Hier wollte ein Künstler eine kritische Würdigung der Hausmeister des Saalbaus Neukölln anbringen – für alle sichtbar. Aber es fehlten ihm dazu mehrere „s“. Schade.
Die Hausmeister bzw. Facility Manager hat man auch als Polizisten in Zivil, als fast bis in die Intimsphäre der Menschen (Mieter) vorgeschobene Posten des Staates bezeichnet. Zu fragen wäre nun, ob auch ihnen gegenüber gilt: „Don’t call the Police!“
So lautete das Resümee eines Vortrags von Bruno Latour, den dieser auf einer Soziologen-Konferenz in Wien hielt. Der Grazer Sozialwissenschaftler Hajo Greif führte dazu in einem Text über Latours „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) aus:
„‚Polizeiliche‘ Lösungsversuche gesellschaftlicher Probleme bieten nicht nur keine dauerhafte Lösung derselben, weil sie die Ursache des Problems nicht adressieren. Sie verkennen überdies auch die Widerständigkeiten als das, was sie sein können: als Ausgangspunkt für neue Handlungswege, welche die eigene Handlungsfähigkeit erweitern anstatt sie zu beschränken, und als Chance, das eigene Handeln fortan inklusorisch anstatt repressiv zu gestalten.“
Dazu einige Beispiele:
1.
Über Ostern wollte die Anarchistische Föderation mit dem Asta der TU in den Räumen des Mathematik-Instituts einen Anarcho-Kongress veranstalten. Das Westberliner Schweineblatt „BZ“ bekam davon Wind und schlug Alarm, indem sie die Veranstalter in einen Zusammenhang mit den „Auto-Zündlern“ stellte, die derzeit gerade vermehrt Luxuslimousinen abfackeln, indem sie die „9 absurdesten Seminare auf dem Anarcho-Kongress“ aufzählte – ohne auch nur eins zu kapieren, indem sie von „500 Chaoten“ sprach, die „an der TU Anarchie lernen wollen“, und indem sie einen Hausmeister/Pförtner der TU interviewte, der anscheinend zuvor bei einer anderen Veranstaltung des Asta bereits die Polizei geholt hatte: „Die haben ausschweifend gefeiert, Feuerlöscher leer gemacht. Die Polizei mußte mehrmals anrücken.“ Mußte! Und er „mußte“ natürlich auch einschreiten – wegen der Feuerlöscher.
Aber dass sich dann der TU-Präsident nicht scheute, dem Druck der Springerstiefelpresse nachzugeben – und dem Anarcho-Kongress Hausverbot erteilte – hat sein Gutes gehabt:
Damit war sozusagen die anarchistische Ausgangsbedingung erfüllt: Sich selbst [neu] organisieren. Das geschah dann im New York/Bethanien am Mariannenplatz, wo die meisten Workshops draußen unter Bäumen in der Sonne stattfanden. Dabei ging es um Kritik an bestimmten Rauschdrogen, an Ersatzgeld-Funktionen und Sexpol-Konzeptionen (wie z.B. die von „Fuck for Forest“ und „ZEGG“), aber auch um Neonazis und Holocaustleugner („Who is who“), um laute, stille und gefakte „Hausbesetzungen“ sowie um eine digitale Solidarwirtschaft („Coop 2.0“) und den Anarchismus in Russland. Ein altes Sprichwort dort besagt: „Anarchie ist die Mutter der Ordnung“. Hier nennt man die Anarchisten jedoch gerne „Chaoten“. Auf dem Kongress wurden Ansprüche wie „Die Trennung von Experten und Laien aufheben“, formuliert, es wurde die Überwindung von „Natur“ und „Gesellschaft“ sowie von „Fakten“ und „Glauben“ beansprucht, es fielen Worte wie „Haßgefühle“ und „Sich nicht mit jedem identifizieren können“, und jemand erläuterte den Unterschied zwischen „Gegenseitiger Hilfe“ und bloßen Solidaritätsbekundungen. Am Rande wurden dazu weiterführende Bücher und Broschüren verkauft, Kartoffeln geschält und gekocht, ein „Spülstrassen“-Pfeil wies den Weg zum Selbstabwasch.
Die etwa 200 Teilnehmer kamen aus allen möglichen Gegenden und waren sehr jung, während die Workshop-Anbieter nicht selten grauhaarig waren. Die einen wie die anderen trugen vorwiegend schwarze Klamotten, nahmen Sojamilch zum Kaffee und bemühten sich um „politische Korrektheit“. Ein Workshop war dem Anarcho-„Lifestyle“ gewidmet. Das bezog sich jedoch bloß auf die amerikanischen Anarchozellen, die sich „Crimethinc“ nennen. Einige Teilnehmer zogen sich aus, um nackt demonstrieren zu gehen, andere riefen zu einer Hausbesetzung auf, aber das waren vorzeitige Schwarmbildungen, die nur eine Möglichkeit andeuteten. Die meisten wollten lieber in Gruppen auf dem Rasen sitzen (bleiben) und wenn schon nicht diskutieren, dann wenigstens zuhören.
Viele Anarchisten, die in Berlin leben, hatten es vorgezogen, über Ostern aufs Land zu fahren. Überhaupt war der Kongress eher eine Veranstaltung zur Einführung in den Anarchismus. Und die meisten Anarchisten sind inzwischen in kleinen Gruppen irgendwo eingesickert bzw. in irgendwelche Projekte (bis hin zur Partei „Die Linke“) verstrickt. Die derzeit in Arbeiterstreiks engagierte „Freie Anarchistische Union“ (FAU) hatte gerade mal einen kleinen Info-Stand abgestellt. Die Bakunin-Hütte in Thüringen mußte sich um ihre Belegung kümmern. Die bayrischen Anarchos bereiteten ihre nächste Feldbefreiung (von Genmais) vor. Die Freunde der klassenlosen Gesellschaft tagten in der Uckermark. Die Friedrichshainer Anarchos bespielten ihre eigenen Räume…usw..So kamen bloß die zusammen, die gerade Bock auf Berlin hatten – und das mit einer Bildungsveranstaltung verknüpfen wollten. Vorbereitet hatte diese die Anarchistische Föderation, die ansonsten das anarchistische Jahrbuch herausgibt und mit dem Anarcho-Laden am Rosenthaler Platz zusammenarbeitet, wo es in der Nachbarschaft noch einige andere einschlägige Treffs gibt.
Am zweiten Tag des Kongresses kontrollierte die Polizei einige schwarzgekleidete junge Menschen am Hintereingang des Bethanien – wohl um sich wenigstens versuchsweise einen Überblick über die Scene zu verschaffen. Aber das ist nicht so einfach. „Der Schlüssel zu anarchistischen Organisationsformen ist möglicherweise die davon ausgehende Lebensqualität,“ meinten die Betreiber der „Bibliothek der Freien“ im Haus der Demokratie, die auf dem Kongress einen Workshop zum Thema „Warum ist Anarchismus eine Alternative“ anboten. Wenn einem heute laut J.St.Lec selbst die freiwilligen Handlungen aufgezwungen werden, dann muß die anarchistische Idee, „dass niemand dein Leben besser bestimmen kann als du selbst,“ fast zwangsläufig immer attraktiver werden. Und so setzt sich diese Idee in immer mehr jungen Köpfen fest – selbst in den bravsten, die gewillt sind, alles bis aufs I-Tüpfelchen „politisch korrekt“ zu erledigen. Mir war das zu amerikanisch versaut – und viel zu wenig russisch nihilistisch! Fast kirchentagsmäßig organisiert.
Einer der Veranstalter des Anarchokongresses und laut BZ „Sprecher der Anarchistischen Föderation“ hatte dem Schweineblatt vorab die Gründe für den Kongress erläutert:
„In Zeiten der Finanzkrise müssen wir neue Strukturen diskutieren.“
2.
„Die Krise zieht immer weitere Kreise,“ schrieb das Kapitalorgan „FAZ“ in ihrem Wirtschaftsteil, und kritisierte dann in ihrem Feuilleton die Linke, namentlich die Partei „Die Linke“, das ihr zu dieser Malaise oder Katastrophe bisher noch nichts Rechtes eingefallen sei bzw. das auch sie anscheinend von der Krise erfaßt wurde: „Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da Gesellschaftskritik in ihrem Element sein könnte. Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Gelegenheit, um die Entnaturalisierungen kapitalistischer Naturgesetze zu betreiben? So sollte man meinen. Aber kein revolutionäres Tönchen weit und breit. Rot stellt sich tot.“ Es gab jedoch bereits etliche Veranstaltungen und Demonstrationen, die letzte am 28.3.: Sie waren der Auftakt für eine „breite Mobilisierung“, mit der ein „Abwälzen der Krisenfolgen auf uns alle“ verhindert werden sollte. Man empörte sich sowohl über die „Boni“-Milliarden, die sich die Banker von der staatlichen Sanierungshilfe selbst genehmigten als auch über die 120 Euro, die das Sozialamt einem Arbeitslosen vom Hartz-IV-Satz abzog, nachdem man ihn in der Göttinger Fußgängerzone erwischt hatte, wo er 6 Euro am Tag erbettelte.
Dennoch war fast alles wie sonst (ritualisiert) – vorm Berliner Roten Rathaus: Reden, Transparente, Fahnen, Forderungen, hysterische Lautsprecherdurchsagen, Reggae- und Salza-Musik. Und es war nicht besonders ernsthaft. Selbst die Scharmützel des Schwarzen Blocks mit den Schlägertrupps der Polizei und des BKA am Rande der Demo wirkten wie ausgelutscht. In London lautete die Parole „Put People First“. Die englischen Gewerkschaften hatten sich zu einer „Unit“ zusammengeschlossen, und demnächst, so war im IG-Metallblock, zu erfahren, wollen sie auch noch mit den US-Gewerkschaften eine halbe Welt-Unit bilden – mindestens des fortgeschrittenen deindustrialisierten Teils. Den Kommentator der Frankfurter Rundschau, Harry Nutt, beschlich hernach das Gefühl: „Die Straße scheint augenblicklich nicht der Ort zu sein“ – wo sich die „Systemfrage“ stellen läßt. Und der Kommentator der Berliner Zeitung, Mathias Greffrath meint: „Was die Gesellschaft braucht, sind mehr helle Köpfe in den Parteien“ – u.a. um „eine Wirtschaftswissenschaft, die sich heute fast nur für Wachstum und seine Hindernisse interessiert, umzurüsten für die gigantische Aufgabe, die Märkte der Welt so zu regeln, dass Ungleichheit und Ausbeutung aufhören und die Erde bewohnbar bleibt. Politisch heißt es: das Gespräch, das folgenreiche, und das heißt: das politische Gespräch darüber zu erzwingen.“ Das ausgerechnet die Kapitalmedien, FAZ und SZ, die Linke in der Krise wegen Untätigkeit kritisieren, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ihre Leser hier und heute mehr zu verlieren haben als die auf der Straße demonstrierenden – Gewerkschafter, Studenten und Arbeitslosen. Einige hielten ein Transparent mit dem ironischen Spruch hoch „Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus“. FAZ und SZ registrieren derzeit jedoch vor allem einen „wachsenden Haß“ – auf die bisherigen Profiteure des Finanzliberalismus nämlich. Mathias Greffrath rät den Linken, das Marxstudium sein zu lassen – und stattdessen zu handeln. Aber die (orthodoxen) Marxisten bleiben gelassen: Für sie sind es die ökonomischen Verhältnisse selbst, die die Kastanien aus dem Feuer holen. Heute denkt man dabei vielleicht an ein „Grundeinkommen“, mit dem jeder beruhigt „heute dies, morgen jenes tun kann, morgens jagen, mittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden.“ Nun schickt sich der Kapitalismus an, dieses Marxsche Ideal ohne Revolution selbst zu verwirklichen, schreibt der Feuilletonchef der Berliner Zeitung Harald Jähner. Das klingt verlockend – er vergaß jedoch hinzuzufügen, dass die meisten dieser Tätigkeiten inzwischen aus Natur- und Artenschutzgründen streng verboten sind.
3.
Hinterm Bethanien gibt es noch einige Stellplätze für Wohnwagen und sogenannte „Rollheimer“-Leute. Einmal interviewte ich dort Mandy:
Lia, meine Freundin nebenan, ist viel unterwegs, ohne ihren Wohnwagen, aber meist zieht sie von Wagenburg zu Wagenburg, auch im Ausland. Sie ist noch als Studentin versichert, verdient ihr Geld aber im Puff in der Adalbertstrasse. Die annoncieren sie und ihre Kolleginnen als „Hobbyhuren“ – ihr ist das jedoch egal. Schlimmer ist es, dass sie oft Ärger mit betrunkenen Türken da haben und der Chef woanders hinziehen will. Ich geh da auch manchmal hin und Anschaffen, wenn wir nichts mehr zu beißen haben. Das mach ich auch in anderen Orten so: Da wohn ich meist in einer Wohnwagensiedlung und kuck mich dann nach einem Bordell in der Nähe um.
Das scheußlichste Erlebnis, das Lia und ich bisher hatten, war die gewaltsame Räumung der Wagenburg am Engelbecken durch die Polizei. Aber dabei lernten wir Christian kennen, den Jesuitenpriester, der in einer Wohngemeinschaft von ehemals Obdachlosen in der Naunynstrasse lebt und als Schweißer bei Siemens arbeitet. Sein Freund, ebenfalls ein Jesuit, arbeitet in einem Taxikollektiv. Die beiden organisierten den Widerstand gegen die Räumung mit. Das war wiederum eine sehr schöne Erfahrung. Obwohl ich später fand, dass die beiden schon fast zu vorbildlich leben und arbeiten. Auf dem darauffolgenden Autonomen-Kongreß im Mathematikinstitut der TU schälten sie zum Beispiel für alle Teilnehmer Kartoffeln, damit die zwischendurch eine warme Mahlzeit bekamen. Die asketische Einstellung der beiden Jesuiten, hat man mir von anderer Seite mal erzählt, hat etwas damit zu tun, dass sie ihre ganze, ungeteilte Liebe den Sakramenten widmen sollen. Das finde ich aber auch übertrieben – männlich, ich weiß nicht…
Einmal fragte mich ein guter Freund aus Frankfurt, ob er mit seiner Freundin vorübergehend zu mir in den Wohnwagen ziehen könne, sie müßten dringend eine Weile untertauchen. Mehr sagte er nicht. Ich zog zu Lia und überließ ihnen meinen Wagen. Die beiden schliefen entweder oder hockten auf dem Bett und redeten ununterbrochen miteinander. Mehr bekam ich erst mal nicht mit. Eines Tages klärte Armin, so heißt der Freund, mich über das Problem von Ines, seiner Freundin, auf: Sie hätte für den Mossad gearbeitet, und zwar irgendwelche Transporte mit einem Motorboot, von Zypern aus, erledigt. Ines sei sehr vielseitig, sie könne Hubschrauber fliegen und funken, spreche mehrere Sprachen und finde sich überall sofort zurecht. Aber jetzt sei sie in Schwierigkeiten, denn aus irgendeinem Zerwürfnis oder Mißverständnis heraus sei jetzt der Mossad hinter ihr her und deswegen seien die beiden sehr besorgt. Er habe Hals über Kopf seine Wohnung und seinen Arbeitsplatz an der Uni verlassen, um ihr zu helfen, eine Lösung zu finden. In den darauffolgenden Tagen erzählte er mir einige weitere Einzelheiten.
Dann fuhr ich ins Allgäu für eine Woche – zu einem „Kornhausseminar“, wo unter anderem der brasilianische Philosoph Vilèm Flusser einen Vortrag hielt – über die Küche der Zukunft. Am letzten Tag half ich ihm und seiner Frau noch stundenlang, ihren weggelaufenen Hund im Wald wieder zu finden – vergeblich. Abends kam er dann jedoch von selbst wieder zurück. Flusser hatte sich schon fast mit seinem Tod abgefunden und tapfer jeden Anflug von „Sentimentalität“, wie er das nannte, niedergekämpft.
Als ich wieder nach Berlin zurück trampte, begleitete mich ein Wagenburgler von der Eastside-Gallery, die inzwischen auch schon lange geräumt ist. Er sah ziemlich wild aus – und dementsprechend langsam kamen wir voran. Seine Mutter arbeite in der taz, erzählte er mir. „Cool,“ meinte ich, „überhaupt nicht,“ antwortete er. Die hätten dort beispielsweise eine italienisch geführte Kantine und wenn ihn seine Mutter zum Essen mitnehme, würde die Bedienung sich weigern, ihm einen Teller hinzustellen – weil er zu schmuddlig angezogen sei. Seine Mutter würde sich daraufhin zwar jedesmal beschweren, aber irgendwie sei sie doch der selben Meinung wie die Bedienung.
Und dann erzählte er mir noch, weil kein Auto anhielt, eine lange Geschichte von seinem Vater und seiner Mutter, die sich getrennt hätten, weil der eine den anderen betrogen hatte. Seine Mutter, die Betrogene, schrieb anschließend darüber ein ganzes Buch. Das fand er nun „cool“, obwohl er es so genau eigentlich gar nicht wissen wollte, im Gegenteil.
Als ich endlich wieder in Berlin war – und bei Lia im Warmen hockte, kam Armin nachts überraschend aus meinem Wohnwagen zu mir rüber: Ines war verschwunden, und er befürchtete, dass man sie entführt habe, dass der Mossad ihnen auf die Schliche gekommen sei. Um ihn zu beruhigen, versteifte ich mich auf die Idee, dass sie vielleicht nur mal einen Spaziergang gemacht hätte, und weil sie nie rausgegangen war, sich prompt in Kreuzberg verlaufen oder in einer Kneipe festgequatscht hatte. Getrennt machten wir uns schließlich auf die Suche nach ihr. Ich kam erst nach Stunden wieder zurück an die Burg. Da hatte Armin sie schon gefunden bzw. sie ihn: Ines hatte Lia im Puff besucht, in dem auch eine blonde Brasilianerin namens Julia arbeitete. Ines, die portugiesisch sprach, war mit ihr ins Gespräch gekommen. In den Tagen darauf freundeten die beiden sich immer mehr an. Und dann zog sie sogar zu Julia in die Wohnung nach Neukölln. Armin packte daraufhin seine Siebensachen zusammen und fuhr zurück nach Frankfurt: halb traurig, weil sie ihn verlassen hatte, und halb froh, weil er jetzt nicht mehr länger ihre Mossadverfolgung mit ihr teilen mußte – und sich zu Hause wieder seinen Lacanstudien widmen konnte. Ich war auch froh, weil ich wieder in meinen Wohnwagen zurück konnte. Später half Armin mir noch, die Elektrik im Wagen zu erneuern. Aber das ist auch schon wieder eine ganze Weile her.
Manchmal frage ich mich noch, warum ich in dieser ganzen Mossad-Geschichte von Ines so einfach mitgespielt habe. Ob ich das auch getan hätte, wenn es sich um eine KGB-Geschichte gehandelt hätte? Bei Ines gab es keinerlei Hinweise auf einen Realitätsgehalt in ihrer Geschichte, außer ihr plötzliches Verschwinden, dass sich dann als ein Mißverständnis herausstellte. Armin und ich, wir haben nie darüber gesprochen, warum wir beide paranoid reagiert hatten oder uns haben anstecken lassen. Meine Kneipensuchaktion hatte ich ja nur vorgeschlagen, um irgendetwas dagegen zu unternehmen. Bis heute weiß ich nicht, was er wirklich über das „Problem von Ines“ gedacht hat. Während der ganzen Zeit war mein Wagen jedenfalls eine Hochburg der Paranoia, die sogar Lia erfaßte. Darauf folgte bei mir eine längere Phase der Euphorie – über die ansonsten nichts weiter zu sagen ist. Und dann überfiel mich eine Depression, die leider noch immer anhält und über die ich deswegen nichts erzählen will, um sie nicht noch realer zu machen als sie ohnehin schon ist.
Jedesmal hat sich der Zustand meines Wohnwagens verändert: Erst stand er schief, so dass einem ständig der Tee aus den Tassen schwappte; dann schloss die Tür nicht mehr richtig, so dass ich mich ständig beobachtet oder belauscht fühlte, und nun tropft es durchs Dach. Ich wette, bei meinem nächsten seelischen Zustand verziehen sich die Bodenbretter oder der Ofen rußt oder was weiß ich.
4.
Während die Hausmeister anscheinend immer weniger nach der Polizei rufen, ist es bei vielen ehemals linken Frauengruppen genau andersherum:
In einem ‚Offenen Brief‘ an den Bundesaußenminister trat die Berliner Frauenberatungsstelle Ban Ying der Auffassung entgegen, Reiseschutzpässe würden dem Menschenhandel Vorschub leisten. Eine Umfrage bei ca. 40 Beratungsstellen gegen Menschenhandel habe vielmehr ergeben, dass außer dem vom Magazin „Spiegel“ genannten Fall keine weiteren bekannt seien, bei denen Opfer von Menschenhandel aus der Ukraine mit Reiseschutzpässen eingereist seien.
In Deutschland wurden lange Zeit etwa 800 Opfer eines Frauenhandels jährlich verzeichnet, ab 1999 mit der Tendenz fallend. 2003 wurden aber wieder rund 1200 „Opfer von Menschenhandel“ registriert. Ende 2004 schätzten Menschenrechtsorganisationen die Zahl der nach Deutschland verschleppten und zur Prostitution gezwungenen Frauen auf etwa 140.000 ein, dem gegenüber standen jedoch laut taz „nur 431 Ermittlungsverfahren“. Die Opfer-Zahl 1200 betrifft real etwas weniger als 1% der in Deutschland arbeitenden ausländischen Prostituierten. Von diesen „Opfern“ war laut „BKA- Lagebild Menschenhandel“ zudem ein Drittel mit ihrer Prostitutionstätigkeit einverstanden. Die meisten dieser also sogenannten Opfer kamen überdies legal nach Deutschland, sodass der Vergabe von Reiseschutzpässen, die jetzt in der Visa-Affäre eine so große Rolle spielt, im Zusammenhang mit Menschenhandel so gut wie keine Bedeutung zukommt. Die taz-Autorin Lilli Brand z.B., deren diesbezügliche Texte gerade vom Verlag dva veröffentlicht wurden (unter dem Titel „Transitgeschichten), kam zwei mal mit einer ukrainischen Schlepperbande ins Land, die für „ihre Mädchen“ jedesmal legale Visa besorgte – bei zwei korrupten deutschen Visabeamten in Kiew, die inzwischen aus dem Verkehr gezogen wurden. Auch Lilli Brand arbeitete dann einige Jahre hier als Prostituierte – ohne sich als Opfer verbrecherischer Menschenhändler zu begreifen.
Die Frankfurter Prostituiertenorganisation Dona Carmen vermutet schon lange, dass dabei von Polizei, Presse und Politik gezielt ein neuer Gegner aufgebaut wird, der ihnen den alten abhanden gekommen Zuhälter ersetzen soll. Dieser „Bullen-Fake“ wird zuletzt auch noch von feministischen Sozialwissenforscherinnen abgenickt. Die Dona Carmen-Sprecherin Juanita Henning kritisiert in diesem Zusammenhang besonders die Frauen-Beratungsstellen, die zunehmend mit der Polizei kooperieren, während sie ihre Klientel früher eher gegen diese in Schutz nahmen. Auch dort habe also ein Wandel stattgefunden, ähnlich dem Paradigmenwechsel von der einst im Westen staatlich geförderten „Fluchthilfe“ zum staatlich bekämpften „Menschenhandel“, der nach dem „Fall des Eisernen Vorhangs“ 1993 in Budapest sozusagen offiziell – auf Ministerebene – verkündet wurde. Schon wenig später wurde die Oder-Neiße-Grenze zur „sichersten Grenze der Welt“ ausgebaut – und sogar das Vorfeld weitgehendst gesichert: 1998 bestrafte man in Sachsen bereits Taxifahrer mit Gefängnis, die dennoch über die Grenze nach Deutschland gelangte „Flüchtlinge“ einfach als Kunden behandelt hatten, ohne zuvor ihren Ausweis kontrolliert zu haben. In Italien gilt neuerdings Ähnliches für Fischer, die in Seenot geratene Flüchtlinge aufnehmen. Sie ebenso wie die ostdeutschen Taxifahrer fungieren damit als „mobile Grenzkontrollstellen“, die Teil einer Art xenophoben Bürgerabwehr sind.
Das war vor 1989 noch ganz anders: 1977 entschied z.B. das Bundesverfassungsgericht, wer Flüchtende dabei unterstützt, „das ihnen zustehende Recht auf Freizügigkeit zu verwirklichen, kann sich auf billigenswerte Motive berufen und handelt sittlich nicht anstößig“. Er hat Anspruch auf ein Honorar und kann dies auch vor Gericht einklagen. In Westberlin war die Fluchthilfe sogar steuerabzugsfähig und besonders aktive Fluchthelfer (u.a. Furrer und Diepgen z.B.) bekamen als verdiente antikommunistische „Tunnelbauer“ staatliche Auszeichnungen, auch wenn ihre Honorare mitunter geradezu „unsittlich“ waren. Trotz der Verwandlung der freiheitsliebenden Fluchthelfergruppen in verbrecherische Schlepperbanden hat sich jedoch dieses Gewerbe mit dem Mauerfall nicht groß geändert, sieht man mal davon ab, dass es jetzt auch Schleusungen von West nach Ost gibt – für Osteuropäer, die kein Wiedereinreiseverbot in ihren Paß gestempelt bekommen wollen, und dass die Schlepper jetzt statt staatlich geschützt und gefördert zu werden sich rein privatwirtschaftlich organisiert haben.
Dazu führte 1999 der Direktor der „International Organisation for Migration“ (IOM) auf einer Konferenz des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus: „Das kommerzielle Netzwerk umfasst zentrale Strukturen einer Schattenwirtschaft – meist im Herkunftsland, die aus Agenturen, Organisationen und Personen mit einer Angebotspalette relevanter Dienstleistungen besteht. Diese richten sich nach dem Bedürfnis der Kunden und können ‚Einmal-Greznübertritte‘, ‚Kompaktreisen vom Herkunfts- zum Zielort‘ oder auch ‚Garantieschleusungen‘ umfassen. Marktwirtschaftlich reguliert richten sich die Preise der Leistungen nach Angebot, Nachfrage, gewünschtem Komfort, Schnelligkeit, Risikozulagen etc. Im Vordergrund der Geschäftsbeziehungen stehen Zufriedenheit der Kunden mit der Hoffnung auf Weiterempfehlung. Zwangsmaßnahmen gegen zahlungssäumige Kunden bewegen sich zum Großteil im Rahmen dessen, was z.B. auch seriöse Kreditinstitute unternehmen, um ausstehende Gelder einzutreiben“.
Diese Experteneinschätzung hat jedoch nicht verhindert und sollte das auch nicht, dass man dabei heute von kriminellem Menschen- bzw. Frauenhandel spricht, den inzwischen auch immer mehr private Organisationen und Initiativen bekämpfen, bis eben dahin, dass die Prostituierten-Schutzgruppen der Polizei zuarbeiten und dafür staatliche Fördergelder kassieren. Sie tun dies im Bewußtsein, damit gewissenlosen Verbrechern, die Frauen ausbeuten und vergewaltigen, das Handwerk zu legen, wobei sie diese ausländischen Frauen meist als arme Opfer von geldgierigen Männern begreifen – als bloße Ware in den Händen einer skupellosen Mafia.
Demgegenüber behauptet der „Bundesverband der Schlepper & Schleuser“, der mit „Dona Carmen“ zusammen arbeitet und sich zuletzt im Herbst 2004 im Berliner Künstlerhaus Bethanien präsentierte: „Von mafiaähnlichen Strukturen ist weit und breit nichts zu sehen, die einzigen Straftaten, die begangen werden, sind Dokumentenfälschungen und Beihilfe zu illegaler Einreise und Aufenthalt. So braucht es auch das Konstrukt der Organisierten Kriminalität, um saftige Strafen für geringe Verbrechen zu rechtfertigen“. In Polen wurde z.B. der Nachbar einer Frau, die er auf ihre Bitte hin mit seinem Auto nach Berlin gefahren hatte, wo sie dann Anschaffen ging, zu vier Jahren Gefängnis wegen einer solchen „Beihilfe“ verurteilt.
Dass die Polizei mit Frauenberatungsstellen zusammenarbeitet, um die festgenommen Frauen zu gerichtlich verwertbaren Aussagen zu bewegen, darauf ist z.B. Gerline Iking von der „Dortmunder Mitternachtsmission“ sogar stolz: „Wenn Razzien anstehen, müssen wir parat stehen!“ Früher weigerten sich die Sozialarbeiterinnen und Ärzte in den inzwischen aufgelösten „Geschlechtsberatungsstellen“, an Razzien teil zu nehmen und selbst bei ihren regelmäßigen „Bordellbegehungen“ von der Polizei auch nur begleitet zu werden. Heute fordert eine Frauenbetreuungs-Organisation wie „Solwodi“ sogar die Teilnahme von NGOs an Razzien: „Die Aufgaben der Fachberatungsstelle und das Zusammenwirken von Polizeibeamten und Beraterinnen kann im Einsatzbefehl festgeschrieben werden“. Die „Ökumenische Arbeitsgruppe“ (heute: FIM genannt) gibt dazu bereits „Empfehlungen“ heraus: „Es ist ein klar durchstrukturiertes Vorgehen bei Razzien zu zeigen“. Für die dabei verhafteten Frauen gilt dann, was das „Opferschutzzentrum Hannover“ auf einer „Fachtagung“ festhielt: „Zuerst müssen wir sie als Menschen betrachten und dann kann man in einer guten Zusammenarbeit zwischen NGO und Polizei gute Zeuginnen gewinnen“.
Die in Frankfurt/Main ansässige Organisation „Agisra“ hat dabei eine ganz neue Aufgabe gefunden: „Wir leiten bewusstseinsbildende Prozesse zur Anahme der Rolle bzw. Identität als potentielle Opferzeugin ein“. Dabei treten jedoch unverhofft Widerstände auf, wie z.B. die Prager Organisation „La Strada“ klagt: Bei den meisten Frauen ist „die Bereitschaft zur therapeutisch begleitenden Be- und Verarbeitung des Erlebten gering“. Solch gewissenlosen Prostituierten warf die rotgrüne „Landesregierung Nordrhein-Westfalens“ zuletzt in einer offiziellen „Antwort“ eine nicht mehr hinzunehmende „Verdrängungs- und Verharmlosungshaltung…gegenüber der eigenen Unterdrückung“ vor.
Da hilft nur Gegendruck: „Manchmal sind wir fast Polizeibeamte, die sagen, wenn du jetzt nicht anzeigst, können wir dir bald nicht mehr helfen,“ so drückte es eine mit Prostitutionsmigrantinnen arbeitende Vertreterin der „Caritas Mailand“ aus. In Summa: „Die Grenzen der Arbeitsaufgaben zwischen Polizei und Opferschutzstelle scheinen sich zu verwischen,“ wie es bereits 2001 die Bielefelder Autoren einer größeren Studie über den europäischen Frauenhandel und -beratungswandel befürchteten. Seit der Visa-Affäre droht dieser „Wandel“ nun geradezu in einen „fröhlichen Etatismus“ auszuarten, wie Silvia Kontos die „Feministische Politik im neuen politischen Kontext“ bezeichnet, der es nur darum gehe, „auf der Klaviatur der Macht klimpern zu können“.
5.
Wir saßen in einer Wohnküche auf dem Land und ich erntete von allen Seiten Widerspruch als ich meinte, wir hätten die Studentenbewegung vergeigt, weil wir es nicht ernst genug gemeint hatten mit der Veränderung der Gesellschaft, bzw. umgekehrt: alle, die wenigen, die es ernst gemeint hatten, wurden von Staats wegen erschossen bzw. in den Tod getrieben: Rudi Dutschke, Georg von Rauch, Holger Meins, Ulrike Meinhoff usw….Noch der Tunix-Kongreß 1978 meinte seine Parole „Etwas Besseres als den Tod finden wior überall/ Laßt uns bloß abhauen aus diesem Land“, unter der er dann Zehntausende in der TU versammelte, überhaupt nicht ernst: Es war bloß eine alberne Metapher fürs Dableiben.
Während wir noch darüber diskutierten, kam aus irgendwelchen komischen Jubiläumsgründen im Radio ein kleines Feature über den RAF-Terror, u.a. wurde darin gesagt, dass der 1931 geborene Oberstleutnant und Militärattaché Andreas von Mirbach am 24. April 1975 bei der Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm von einem Mitglied der Roten Armee Fraktion erschossen wurde, die damit ihre in Stammheim inhaftierten Genossen freipressen wollte. „Ach, du grüne Neune,“ dachte ich, „schon wieder ein Mirbach.“
Wieso? wurde ich gefragt. Zuletzt – am 7. November 1938 – hatte der 17jährige polnische Jude Herschel Grynszpan aus Protest gegen die zunehmende Bedrängnis der Juden den Legationssekretär Ernst von Mirbach in der deutschen Botschaft in Paris erschossen, meinte ich. Dies nahmen die Nationalsozialisten damals zum Anlass, einen schon lange vorbereiteten vernichtenden Schlag gegen das verhasste Judentum in die Wege zu leiten: die „Reichskristallnacht“, von der man bis heute nicht weiß, ob sie von unten oder von oben so genannt wurde.
Meine kurze Schilderung der Ermordung dieses Mirbachs wurde jedoch sogleich bestritten – und tatsächlich kam dann auch zweifelsfrei heraus, dass Herschel Grynszpan damals in Paris auf den Diplomaten Ernst Eduard vom Rath geschossen hatte. Dieser starb kurz darauf an den Folgen der Schußverletzung. Ob er oder ich einer Verwechslung zum Opfer fiel, konnten wir nicht klären.
Ich gab mich jedoch nicht gleich geschlagen: Dann war eben Graf Wilhelm von Mirbach der letzte, meinte ich. Er wurde am 6. Juli 1918 als Leiter der deutschen Botschaft in Moskau von Jakow Blumkin und Nikolai Andrejew erschossen. Graf Wilhelm von Mirbach war Berater für politische Fragen beim Stab des deutschen Kommandos in Bukarest gewesen. Seit dem 16. Dezember 1917 stand er der deutschen Gesandtschaft in Petrograd vor, die nach Unterzeichnung des Waffenstillstands von Brest-Litowsk eingerichtet wurde. Sein Mörder Blumkin hatte den Auftrag für den Mord vom Zentralkomitee der Partei der linken Sozialrevolutionäre erhalten, die bis März 1918 der Regierungskoalition mit den Bolschewiki angehört hatte. Ziel des Mordes war es, den von der Regierung Lenin in Brest-Litowsk unterzeichneten Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich zu revidieren. Er war zugleich das Signal für einen regierungsfeindlichen Aufstand, der Moskau und weitere größere Städte erfasste. Jakow Blumkin war Chef der Tscheka-Abteilung zur Bekämpfung der deutschen Spionage. In seiner Abteilung arbeitete auch Nikolai Andrejew als Fotograf. Die Terroristin und Führerin der Sozialrevolutionäre Maria Spiridonowa bekannte sich zur Anstiftung des Mordes. Gleichwohl weisen Indizien darauf hin, dass auch Felix Dscherschinski von Blumkins Plänen wusste, sie befürwortete und unterstützte. Er wurde am Tag nach Graf Mirbach Ermordung von Lenin als Tscheka-Vorsitzender abgesetzt; Lenin, Swerdlow und Trotzki sahen in den Ereignissen des 6. Juli 1918 offenbar eine gemeinsame Verschwörung von Tscheka-Leuten und Sozialrevolutionären. Nachfolger von Mirbach als deutscher Botschafter wurde Karl Helfferich. Die Mörder Blumkin und Andrejew konnten nach der Tat entkommen. Schon am 22. August 1918 übernahm Dserschinski wieder die Führung der Tscheka.
Die weiterlebenden Mirbachs müssen sich schon damals auf Schlimmeres gefaßt gemacht haben, denn bereits wenige Jahre später gründete ein Willi Mirbach ein Bestattungsunternehmen, das in Deutschland seinesgleichen suchte und sich noch 1995 in Familienbesitz befand – als es an Dieter Mirbach übergeben wurde, der sich nun „Funeralmaster“ nennt. Seine Schwester Andrea Mirbach ist Bestattungsgehilfin, nach ihrer Ausbildung absolvierte sie aber noch verschiedene Seminare über: Hygienische Versorgung Verstorbener, der Bestatter als freier Redner und Trauerpsychologie und darf sich nun ebenfalls „Funeralmaster“ nennen.
Erwähnt sei ferner, dass die Mirbachs – mit eigenem Wappen, Familienarchiv und allem drum und dran aus der Eifel kommen. Sinnigerweise genau aus dem Ort – Mirbach, nach dem man dann auch die ganze bis dahin wohl namenlos Sippe, die zum Rheinischen Uradel gehört, benannt hat. Der Ort Mirbach wurde 1986 – sicher auch nicht ganz zufällig – Kreissieger im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden!“ Zu den „herausragenden Angehörigen“ zählt die dortige Familie Mirbach: 1. einen Oberst und Kommandeur, der sich in der Völkerschlacht bei Leipzig auszeichnete, 2. einen Generalleutnant á la suite – what ever that means, 3. einen Schnellbootkommandanten, der 1968 (sic) starb, 4. eine Cellolehrerin, die in Potsdam zahlreichen Juden das Leben rettete, sowie 5. und 6. die beiden o.e. von Kommunisten ermordeten Militärdiplomaten. Nicht erwähnt wird in dieser www-ahnengalerie.de Ernst Freiherr von Mirbach, der nach seiner Heimkehr als Verwundeter aus dem deutsch-französischen Krieg eine Bürgerliche heiratete, dann wegen Unregelmäßigkeiten seinen Job als Oberhofmeister (Upperyardmaster) der Kaiserin verlor und schließlich im Familiendorf Mirbach eine „Erlöserkirche“ für sich und die seinen errichten ließ. Ebensowenig mit all diesen Mirbachs verwandt oder verschwägert wie die Funeralmaster dürfte der deutsche Politiker August Mirbach sein, der statt die Eifel das Siebengebirge als sein Wirkungsfeld erkor: Bis zu seinem Tod 1891 war er Bürgermeister von Königswinter.
Man könnte an dieser Stelle noch hunderte weiterer Mirbachs erwähnen – wie den Trakehnerhof Mirbach, das Inkassobüro Mirbach, das Fotostudio Mirbach, den Friseursalon Mirbach usw. – aber es reicht. Was sie alle von den Eifel-Mirbachs unterscheidet ist, dass es sie nicht unbedingt zur militaristischen Beherrschung Deutschlands zieht. Und deswegen aus ihren Familienmitten auch viel seltener welche herausgeschossen wurden und werden.
6.
Die Feldhüter, das waren nicht nur in Griechenland die Hausmeister auf dem Land, diese waren außerdem noch die vorgeschobenen Posten der (faschistischen) Regierung. Das „Frühlingstreffen der Feldhüter“ ist eine kleine, aber genaue anthropologische Feldstudie über Menschen in einem griechischen Dorf, wobei es um das Scheitern einiger Uniformierter dort geht . Der Regisseur Dimos Avdeliodis drehte diesen Film auf der Insel Chios. Bis in die Siebzigerjahre gab es dort – wie auch anderswo in Griechenland – die Institution der Agrophylakon: der Feldhüter. Sie schützten die Felder vor Fruchträubern, waren aber zugleich auch die basisnächste Polizeiinstanz der rechten Militärregierung auf den Dörfern. Hier – sozusagen auf dem Vorposten an der Volksfront – hatten sie die Freiheit der Verhaltenswahl.
Etwas überwachen heißt zuvörderst, gegen den eigenen Schlaf zu kämpfen. Nachdem der erste Feldhüter bei der Verfolgung einer jungen Feldfruchtdiebin überraschend gestorben ist, wahrscheinlich an einem Herzinfarkt infolge von Überfettung, werden nacheinander vier neue Feldhüter eingestellt – alle scheitern: zu vier unterschiedlichen Jahreszeiten, die natürlich in der Landwirtschaft eine wichtigere Rolle spielen als für die Menschen in der Stadt. Der erste neue Feldhüter ist motorisiert und hat einen Hund, er ist jedoch faul, abergläubisch und lässt sich von den Dörflern durchfüttern. Schließlich wird er von einem Schwarm Bienen in die Flucht geschlagen.
Spätestens seit Isaak Babels „Reiterarmee“ spielen Bienenstöcke eine große Rolle bei der Schilderung von Kriegen auf dem Land. Ich erinnere nur an den im Zweiten Weltkrieg spielenden slowakische Roman „Die verlorene Division“ von Ladislav Tazky. Und dann gibt es noch die Biographie der slowenischen Partisanin Jelka. Sie war Kurierin des Kärntner Partisanenführers Karel Prusnik und Imkerin. Ihre Bienenstöcke stellte sie bei allen möglichen Bauern auf. Auf diese Weise verband sie Partisanentätigkeit und Imkerei. Letzteres intensivierte sie nach dem Krieg noch, wobei sie irgendwann die Longo-mai-Agrarkooperative bei Eisenkappel miteinbezog. Die Kommunarden dort schrieben später ihre Biographie auf. Während des „Deutschen Herbstes“ arbeitete ich bei einem Imker in Niedersachsen. Er hatte zehn Völker, die hinter seinem Haus an einem Rapsfeld standen. Weil das Feld so riesig war, stellte ein mit ihm befreundeter Imker noch fünf Völker dazu. Je weiter die Rapsblüte fortschritt, desto aggressiver wurden die Bienen: Bald konnten wir ihren Stöcken nicht mehr auf zehn Meter nahe kommen. Die beiden Imker verstanden die Welt nicht mehr: ihre Bienen hatten doch Nahrung im Überfluß und das direkt vor der Nase! Der Bauer, dem das Feld gehörte, klärte sie schließlich auf: Er hatte erstmalig eine neue Sorte Hybridraps ausgesät, die keinen Nektar mehr produzierte und so für die Bienen wertlos war. Das hatte sie völlig durcheinander gebracht. Zuletzt spielten die Bienen in dem tadschikischen Dorf-Film „Der Flug der Biene“ noch eine tragende Rolle.
Zurück zu den griechischen Feldhütern: Der zweite eingestellte Feldhüter ist autoritär, übereifrig und schurigelt die Dorfbewohner, zum Beispiel zwingt er den Barbier, ihn noch nachts zu rasieren. Er liebt die Macht. Der schönen Feldfruchtdiebin kann er sich dementsprechend auch nur gewaltsam nähern. Der dritte Feldhüter ist älter und selbstbewusster, er biedert sich jedoch bald bei den in der Dorfkneipe Sitzenden an, und statt ihnen zum Beispiel das Kartenspiel zu verbieten, verfällt er selber dem Glückspiel. Zuletzt wird er verhaftet. Für die junge Diebin hatte er keinen Blick, dafür klaute er ihr jedoch Holzscheite. Erst der vierte Feldhüter, der den Frühlingsdienst antritt – bekanntlich der schönste, aber auch anstrengenste -, konzentriert sich dann ganz auf das Mädchen. Ihretwegen rasiert er sich sogar. Und als er wegen mangelnder Meldungen entlassen wird, zieht er auch noch glücklich seine Uniform aus – sodass dem Einfangen der Diebin – die natürlich inzwischen eine starke Uniform-Aversion entwickelt hat – nichts mehr im Wege steht: zwei glückliche Arbeitslose, die Täter und Opfer nur noch spielen – und zwar auf einem griechischen Tulpenfeld in der ersten warmen Sonne.
Avdeliodis hat seinen Film mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ unterlegt, außerdem sagt er, dass der letzte „Feldhüter des Frühlings“ für ihn Odysseus verkörpere: „Er weiß, dass das Leben etwas Vergängliches ist und man es für einen kurzen Augenblick ergreifen muss, solange noch Zeit dafür ist … Auch die Liebe ist eine Art von Krieg.“ Avdeliodis ist darüberhinaus der Meinung, „dass jeder Filmemacher eines Tages an den Ort zurückkehren muss, an dem er aufgewachsen ist“, das meinen, glaube ich, alle Dorffilmer.
7.
Zwei amerikanische Individualanarchisten:
Die Angst vor dem Volkszorn und Ahnungen von einer öffentlichen Hinrichtung gingen Timothy McVeigh bereits durch den Kopf, als man ihn vor dem Gerichtsgebäude in Oklahoma erstmalig einer erregten Menschenmenge vorführte. Dem „Time-Magazine“ erzählte er später: „Ich bemerkte, dass die Menge zu weit abgedrängt war, um mich mit einem Pistolenschuss bedrohen zu können. Also nahm ich sofort die Bäume und die umliegenden Gebäuden in Augenschein. Und unwillkürlich schaltete ich einen starren Panoramablick an, mit dem man einen 1000-Meter-Sicherheitsbereich überblicken kann. Das einzige, was ich bei Gefahr hätte tun können, war ein kleiner Sprung zur Seite. Im Grunde genommen wirft man Dich den Löwen vor“. „Dem Löwen vorgeworfen zu werden“ erscheint als eher archaisches Bild, da die öffentlichen Torturen der Vormoderne doch längst durch humanistische Methoden der Beweisführung und Bestrafung ersetzt wurden. Schon die Einführung der Guillotine zielte darauf ab, unter den Zuschauern keine Sympathie mehr für die Verurteilten aufkommen zu lassen. Denn die Königsmörder des Ancien Regime wurden stundenlang gestreckt und gevierteilt und litten oft noch zusätzlich unter der Überforderung von Henkern und Zugpferden. Die Justiz des 19. Jahrhunderts wandte sich daher von der körperlichen Bestrafung ab und widmete sich der Disziplinierung und Überwachung der Gefangenen. Mit der Übertragung des Todes des rechtsextremen Terroristen McVeigh für die Angehörige enstand mitten im blassen bürokratischen Akt wieder ein Moment von Märtyrertum. Schließlich ist McVeigh ebenfalls ein Königsmörder, nämlich der Mörder des demokratischen Souveräns in Gestalt der Bundesbeamten von Oklahoma. Das Volk als Souverän, zumindest wie es durch die Opfer des Bomben-Attentats von Oklahoma repräsentiert wird, ist allerdings schwer zu befriedigen. Das Zuschauen befriedigt nur im Ansatz die Sehnsucht nach der Selbstjustiz des letzten Jahrhunderts. Besonders in einem Staat wie Oklahoma, im Westen der USA, wo weiße Männer ihre strittigen Ansprüche auf indianisches Land noch lange unter sich austragen mussten. Diese Rückkehr zum archaischen Schauspiel der Hinrichtung entlastet die heutigen Gefangenen im Todestrakt jedoch nicht von der Bürde einer allgegenwärtigen hochmodernen Überwachungsmaschinerie. In dem Supermax Gefängnis in Colorado wurde McVeigh 24 Stunden täglich überwacht, davon 20 mit einer Videokamera. Wenn er schlief, war die Kamera kaum einen Meter von ihm entfernt. Damit sie funktionierte, musste immer eine Lampe brennen. Die Internetfirma, die das Spektakel seines Tod für das Internetpublikum verkaufen wollte, besitzt die Website „voyeur.com“, auf der man über 55 Webcams rund um die Uhr eine Studentinnen-WG beobachten kann. McVeigh hat zugegeben, sich jeden Monat auf die ihm erlaubte Lieferung von Playboy und Hustler zu freuen. Die Nacktfotos hingegen, die fremde Frauen ihm aus Orten wie Tennessee zuschicken, bekommt er nicht ausgehändigt.
McVeigh war selbst einmal – zusammen mit der ganzen amerikanischen Rechten – Zeuge einer Opferschau gewesen: Nämlich der von Rosemary Weaver – mit einem Baby im Arm und einer Kugel im Kopf. Im April dieses Jahres verkaufte der Mann von Rosemary Weaver, der weisse Separatist Randy Weaver, ein Buch über seine Lebensgeschichte auf einer Waffenmesse in Lincoln, Nebraska. Das Weaver- Martyrium wollte Timothy McVeigh mit seinem Attentat im April 1995 in Oklahoma-City rächen. Weaver hatte einige Jahre zuvor seine Familie nach Idaho, in eine Gebirgsgegend namens Ruby Ridge, evakuiert und sich dort mit einem ganzen Waffenarsenal verschanzt. Als das FBI kam, um ihn wegen illegalem Waffenhandel festzunehmen, starben seine Frau und sein Sohn im Schußwechsel. Weaver wurde dadurch zu einem Volkshelden der Rechten. Auf der Waffenmesse überreichte ein Indianer ihm zeremonielle Geschenke. Der Indianer war der einzige Nicht-Weisse im Saal, er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: „Der Geist von Crazy Horse lebt.“ Weaver sagte zu ihm: „Ich schätze, wenn man ähnlich wie ich von den Stiefeln der Bundesregierung getreten wurde, weiß man eben, wie sich das anfühlt.“ Auch Weavers Rächer Timothy McVeigh hätte dieses Prädikat „Unter dem Stiefel der Bundesregierung gelitten zu haben“ gerne für sich in Anspruch genommen. Doch obwohl die amerikanische Öffentlichkeit über die Belagerung von Ruby Ridge schockiert war, zeigte sie wenig Bereitschaft, für die Argumente McVeighs in seinem eigenen Fall ein ähnliches Verständnis aufzubringen. Das Vorgehen des FBI, seit dem Attentat in Oklahoma solche gewalttätigen Erstürmungen von Waffenburgen wie die bei Ruby Ridge und Waco, Texas zu vermeiden, hatte die Öffentlichkeit beschwichtigt. In einem Punkt aber gab es immer eine seltsame Einigkeit zwischen McVeigh und der US Regierung. Sowohl der Angeklagte, als auch die Staatsanwaltschaft bestanden darauf, dass das Attentat von einer einzigen Person ausgeführt wurde: McVeigh war der Kopf der Aktion, wobei er seine zwei Komplizen unter massiven Druck setzte. Doch verschiedene Prozeßbeobachter, von den Verteidigern bis hin zu Angehörigen der Opfer, haben mehr als genug Anhaltspunkte dafür gefunden, daß hinter diesem Einzeltäter, der so offensichtlich ein Martyrium für sich sucht, noch ganz andere an der Tat beteiligte Kreise existieren. War es blosser Zufall, dass ein gewisser Richard Snell, der selber einst angeklagt war, das Gebäude in Oklahoma City 1982 in die Luft jagen zu wollen, genau am Tag des Attentats von Mc Veigh in Arkansas wegen Mordes hingerichtet wurde? Hatte der Rechtsextremist Snell nur geprahlt, als er Racheaktionen am Tag seiner Hinrichtung ankündigte? War McVeigh wirklich immer nur ein „einsamer Wolf“ gewesen?
Je mehr man über die amerikanische rechte Bewegung weiß, desto weniger kann man zwischen einem Einsamer Wolf-Szenario und Verschwörungsszenarien unterscheiden. Die weißen Rassisten haben es im multiethnischen Amerika aufgegeben, Wählerschichten für sich gewinnen zu wollen oder öffentliche Ämter anzustreben. Weil sie sich damit von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen haben, so behauptet wenigstens Thomas Grumke in seiner sehr gründlichen Studie über den „Rechtsextremismus in den USA,“ bleiben ihnen fast nur terroristische Gewaltakte als Handlungsmöglichkeit. Einer der Hauptstrategen der extremen US-Rechten, das ehemalige Ku-Klux-Klan-Mitglied Louis Beam, hat dazu eine Strategie entwickelt, die eine Adaptation und Zuspitzung klandestiner kommunistischer Organisationsmodelle – eine Reihe untereinander isolierter Zellen unter einem Zentralkommando – darstellt. Beam sieht für seine Bewegung die Schaffung von lauter „Phantomzellen“ vor, die aus nur einem Mann, ohne eine lenkende Zentralinstanz bestehen und so aktiv werden sollen. In diesem Konzept eines „führungslosen Widerstands“ nimmt die Rechte zwar ideologischen Einfluss auf gewaltbereite Männer wie McVeigh, doch beteiligt sie sich nicht direkt an deren Taten. Auf einer Waffenmesse in Tulsa Oklahoma hatte McVeigh 1994 erstmalig ein Mitglied aus der rechtsradikalen Gruppe „Elohim City“ getroffen. In den Monaten vor dem Attentat besuchte mehrmals McVeigh diese separatistische Gemeinschaft, mit der auch Richard Snell kurz vor seinem Tod in Verbindung stand. Amerikas Waffenmessen sind für die extreme Rechte ungefähr dass, was Grosstadt Busdepots für die Prostitution ist: Hier verwirrte, von zu Hause weggelaufene Mädchen, die zu einer leichten Beute für Zuhälter werden, dort vereinsamte Menschen wie McVeigh, die sich nur mit Waffen sicher fühlen. Die Liebe zu Waffen gehört auf intimste Weise zur amerikanischen Tradition. Für viele weisse Männer, die in den dahinsiechenden agrarischen und industriellen Regionen der USA leben, besitzen Waffen eine eigene Magie. Sie erweitern die Macht und Potenz eines Menschen fast ebenso wie das Geld, das die meisten dieser Männer nicht haben. Timothy McVeigh, zum Beispiel, ist Enkel eines Bauern aus dem Norden des Bundesstaates New York, der seinen Hof aufgeben musste. Sein Vater war Arbeiter in einer Autofabrik bei Buffalo, die ab den frühen neunzigerjahren keine Leute mehr einstellte. McVeighs Helfer bei der Vorbereitung des Attentats, Terry Nichols, war ebenfalls ein Bauer, der in den Achtzigerjahren seinen Hof in Michigan verlor. In diesen Milieus ist die Waffe statt der Farm, das einzige, was von den Pioniertagen übrig blieb – das letzte, zudem immer mehr symbolischer werdende Mittel zur Verteidigung und Selbstversorgung.
In der Person von McVeigh vereinigen sich für die extreme Rechte mehrere positive Eigenschaften: Er war ein hochdekorierter Soldat, den seine Kampferfahrungen im Golfkrieg jedoch enttäuscht, wenn nicht traumatisiert hatten und der anschließend nur noch eine Anstellung als unterbezahlter Wachmann bei verschiedenen Firmen in Buffalo fand. Wie ein gefangener Wolf im Zoo drehte er fortan seine nächtlichen Runden auf Betriebsgeländen – zu deren Sicherheit. Dazu gehörte auch der Zoo von Buffalo, wo er sich während seiner Arbeit mit einem der Raubtiere näher anfreundete. Als er anfing, regelmäßig Waffenmessen zu besuchen, war er schon mit rechtsradikalem Gedankengut vertraut. Besonders beeinflußt hat ihn der Roman „Die Turner Tagebücher“, den er sich über die Waffen- und Militärzeitschrift „Soldiers of Fortune“ bestellte. Der Autor ist ein amerikanische Nationalsozialist namens William Pierce. Seinen 1976 veröffentlichten Text betrachtete später das FBI als direkte Handlungsanleitung für McVeighs Oklahoma-Attentat. Der Roman beginnt halbwegs realistisch – mit einer Razzia bei Waffenbesitzern. Die Handlung spielt in der Zukunft: Waffen in Privatbesitz sind inzwischen streng verboten. Der Romanheld Turner sieht sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gezwungen, in den Untergrund zu gehen, wo er sich einer rechten, gegen die Regierung kämpfenden Organisation anschließt. Diese finanziert sich zunächst durch einen tödlichen Überfall auf einen jüdischen Lebensmittelhändler. Trotz verschiedener Rückschläge gelingt es ihren autonom agierenden Kampfzellen, sich auszubreiten – konkret: innerhalb sechs Jahren, erst Los Angeles, dann Washington und schließlich die ganze Welt zu beherrschen. Ein schwindelerregendes Szenario für einen jungen Waffennarren wie McVeigh. Als Kind flüchtete er sich vor der unglücklichen Ehe seiner Eltern in Comic-Geschichten von Superhelden. Mit 20 ging er zur Armee, ihm gefielen besonders ihre Werbeslogans: „Lerne die Welt kennen“ und „Leiste schon vor 9 Uhr morgens mehr als die meisten Menschen den ganzen Tag“. Die „Turner Tagebücher“ bieten gerade für solch gute amerikanische Patrioten wie McVeigh eine Perspektive: Mit Einsatzfreude und technischer Versiertheit können sie selbst „Caesar und Napoleon“ überflügeln. Der Autor, Pierce, will damit sagen, daß die moralische und rassische „Degeneration“ des ursprünglichen Weißen Amerikas immer noch rückgängig zu machen ist. Seine Vorstellung von einer weißen Vorherrschaft ist zugleich ein paranoischer Widerhall der Hoffnungen amerikanischer Indianer im später 19.Jahrhundert, deren Erweckungsbewegung vom Verschwinden aller Weißen und der Rückkehr der Bisonherden ausging. Diese Heilslehre breitete sich wie ein Feuer über die trockenen Ebenen der ihnen noch verbliebenen Territorien aus. Die indianische Euphorie drückte sich in sogenannten Geister-Tänzen aus, die Männer und Frauen bis zur Erschöpfung veranstalteten. Eine solche Tanz-Zeremonie – auf dem Pine Ridge, South Dakota- war es dann auch, aus der sich 1890 die Schlacht am Wounded Knee entwickelte, die den Endsieg der Weißen über die Indianer bedeutete. Bei ihren Tänzen trugen die Siuox Baumwollhemden, die sie mit Symbolen der Erweckungsbewegung bemalt und deren Ränder sie ausgefranst hatten, damit sie ihrer traditionellen Lederkleidung ähnelte, die sie nicht mehr besaßen. Auch Timothy McVeigh trug ein Baumwollhemd, als ihn die Polizei von Oklahoma bereits wenige Stunden nach dem Attentat in seinem Auto – wegen fehlender KFZ-Kennzeichen und illegalem Waffenbesitz – verhaftete. Bei der Vernehmung, so wunderte sich einer der Polizisten im Nachhinein, wirkte McVeigh merkwürdig ruhig, obwohl es seine erste Verhaftung war. Der Beamte bemerkte auch sofort das merkwürdige T-Sirt: vorne war ein Porträt des ermordeten Abraham Lincolns und hinten ein Baum draufgedruckt. Ihm entging jedoch der Revolutions-Spruch unter den Graphiken: „Der Baum der Freiheit muß immer wieder mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen getränkt werden“. Deswegen kam der Polizist, der immerhin wie alle seine Kollegen an dem Tag bei der Fahdnung nach den Beteiligten am Bombenüberfall eingesetzt war, auch nicht darauf, daß er den politischen Attentäter bereits gefaßt hatte. McVeighs politische Ideen über die Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Staat, die er mit praktischen, aus den alten Pionierzeiten überkommenen Überlebens-Techniken, verband, waren einerseits zu intellektualistisch und andererseits zu asketisch, um vom Durchschnittsamerikaner ernst genommen zu werden. Randy Weaver, der Märtyrer von Ruby Ridge, der weniger zu Einsamkeit und politischer Reflexion neigt, ist aus seinem Idaho-Versteck in die amerikanische Zivilisation zurückgekehrt – mit einer neuen Frau und einer Harley-Davidson in der Garage. Die meisten Leute, die auf Waffenmessen sein Buch über seinen bewaffneten Zusammenstoß mit der Staatsgewalt kaufen, „wollen eher mit mir reden als ich mit ihnen“, erklärte er der Washington Post. Manchmal denkt Weaver noch an die Jahre auf Ruby Ridge zurück, wo seine dann erschossene und zur Opferikone gewordene Ehefrau im Sommer mit den Kindern eimerweise Blaubeeren gesammelte und für den Winter Lebensmittel eingekocht hatte. Aber ansonsten hat er all das hinter sich gelassen, behauptet er. Dennoch spielt Weaver gelegentlich wieder mit dem Gedanken, ein Stück Land in den Bergen von Arkansas zu kaufen, mit einem kleinen Haus an einem kalten Bach – „aber wer zum Teufel würde noch so leben wollen…“ sagt er zu niemandem bestimmten.
Unter der ständigen Überwachung im Gefängnis „Supermax“ in Colorado, entwickelte sich ein Freundschaft zwischen Timothy McVeigh und Theodore Kaczynski, dem sogenannten UNA-Bomber: ein Mathematiker und Ökoterrorist, der über 20 Jahre lang von seinem Versteck in der Montanawildnis Briefbomben an Personen schickte, die er als verantwortlich für die Zerstörung der Natur durch die fortschreitende Technik erklärte. Die beiden Häftlinge lernten sich während der täglichen Freistunde, die sie außerhalb ihrer Einzelzelle verbringen dürfen, kennen. McVeigh meint: „Ich bin sehr rechts, während er sehr weit links steht, aber sonst sind wir uns ziemlich ähnlich. Alles, was wir jemals wollten, was wir von diesem Leben wollten, war die Freiheit, unser Leben genau so zu leben, wie es uns vorschwebte“. Kaczynski erzählt: „Er war sicherlich kein gemeiner oder feindseliger Mensch, und nichts deutete darauf hin, daß er solch ein Superpatriot war. Ich vermute, er ist eigentlich ein Abenteurer, aber seit dem Ende der Pionierzeit hat Amerika wenig Platz für Abenteurer“. Sowohl McVeigh als auch Kaczinski, wenn man ihren Spuren folgt, die sie ins Supermax führten, wirken weniger wie zwei Terroristen mit unterschiedlichen Ideologien, sondern wie zwei amerikanische Trapper mit umgekehrten Vorstellungen. Man kann sagen, daß beide eine Hochachtung für die Natur haben und beiden eine hohe Wertschätzung von Waffen eigen ist. Doch für den UNA-Bomber stellt die Natur die Große Ordnung dar, in der man am Besten mit einem Jagdgewehr klar kommt. Für den Oklahoma-Bomber sind dagegen die Waffen vor allem ein rhetorisches Werkzeug des Bürgers, sie haben nur zufällig ihre wahre Bestimmung im Wald. Kaczynski Weg in den Terrorismus begann, als er sich – wie viele Intellektuelle in den Siebzigerjahren – entschied, seine bürgerliche Existenz aufzugeben und in den Bergen zu leben. Doch was als Interesse am Erlernen der Techniken, die ein autonomes Leben im Wald ermöglichen, begann, wandelte sich eines Tages, als er aus seiner Hütte in der Nähe von Lincoln Montana, flüchtete, um den Sommertouristen zu entkommen. Er trekkte zwei Tage, um zu seinem Lieblingsort zu gelangen: ein uralter Tafelberg, der wie eine Festung von Felsen und Wasserfällen geschützt war. Doch als er ankam, hatte man dort eine Autostraße quer durchs Gebirge gebaut. McVeigh wurde Terrorist, als er endgültig davon überzeugt war, daß die Regierung den Bürgern das Grundrecht streitig macht, Waffen zu tragen. Ausschlaggebend dafür waren seine Erfahrungen im Golfkrieg, wo er als MG-Schütze auf einem Aufklärungspanzer eingesetzt war. Noch auf Distanzen von über 1000 Meter- das entspricht ungefähr zwei Fußballfeldern – verwandelte ein Schuß aus seiner Waffe irakische Soldaten in eine Art roten Nebel. Die hoffnungslose Unterlegenheit der mit „normalen Waffen“ ausgerüsteten Gegner sah er dann erneut bei der Belagerung von Waco, Texas, wo die Verteidiger in einem Feuersturm untergingen.
Einige Jahre vor der Amerikanischen Revolution schlug das reale Vorbild für „Lederstrumpf“, Daniel Boone, einen Trapperpfad quer durch die Wildnis der Apalachen, der später zur Hauptstraße in den Westen wurde. Indem Boone dies tat, wurde er zum ersten Vertreter einer neuen Klasse von professionellen Indianer-Bekämpfern. Aber eigentlich ging es ihm dabei um die Jagdgründe der Blue-Grass-Ebenen von Kentucky, deren saftige Weiden Herden von Hirschen, Bisons und Elchen anlockte, so wie sie schon in uralten Zeiten Mastodons und Mammuts angelockt hatten. In den Augen des Trappers Boone kamen die Ebenen von Kentucky dem Paradies gleich, die aristokratischen Jäger Europas konnten sich Derartiges nicht einmal vorstellen: „Diese Vielfalt an Blumen und Früchten, alle in wunderbaren Farben, wohl gestaltet und verführerisch im Geschmack. Immerwährend wurden wir jedoch von ihnen abgelenkt, weil vor uns unzählige Tiere auftauchten“.
Amerika wurde aufgebaut mit einer optimistischen Idee, mit der Idee der Aufklärung: Wenn eine Mehrheit in der Gesellschaft ihre Geschicke selbst bestimmt, wird daraus eine bessere Gesellschaft als jemals zuvor werden. Die ideale Bürgergesellschaft ist sozusagen das komplement zu Amerikas paradiesischer Natur. Es kam dabei jedoch auch eine eher pessimistische Idee zum Tragen: Demnach hatten die europäischen Zivilisationen und Monarchien alles Gesellschaftliche derart mißgestaltet, daß es geboten war, in der Wildnis, in einer unbekannten Natur, einen Neuanfang zu machen – völlig unabhängig von der Zivilisation. Dies ist die dunkle, puritanische Seite des Amerikanischen Traums, wie sie von D.H.Lawrence in einer kleinen, meisterhaften Skizze über den amerikanischen Geist beschrieben wurde. Was Lawrence darin als „Anti-Humanismus“ begreift, findet sich wieder in dem Wunsch von McVeigh und Kaczynski, fernab von der optimistischen Gesellschaft der Mehrheit ihr Leben führen zu wollen. Bis jetzt gab es immer reichlich Raum auf dem Kontinent, um die meisten Versionen des amerikanischen Traums auszuleben: Die Freiheiten in Utah oder Arizona waren andere als die in Washington D.C. oder New York. Gewährleistet wurden sie einmal durch die Größe des Raumesund zum anderen durch die Verfassung, deren erste zehn Grundrechte dem Bürger, zumindestens den weißen Männern, ein für Nationalstaaten ungewöhnliches Maß an Widerstand gegen die staatliche Ordnung einräumten. Natürlich kam es dabei immer wieder zu Einschränkungen: Zuerst verlor der Süden gewaltsam das Recht, Sklaven zu halten. Dann verloren die Bauern im Mittleren Westen, die sich bis dahin für das Herz der Nation gehalten hatten, ihr Freiheitsgefühl – und fanden sich trotz ihres organisierten Widerstands in den Fängen der Gesetze wieder, die Banken, Eisenbahnen und Handel begünstigten. Die Angst vor dem schrumpfenden Raum und dem Verschwinden der Rechte oder vielmehr der Bedeutungsverlust dieser beiden Faktoren wird von McVeigh und Kaczinsky ausgedrückt, die von sich behaupten, daß sie eigentlich nur friedliche Bürger sein wollten und zutiefst unpolitisch sind. Sie sprechen von der „Omnipräsenz“ der Macht, und meinen, daß die Überwachung der Bürger schlimmer geworden sei als alle altstaatlichen Repressionen. Alles in allem ist es eine Klage über den Verlust des Westens, über einen vor allem seelischen Verlust. Wenn es heute ein gesellschaftliches Gegenstück zur paradiesischen Fülle der Kentucky Blue-Grass-Ebenen gibt, dann könnten dies die Wal-Mart-Billigkaufhäuser sein. Diese Kette ist inzwischen der weltgrößte Privatarbeitgeber, und rangiert in Amerika gleich hinter der Bundesregierung. Dabei entwickelte der Konzern sich zum einem wahren Leibhaftigen – für Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten, u.a. wegen seiner Hyper-Überwachung der Beschäftigten, für Stadtplaner und Bürgerinitiativen, weil Wal-Mart mit seinen Filialen, die mitunter die Größe von vier Fußballfeldern einehmen, das kommerzielle und gesellige Leben in ländlichen und kleinstädtischen Gebieten buchstäblich ausradiert.
Nebenbeibemerkt weigerte sich Wal-Mart, wo fast nur die unteren Schichten einkaufen, als einzige große Verkaufskette, McVeighs Biographie „American Terrorist“ zu verkaufen. Für McVeigh, der sich für die Überlebenstechniken der Pioniere begeisterte, war es aber sicher weitaus bitterer, daß so vielen seiner Landsleute im wesentlichen nur dieser schäbige Konsumismus geblieben ist. Während für Kaczinski dabei eher die Vernichtung der Natur zu Schleuderpreisen das Tragische ist. Beide sind jedoch gegen die Omnipräsenz von Wal-Mart und FBI nicht im sozialistischen Sinne, sondern aus Mißtrauen gegenüber der Mehrheit. Ihre Terrorakte verstehen sie auch als „Gnadenakte“ – in dem pessimistischen Bewußtsein, daß die meisten Amerikaner weder begreifen, was in ihrem Land vor sich geht, noch Widerstand dagegen leisten wollen. Deswegen ist beider amerikanisches Ziel, unabhängig zu leben, geprägt von puritanischer Misanthropie. Schon die alten Trapper in Kentucky hatten viele Feinde: schwer zu überwindende Berge, die Bären, die britische Krone, die Regierung in Washington, wilde Indianer. – Allerhand Feinde bei der Verteidigung des Paradieses.
Ist Timothy McVeigh ein rechter und Theodore Kaczynski ein linker Terrorist – wie das ihre jeweiligen Sympathisantenkreise nahelegen? Und lohnt sich die Unterscheidung überhaupt noch?
Vor einiger Zeit fand in Graz ein Symposion über Kriminelle statt, dort war man sich bald einig, z.B. in dem rechtsradikalen Österreicher Franz Fuchs, der im Namen einer „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ Briefbomben an linksliberale Prominente verschickte, einen bösen – und in dem Berliner Kaufhauserpresser Arno Funke, dessen Rohrbomben nie einen Menschen gefährdeten, einen guten Verbrecher zu sehen. McVeigh und Kaczynski diskutierten im Gefängnis eine ähnliche Differenz zwischen ihren Taten: Der UNA-Bomber warf dabei dem Oklahoma-Bomber vor, daß er Unschuldige (Kinder) tötete, während Kaczynski gezielt die seiner Meinung nach Schuldigen (Verantwortlichen) angriff.
Der demokratische Staat fühlt sich von Links- und Rechtsradikalen gleichermaßen herausgefordert, deren Bedrohungspotential u.a. der Verfassungsschutz alle Jahre wieder einschätzt. Hier hat sich dennoch die Ansicht erhalten, daß die Linke sich auf die Organisierung des Widerstands bis zum Aufstand konzentriert, während die Rechte eher zum Staatsstreich neigt. „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift,“ so sagte es Karl Marx – und seitdem ist der unblutige Generalstreik gewissermaßen das Meisterstück für die Linke. Von Adolf Hitler stammt dagegen die Überzeugung: „Männer machen Geschichte, nicht die Massen!“ In diesen unterschiedlichen Machtübernahme-Konzepten geht es auf der einen Seite um die Verschärfung der sozialen Kämpfe und auf der anderen um die Eroberung von Schlüsselpositionen, wobei dem Attentat eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Die Rechte neigt darüberhinaus aufgrund ihres Krieger-Ideals generell zu waffentechnischen „Lösungen“, während die Linke zunächst die Überredungskunst forciert – bis hin zu den schönen Künsten. Wer den Aufstand, mindestens einen Massenprotest, nicht organisieren kann, dem bleibt nur das Attentat – als Fanal mit einem möglichst hohen Symbolwert. Daneben kann man ganz allgemein bei den heutigen Partisanen einen starken Hang zu nichtsozialistischen oder sogar antikommunistischen Ideen feststellen. Auch bei den Einzelkämpfern McVeigh und Kaczynski: Dieser, insofern er einen vorindustriellen Zustand anstrebte und jener wegen seiner Neigung zum Herrenmenschentum.
Bereits 1930 verfaßte der italienische Schriftsteller Curzius Malaparte eine „Technik“ des Staatsstreichs und des Aufstands, wobei beides für ihn identisch war. Leo Trotzki hat ihn deswegen als einen „faschistischen Theoretiker – so etwas gibt es“ angegriffen, der uns Märchen über die Macht erzählen will – es geht dabei um ihr „Ergreifen“, das bei den Kommunisten wesentlich ein Schüren und Kanalisieren des Unmuts ist. Für Malaparte ist dagegen die Machtübernahme ein Problem planerischer Putsch- „Intelligenz“. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion avancierte er schon fast zu einem Vordenker der bürgerlichen Widerstandsforschung. So unterscheidet z.B. der Jerusalemer Kriegsforscher Martin van Creveld, dessen Schriften hierzulande von einem Versicherungskonzern verlegt werden, nicht mehr zwischen linken, kommunistischen und rechten, nationalistischen Partisanen- bzw. Guerillabewegungen. Er sieht überall nur noch „low intensity conflicts“, die jedoch für die davon betroffenen Staaten gefährlicher als reguläre Kriege seien.
An dieser Malaparteschen Differenz – zwischen den Staaten und ihren Herausforderern – hakt auch der Berliner Politologe Herfried Münkler an – in einer Studie über die neuen „privatisierten Kriege“. Er meint darin, daß der Bürgerkrieg nunmehr die Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln ist. Van Creveld begreift den Krieg dagegen eher als Fortsetzung des Sports. Konkret könnte er dabei an die jüngste Verwandlung des Fanclubs von Roter Stern Belgrad in eine Tschetnik-Einheit gedacht haben. Direkt auf Malapartes Machtübernahme-„Analyse“ beruft sich ein französisches Autorenkollektiv, das sich mit der „Ökonomie in Bürgerkriegen“ befaßt hat, wobei Widerstandsbewegungen rund um den Globus analysiert wurden: Egal ob rechte oder linke – seit dem Ende des Kalten Krieges sind sie alle mehr oder weniger korrupt geworden und statt dem Volke zu dienen, wirtschaften sie nur noch in die eigene Tasche: Das ist der Tenor ihres gesamten Buches. Einige der Autoren arbeiten im französischen Verteidigungsministerium, andere in NGOs oder an Universitäten.
In Deutschland gibt es eine Theorie und Philosophie gebliebene Entfaltung des Partisanenkriegs – angefangen von Stein, Gneisenau, Clausewitz und Fichte, darüberhinaus jedoch vor allem eine lange Tradition der Vernichtung von Partisanen – als Verbrecher. Die Verfasser zweier berühmt gewordener Partisanen-Schriften – Ernst Jünger und Rolf Schroers – sahen ihren Widerstand nach dem verlorenen Krieg denn auch höchstens noch im „Privatpartisan“ – im einsamen „Wolf“ – aufgehoben, der sich u.a. gegen die Popkultur stemmt – als eine Art intellektueller Maschinenstürmer. In der westlichen Studentenbewegung orientierte man sich zunächst an existentialistischen Individualrevolten – wie die der Beatniks, dann an den siegreichen algerischen, kubanischen und vietnamesischen Partisanen-Konzepten. Einigkeit bestand außerdem darüber, daß die Linke sich stets gegen die da oben organisiert, während die Rechten eher nach unten treten. Neuerdings wird jedoch wieder der vergrübelte Einzelkämpfer favorisiert. Für Alexander Kluge ist die intellektuelle Tätigkeit schon fast automatisch Partisanentum und Paul Parin sowie Jacques Derrida sehen ihn heute in den Computer-Hackern verkörpert. Tatsächlich riefen neulich schon zwei große rotchinesische Hacker-Verbände landesweit dazu auf, den US-Imperialismus anzugreifen und in München trafen sich Vertreter aus Industrie, Politik und Militär, um Strategien gegen den „Cyberterrorismus“ zu diskutieren. In Jerusalem diskutierte jetzt der selbe Kreis das selbe Problem mit israelischen Experten. Dort wird inzwischen jedoch auch schon praktisch via Internet gekämpft. Die palästinensischen Hacker-Gruppen haben in ihrem Cyberwar, „E-Jihad“ genannt, bereits mehr als 80 Internet-Attentate durchgeführt, sie werden unterstützt vom „Pakistan Hackerz-Club“ sowie von Hackern im Libanon, in Ägypten, Großbritanien, Brasilien und den USA. Außerdem bahnt sich ein „ideologisches Zusammenrücken von Islamisten und Neonazis“ an, wobei letztere ihre „Cyber-Attentate“ ebenfalls forcieren wollen. Auf der anderen Seite gelang den israelischen Hackern jedoch ebenfalls schon die eine oder andere Attacke gegen Websites der Palästinenser. Hilfe bekommen sie vom „Institute for Counter-Terrorism“, das von den israelischen Geheimdiensten Mossad und Schabak geleitet wird. Und nun eben auch von offiziellen deutschen Stellen – die damit zwar ihren überwundenen Antisemitismus beweisen, aber nach wie vor ihre Tradition der Partisanen-Vernichtung unterstreichen.
Desungeachtet nehmen weltweit die Internet-unabhängigen Partisanen-Verbände zu und immer mehr Staaten geraten nicht nur von oben durch das internationale Kapital, sondern zusätzlich auch von unten infolge ihrer Bürgerkriege in die Krise. Für die o.e. französischen Kriegsökonomie-Forscher besteht das Beunruhigende vor allem darin, daß die heutigen Partisanenformationen, egal ob rechts, links, religiös oder ethnisch identifiziert, oftmals so lange kämpfen, bis alle wirtschaftlichen Mittel in ihren „befreiten Gebieten“ erschöpft sind, einschließlich der humanitären Hilfslieferungen. Und daß sie sich – nicht zuletzt über ihre Sympathisanten im Ausland – „in der Diaspora„ – zu multinationalen Banden-Geflechten, wenn nicht gar Konzernen, entwickeln – seitdem die Unterstützung ihrer Kämpfe aus dem Osten oder aus dem Westen weggefallen ist.
Zur Begründung ihrer Staatsgefährdung führt Martin van Creveld eine weitere Unterscheidung an: Auf der einen Seite die Irregulären, die wirklich kämpfen wollen – bis zum Tod, und auf der anderen Seite die regulären Soldaten, die zunehmend weniger motiviert sind: „Entweder ist man stark oder man hat das Recht, beides geht nicht,“ meint er. Diese Unterscheidung kann man noch einmal bei den Befreiungsbewegungen selbst treffen. Der Frankfurter Widerstandsforscher Hans Grünberger sagt deswegen „Der Partisan ist eine Kippfigur“: Scheitert der Aufstand – wird er zum Kriminellen, gelingt der Aufstand wird er Offizier oder Staatsbeamter. Die Partisanen sind also nicht nur beweglich im Raum, sondern auch flüchtig in der Zeit. Die Psychologie attestiert ihnen gerne mangelnde Reife – bis hin zu Neurosen und Psychosen, während die Politikforschung ihren Hang zu Fanatismus und Despotismus herausstreicht. Der Psychoanalytiker Paul Parin entdeckte 1945 in Jugoslawien sogar eine regelrechte „Partisanenkrankheit“. Sie besteht kurz gesagt darin, nicht mehr mit dem Kämpfen aufhören zu können. Und ist somit das genaue Gegenteil von einer „Kriegsneurose“, mit der Soldaten sich vor weiteren Fronteinsätzen schützen.
„Es ist eine schwierige Klientel,“ so charakterisierte gerade ein kolumbianischer Rechtsanwalt die Partisanen. Die deutsche Terroristin Inge Viett äußerte sich in ihrer Biographie ganz ähnlich – über einige ihrer ehemaligen männlichen Mitkämpfer. In einer Diskussion bestritt sie dann jedoch, daß es so etwas wie rechte Partisanen überhaupt geben könne: Weil das Partisanentum die Form einer Volkserhebung ist – während die Rechte diese genau (technisch) verhindern will. Exakt andersherum argumentieren dagegen der Widerstandsforscher und Mitbegründer der Künstlersozialkasse Rolf Schroers sowie der faschistische Staatstheoretiker Carl Schmitt: Für sie kämpfen Partisanen immer und überall für die Wiederherstellung eines alten Rechts- und Autonomie-Raumes, wohingegen alle die, die für etwas noch nie Dagewesenes Partei ergreifen, bloß Revolutionäre sind. So gesehen wären die beiden US-Terroristen wenn schon nicht die letzten so doch echte Partisanen. Für uns deuten sie damit eher, auch ohne es zu wollen, auf echten sozialen Sprengstoff hin, d.h. auf einen fortschreitenden Zerfall von Gesellschaft.
Auch hierbei gilt Bruno Latours Faustregel: „Don’t call the Police!“ (Das Photo oben und unten knipste Antonia Herrscher)