanstalt (THA) geholt. Die THA wollte vor der Privatisierung ihrer Ostbetriebe so viele Arbeitsplätze wie möglich abbauen, um die Unternehmen für Käufer interessanter zu machen. Die entlassenen Belegschaften wurden in Beschäftigungsgesellschaften „zwischengeparkt“. Dieses Parkgeschäft übernahm Jörg Stein, indem er die Betriebsräte bearbeitete. In der Treuhand hieß es schon bald: Ohne Herrn Stein läuft bei uns gar nichts! Bei den ostdeutschen Betriebsräten war der „Totquatscher“ dagegen verhasst. So meinte etwa der Betriebsratsvorsitzende des Motorradwerks Zschopau: „Der Stein, das war die schlimmste Erfahrung meines Lebens!“ Am Ende waren jedoch die meisten DDR-Betriebe von Mitarbeitern entleert – und Stein der größte Arbeitgeber Ostdeutschlands geworden: „Dafür kann ich aber nix“, sagte er mir einmal, „die ganzen Betriebe waren doch übervölkert.“ Treuhandchefin Birgit Breuel sprach wenig später von einer in den VEB „versteckten Arbeitslosigkeit“ und ein CDU-Politiker neulich von „Zwangsarbeit“.
Die ostdeutsche Betriebsräte-Initiative verglich Steins Vorgehen mit einem Pilotenspiel: Jede neue entlassene Belegschaft bringt ihre Sozialplan-Gelder in die steinsche Beschäftigungsgesellschaft ABS ein und dann kann diese eine Weile lang wirtschaften, bis die Belegschaft des nächsten liquidierten Betriebes – mit neuem Geld – an die ABS angekoppelt wird. Für Jörg Stein selbst blieben bei diesem Spiel Millionen hängen. Allein für die „Sozialplanbegleitung“ der liquidierten Mikrotechnologischen Gesellschaft Frankfurt (Oder) kassierte er 500.000 Mark.
In seinen ABS-Gesellschaften verblieben die Mitarbeiter rund ein Jahr, danach gingen sie in Umschulung, ABM oder in die Arbeitslosigkeit. Um sie dahin zu kriegen, bombardierte Stein die Betriebsräte mit Faxen. Dem Betriebsratsvorsitzenden des Ökokühlschrankherstellers Foron schrieb er zum Beispiel: „Ich habe Euch ein Gesamtkunstwerk geliefert [. . .] Ihr wißt nämlich nicht, um was es geht – das ist keine Wessi-Arroganz, sondern hat Sinn und Zweck – nämlich Kompetenz“. In seinen Schriftsätzen zitierte er gerne „den lieben Kollegen B. Brecht: ,Bitter bereut, wer des Weisen Rat scheut'“ – und behauptete von sich selbst: „dass beim lieben Gegner, nämlich der Treuhand, oder westdeutschen Konzernen, in der Regel das ,Zittern‘ anfängt, wenn man meinen Namen hört. Ich bitte Euch aus diesem Grund, mir mit dem Respekt zu begegnen, mit dem mir auch der Klassenfeind gegenübertritt“. Respekt, für einen, der sieben Geschwister hatte und aus kleinen Verhältnissen kam, ein gestandener „68er“ gewesen sein wollte („Friedrich Engels war ebenfalls gut betucht“) und auch ein „Realist“ („Wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft, wo die Einkommenshöhe Indikator für den Erfolg ist“).
Im Eifer des Gefechts und des Geschäfts mit den Riesensummen, die er hin und her schob, kam er immer wieder dem Mandantenverrat nahe. Zwar bezeichnete der Treuhand-Sprecher Schöde ihn schon beizeiten als „Wanderer zwischen den Welten“, aber die THA und Stein selbst stritten ab, dass er sowohl für die Treuhand als auch für die IG Metall und die Belegschaften arbeitete. Doch: Steinkühler bezuschusste sein Büro mit monatlich 50.000 Mark, die THA via Honorarvertrag monatlich mit über 70.000 Mark. Als alles getan war, gründete Stein im schwäbischen Millionärsstädtchen Reutlingen die Firma „mypegasus“, mit der er fortan auch die überschüssigen und überflüssigen Belegschaften aus westdeutschen Betrieben einsammelte – so die Bremer Vulkanwerft-Arbeiter, einen Teil der Philipp-Holzmann-Belegschaft und Mitarbeiter von SEL, Mannesmann, AEG. Die Steinsche Beschäftigungsgesellschaft mypegasus ist fast konkurrenzlos: Zwar gäbe es noch vier oder fünf Firmen ähnlichen Typs, meint deren Geschäftsführer Schwille, sie seien aber nur regional tätig. Diese lokalen oder nur für und von einem Betrieb gegründeten Beschäftigungsgesellschaften sind jedoch weitaus effektiver, insofern sie die Arbeitsbedürfnisse und Umschulungswünsche der Betroffenen besser berücksichtigen. Über die Todesanzeige hat Schwille ein Credo von Jörg Stein setzen lassen: „Effizienz bedeutet die Suche nach Kooperationsdividenden“.
Seit Anfang 2009 müssen sich in den USA immer mehr Banker und Finanzinvestoren vorwerfen lassen, ein „Pyramidenspiel“ betrieben zu haben. Der kürzlich verhaftete Milliardär aus Texas Allen Stanford meint, er könne alls Vorwürfe entkräften, die FAZ schrieb jedoch kürzlich, „Die Schlinge um den mutmaßlichen Anlagebetrüger zieht sich zusammen“. Heute berichtete sie über den wegen des selben Delikts zu 150 Jahren Haft verurteilten 71jährigen Bernhard Madoff:
Bernard Madoff wusste, wie man das Vertrauen seiner Opfer gewinnt: Er passte sich seiner Gesellschaftsschicht an Heute nennen sie ihn „Monster“ oder „Mörder“, vergleichen ihn mit Hitler oder Stalin. Gestern noch war er der liebe Bernie, der joviale Bekannte aus dem feinen Golfclub, der jahrelang immer die schönen Renditen auf das bei ihm angelegte Kapital gezahlt hatte. Die unbeschreibliche Wut, die viele ehemalige Kunden gegenüber Bernard Madoff äußern, erklärt sich wohl nicht allein mit dem Geld, das sie verloren haben. Nicht zuletzt hat Madoff die Eigenliebe seiner Kunden erheblich verletzt, denn er wusste nicht nur ihr Vertrauen zu missbrauchen, sondern sie auch noch mit dem simpelsten Trick in der Welt des Anlagebetrugs hereinzulegen: dem Schneeballsystem.
Die Betroffenen haben nicht nur erhebliche finanzielle Verluste erlitten, sie sind zudem fürchterlich blamiert. Kein Wunder, dass ein erfahrener französischer Anlageberater, der sich von Madoff wie eine Weihnachtsgans ausnehmen ließ, Selbstmord beging. Wie kann eine solche Täuschung funktionieren? Es existiert ein erstaunlicher Parallelfall, in dem es allerdings nicht um Anlagebetrug großen Stils ging. Der Franzose Jean-Claude Romand täuschte während 18 Jahren selbst seiner Familie und seinen engen Freunden erfolgreich die Tätigkeit eines medizinischen Forschers vor, obgleich er nicht einmal einen Universitätsabschluss besaß. Seine Tage verbrachte Romand nicht im Labor, sondern in Wäldern und auf Autobahnparkplätzen. Das für sein Leben notwendige Geld erschlich er sich von Verwandten und Bekannten mit dem Versprechen, er könne es günstig anlegen. Als er nach knapp zwei Jahrzehnten aufzufliegen drohte, ermordete er seine Familie.
Seine Freunde und Bekannten fielen aus allen Wolken, als sie von Romands Scheinexistenz erfuhren und sich ihrer unfassbaren Blindheit bewusst wurden. Für Täuschungen über Jahrzehnte braucht es natürlich viel Glück und die Oberflächlichkeit von Behörden, die Verdacht schöpfen, aber nichts unternehmen. Die Beispiele von Madoff und Romand belegen, wie sich die Hauptpersonen aufführen müssen, damit die Täuschung gelingt: Sie verhalten sich im Rahmen ihrer Gesellschaftsschicht völlig normal. Madoff war als Mann, der trotz der Herkunft aus einfachen Verhältnissen und eines abgebrochenen Studiums den höchst erfolgreichen Geschäftsmann spielte, die Verkörperung des amerikanischen Traums. Er lebte mit Villen in Palm Beach und Südfrankreich standesgemäß, aber er besaß nirgendwo die exklusivsten Anwesen. Er spendete, wie in seiner Gesellschaftsschicht üblich, hohe Beträge, warf aber ansonsten nicht mit Geld um sich. Wie viele Menschen, die Vertrauen erwerben, hörte er eher verständnisvoll zu, als dass er viel sprach. Dass er sich innerhalb seiner Firma und gegenüber seiner Familie eher nicht wie ein Gentleman benahm, blieb offenbar ein Geheimnis.
Natürlich hätte dieser Schwindel viel früher auffliegen müssen. Die Aufsichtsbehörden hatten schon vor Jahren eindeutige Warnungen erhalten und nichts unternommen. Es erscheint zudem kaum glaubhaft, dass es nicht mehr Mitwisser gab. Aber dass offenbar auch kein Kunde über so lange Zeit Verdacht schöpfte, belegt, wie wenig sich Menschen um ihr Geld kümmern und wie sehr sie anfällig bleiben für die Verlockungen moderner Rattenfänger. Plötzlich mussten viele Menschen, die mit Madoff seit vielen Jahren gesellschaftlich verkehrten, nicht nur feststellen, dass sie ihren Bernie gar nicht kannten. Vor allem mussten sie erkennen, dass sie kaltblütig als Opfer ausersehen und ausgenommen wurden. Denn Madoff hatte ja nicht ihm anvertraute Gelder unglücklich an der Börse verspekuliert. Das hätte man ihm vermutlich verziehen und dann den Vermögensverwalter gewechselt. Aber Madoff hatte von Anfang an nicht vor, das Geld seiner Kunden anzulegen. Von dem falschen Arzt Romand weiß man, dass er sein Umfeld still zu verachten begann, gerade weil es ihn nicht enttarnte. Daraus las er fehlendes Interesse an seiner Person, das aus seiner Sicht wiederum seine Täuschungen legitimierte. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Madoff keinerlei Unrechtsbewusstsein empfindet und seine öffentlichen Schambekundungen nicht mehr als Theater sind.
Doch Rettung naht, wie der Westberliner Tagesspiegel nahe legt. Hier der Zusammenhang, in dem mir die vom Tagesspiegel berichtete Lösung des Gier-Problems aufstieß:
Der Soziologe Richard Sennett bezifferte die Zahl der „Verantwortlichen für die Finanzkrise“, von ihm laut Heinz Bude „Drahtzieher eines Systems“ genannt, mit 6-8000. Bevor man über eine System-„Kontrolle“ nachdenke, „müsse man sich die Mentalität, die Haltung und die Lebensauffassung der Akteure dieser Krise vor Augen führen. Wie kann man darauf kommen, dass Spekulation wichtiger als Investition ist; wie macht man sich kalt für das Schicksal von Menschen, die durch die gezielte Zertrümmerung von profitablen Unternehmen freigesetzt werden, nur um bestimmte Renditeerwartungen zu erfüllen; was ist man für ein Mensch, wenn man sich dem leeren Kommando des ‚Mehr!‘ unterstellt?“
Diese Frage stellten sich auch alle bürgerlichen Journalisten, jedenfalls taten sie so. Dabei kamen sie zu dem selben Ergebnis wie vor ihnen schon Lukrez: Diese Menschen waren zu „gierig“. Einige dachten noch weiter – und konstatierten: Wir sind alle so gierig wie die Banker – nur in kleinerem Rahmen. In einem Streitgespräch mit dem Ökonomen Heiner Flaßbeck in der Berliner Kongreßhalle meinte kürzlich der Wirtschaftsdarwinist Manfred Neumann – auf die Frage aus dem Publikum, wer denn an der Krise schuld sei: „Da müssen Sie sich alle selbst an die Nase fassen!“ Weil ihnen die „Gier“-Theorie dann doch allzu dürftig dünkte, begannen die Studenten – in 33 Unistädten – Marx zu studieren. Der Dietz-Verlag mußte auf die Schnelle „Kapital“-Bände nachdrucken lassen. Die andere Seite blieb jedoch auch nicht untätig: Sie versuchte den Geiz dingfest zu machen! Bude schreibt: „Der Grund für diese Lebensform ethischer Inkompetenz, so erklärte uns Richard Sennett im Herbst letzten Jahres, liege in der Unfähigkeit, allein zu sein.“ Und dieses „irre Zurückschrecken“ vor dem Alleinsein verhindere die „Empathie mit dem Schicksal Anderer“. Von da aus kommt Bude sodann über die Philosophie „des Anderen“ von Emanuel Lévinas und den Psychoanalytiker des „Alleinseins“ Donald Winnicott auf den US-Soziologen David Riesman und seinem Begriff vom „außengeleiteten Charakter“ zurück – um sodann lapidar zu konstatieren: dass wir uns in einer „Signalkrise der Weltauffassung“ befinden.
Andere Krisenforscher, die die bürgerliche Psychologie, so wie Manfred Neumann die Ökonomie, als eine Naturwissenschaft begreifen, setzten Genlabore auf die Spur des Geizes. Und siehe da: Diese wurden schon nach wenigen Wochen pfündig. Es waren wieder mal die berühmt-berüchtigten „US-Wissenschaftler“, die nach dem Neid-, dem Eifersuchts-, dem Depressions- und dem Autismus-Gen auf die Schnelle auch noch ein „Gier-Gen“ isolierten. Kurz darauf titelte der Westberliner Tagesspiegel schon: „Gentest für Führungskräfte gefordert“. Das hatte sich der „Frankfurter Zukunftsrat“ auf Basis wissenschaftlicher Befunde ausgedacht – und der Öffentlichkeit vorgeschlagen. Die Vorsitzende dieses illustren „Netzwerks“ von Zukunftsplanern und -forschern ist Marie-Elisabeth Schaeffler. Die „deutsche Unternehmerin“ (Wikipedia) steht auf der Liste der reichsten Deutschen an 22. Stelle. Auf dem „Höhepunkt“ der Krise sahen wir sie, die eigentlich ein lächelndes blondes Zahnfleischtier ist, weinend an ihrem Unternehmensstandort Herzogenaurach inmitten ihrer Belegschaft stehen, die dort Autoteile für sie produziert. Sie hatte sich zuvor mit dem Kauf des Hannoveraner Reifenkonzerns Continental „übernommen“ (FAZ).
Ihr „Frankfurter Zukunftsrat“ stützt sich laut Tagesspiegel bei seinem Vorschlag – „Gentest für alle Führerpersönlichkeiten“ – konkret auf „Erkenntnisse“ von Hirnforschern an der Bonner Universität. Diese haben anscheinend hieb- und stichfeste Beweise dafür gefunden, dass „das Belohnungssystem des Gehirns auf kurzfristige Gewinne und den Anblick von Geld wie auf Kokain reagiert. Seine Aktivierung könne ’süchtig machen‘.“ Und Süchtige darf man nicht ans Steuer (von Unternehmen, Banken, Staaten und Streitkräfte z.B.) lassen, so die Schlußfolgerung des Frankfurter Zukunftsrates daraus. Er wurde übrigens von Manfred Pohl gegründet – dem „hauseigenen Historiker“ der Deutschen Bank.
Zuvor, im Februar 2009, hatte die Junge Welt Maria-Elisabeth Schaeffler bereits als „Wirtschaftsterroristin des Tages“ porträtiert:
Ein Vergleich z. B. zwischen Saddam Hussein und der Unternehmerin aus Herzogenaurach ist völlig unangebracht. Jener verfügte nur in der Phantasie von George W. Bush über Massenvernichtungswaffen, die Herrscherin über deutsche Wälzlager und Mehrheitsaktionärin von Continental hat zumindest finanzielle: In wenigen Monaten häufte sie durch Spekulation elf Milliarden Euro Schulden bei der Übernahme der einstigen Gummibude an und handelte sich zusätzlich noch ein paar Milliarden Euro Belastung ein. Die hat Continental durch die Übernahme des Konkurrenten VDO in den Büchern. Saddam Hussein war ein ziemlich einsamer Diktator, Frau Schaeffler gehört einem Milliardärsklub an, der völlig zu Recht davon ausgeht, daß ihm die Bundesrepublik gehört und deswegen Staats-Vollkasko verlangt. Der Herrscher des Irak war 1991 rasch als »Wiedergänger Hitlers« von bundesdeutschen Großintellektuellen wie Hans Magnus Enzensberger identifiziert worden, die Firma Schaeffler wurde durch den Weltkrieg des Führers groß und reiht sich würdig ein in die Erfolgsgeschichten solider deutscher Unternehmerfamilien wie Quandt oder Schickedanz. Sie erhielten in der letzten Weltwirtschaftskrise Staatshilfe u. a. durch »Arisierung«. Saddam Hussein erfreute sich lange des Wohlwollens der USA, bis die ihn jagen und aufhängen ließen. Die Schaefflers stellten nach 1945 wieder Rüstung zunächst für US-Truppen her; eine Krise in den USA hatte Frau Schaeffler noch im Sommer 2008 nicht auf dem Zettel, als sie Continental erwarb. GIs zogen SaddamTV-gerecht aus einem Erdloch, Frau Schaeffler zeigt sich derzeit öfter im Pelz und in der Bild-Zeitung. Vergleiche sind jedenfalls völlig unangebracht, zumal: Gegen die Besatzer griff eine ganze Menge Iraker zu Waffen. Für Frau Schaeffler, die etwa 220000 Arbeitsplätze gefährdet, baten am Montag Betriebsräte ihres Konzerns in einem Brief an Wirtschaftsminister Glos um »Staatshilfen«. Andere Länder, andere Sitten.
In der FAZ diskutiert heute Hans Christoph Binswanger, der Doktorvater des Vorsitzenden der Deutschen Bank, Josef Ackermann, mit diesem über sein neues Buch „Geld und Magie“. Es geht darin um eine ökonomische Interpretation von Goethes „Faust, in Sonderheit um die „tauflische Wette“, die Faust eingeht: Er erklärt sich bereit zu sterben, wenn es Mephisto gelingt, ihm „den höchsten Augenblick“ zu verschaffen. „Den erlebt Faust,“ schreibt die FAZ auf Seite 1, „als er meint, durch Drucken von Papiergeld unbegrenztes Wachstum angestoßen zu haben“. Mit der Verquickung von Banknoten und dem „höchsten Augenblick“ schloß Goethe Sex und Geld kurz – und nahm zudem den Konsumismus von Kenynes vorweg. Im FAZ-Interview heißt es dazu an einer Stelle:
Zurück zum „Faust“: Verändert die Schöpfung von Papiergeld, ganz allgemein das Geld, den Charakter des Menschen oder der Gesellschaft insgesamt? Wie stellt Goethe das dar?
BINSWANGER: Ambivalent. Auf der einen Seite ermöglicht die Geldschöpfung Investitionen, sie löst Wachstum, wirtschaftlichen Elan aus, ermöglicht die schöpferische Tat. Auf der anderen Seite lässt Goethe im „Faust“ die drei wilden Gesellen Raufebold, Habebald und Haltefest auftreten. Sie stehen für nackte Gewalt, Gier und Geiz.
Im „Faust“ tritt auch „die Sorge“ als Person auf.
BINSWANGER: Der Unternehmer muss immer Kapital vorschießen, und er ist sich unsicher, ob er für die produzierten Güter später kaufkräftige Nachfrage findet. Deshalb blickt er immer besorgt in die Zukunft. In der Gegenwart gibt es für ihn – für Faust als Prototyp des modernen Menschen – keinen „erfüllten Augenblick“. Daher diese faustische Rastlosigkeit. Der Gewinn ist der Ausgleich für die Sorgen, die sich der Unternehmer auflädt. Damit irgendjemand Kapital einsetzt, muss es im Durchschnitt auf Dauer Gewinne geben.
Neben der Papiergeldschöpfung sieht Goethe noch einen weiteren Motor der wirtschaftlichen Dynamik, den Übergang von Lehen beziehungsweise Besitz zu privatem Eigentum.
BINSWANGER: Was man als Lehen hat, zur Leihe hat, darf man wirtschaftlich nutzen, muss es aber pflegen und möglichst unversehrt vererben. Faust proklamiert: „Herrschaft gewinn ich, Eigentum.“ Nach dem „Code Napoléon“, der um die Wende zum 19. Jahrhundert in weiten Teilen Deutschlands Gesetz wurde, darf der Eigentümer über sein Eigentum nach völligem Belieben verfügen: Es gebrauchen, aber auch verbrauchen, ausplündern, zerstören.
Der Mensch macht sich zum Herrn der Welt…
BINSWANGER: Zu der Herrschaft über die Natur tritt die Beherrschung der Naturkräfte hinzu. Faust träumt davon, sich die Kraft von Ebbe und Flut als unbegrenzte, unendliche Energiequelle nutzbar zu machen. Wer die Naturkräfte einmal beherrscht, der kann dann Wertschöpfung ohne Einsatz von Arbeit erzielen. Andererseits kann die Herrschaft über die Natur auch der Umweltzerstörung Vorschub leisten – dafür steht im „Faust“ die Vertreibung von Philemon und Baucis aus ihrer Idylle.
Diese beiden Alten, Philemon und Baucis, die zusammen mit einem „Wanderer“, der sie verteidigt, von Fausts Schergen ermordet werden, hat zuletzt ein westdeutscher Regisseur am Weimarer Theater als „ewig nörgelnde Ostrentner“ in einem Faust-Stück auf die Bühne gebracht. An anderer Stelle hatte man sie bereits mit dem alten Gärtnerehepaar Domain in Horno verglichen: Diese wollten nicht der Abbaggerung ihres sorbischen Dorfes durch den Braunkohlekonzern Vattenfall tatenlos zusehen, während jene nicht dem Kanalbauprojekt von Faust, dem ihre Hütte ihm Wege stand, auf friedlichem Wege weichen wollten.