vonDavid Khanzai 03.11.2025

Frame und Filter

Interviews über die mediale Deutungsmacht und politischen Rahmen unserer Wirklichkeit.

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Räume beeinflussen uns, oft lange bevor wir es bewusst merken. Schon beim Betreten eines Saals, einer Straße oder eines Gebäudes reagiert unser Körper: Wir nehmen Proportionen, Licht, Materialien und Linien wahr ‒ und passen Haltung, Gang und Aufmerksamkeit unbewusst daran an.

Ein Gerichtssaal zwingt zur Ordnung, eine Kirche zur Stille, ein Museum zur Ehrfurcht. In einer Kathedrale richtet sich der Blick automatisch nach oben, die hohen Säulen und das Lichtspiel erzeugen Staunen. Ein Museum führt uns von Raum zu Raum, lenkt unsere Blicke und setzt Kunstwerke bewusst zur Szene. Architektur formt nicht nur, wie wir uns bewegen, sondern auch, wie wir denken und fühlen.

Architektur ist damit weit mehr als die Gestaltung von Fassaden und Decken. Sie ist ein ständiger Dialog zwischen Raum und Mensch ‒ ein Instrument, das unser Verhalten und unsere Emotionen lenkt. Wer Räume bewusst gestaltet, gestaltet auch Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen.

Und auch Kleidung spricht in Räumen. Sie erschafft eigene Atmosphären, formt Haltungen, verleiht Präsenz. Die in Berlin ansässige Designerin Vanessa Baernthol nutzt Mode, um genau diese unsichtbaren Grenzen zu erkunden ‒ zwischen Stoff, Raum und Identität.

2023 gründete sie ihr gleichnamiges Label und feierte im Januar mit ihrer Fall/Winter 2025 Kollektion „Rebuilt“ ihr Debut auf der Berlin Fashion Week. Und heute spricht sie über den Begriff des Raumes in der Mode ‒ und darüber, wie Architektur, Körper und Stoff in ihrer Arbeit miteinander verschmelzen.

Frame-Blog: Was bedeutet der Begriff „Raum“ für dich in Bezug auf Mode?

Vanessa Baernthol: Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen Mode und Kunst und besitze einen architektonischen Ansatz in der Praxis. Ich sehe den Raum als aktiven Teil des Entstehungsprozesses. Raum ist kein neutraler Hintergrund, Kleidung existiert immer im Dialog zu Körper und Umgebung. Er formt zudem Bewegung, Wahrnehmung und Nähe, und Mode kann diese Parameter infrage stellen.

Wie nutzt du Kleidung, um bestimmte Atmosphären zu erzeugen?

Insbesondere Materialität und Textur sind superwichtig, denn Stoff hat für mich eine sehr emotionale Sprache. Ein rauer, strukturierter Stoff kann zum Beispiel Schwere oder Widerstand ausstrahlen, während eine fließende Seide etwas Verletzliches, Flüchtiges erzeugt. Zudem ist jedes Kleidungsstück ein Träger von Energie. 

Welche Rolle spielt der Ort, in dem du deine Mode inszenierst? 

Ich wähle Räume, die etwas erzählen ‒ die eine historische oder architektonische Spannung haben. Wenn der Raum mit der Bewegung, Licht und Sound zusammenkommt, entsteht quasi eine Verbindung zwischen Raum, Körper und Kleidung. Genau dieser Moment, in dem der Raum sich selbst zu bewegen scheint, weil die Kleidung ihn aktiviert, interessiert mich. 

Welche Rolle spielte Raum auf deiner letzten Show? 

In meiner Spring/Summer 2026 Kollektion mit dem Namen „Veneer“, die ich in der Staatsbibliothek zu Berlin präsentierte, ging es vor allem um die Stimmung von Präsenz und Macht. Sie hat einen Moment festgehalten ‒ zwischen Architektur, Bewegung, Stille und Klang sowie Beständigkeit und Wandel. Die besonders mächtigen Treppen, die sich zwischen Neo-Barock und Neo-Klassizismus befinden, spiegeln sich in den Silhouetten, aber auch in den Schleppen, die über den Boden gleiten, wider.

Foto: Erwin Scherwinski; Models auf der Treppe in der Staatsbibliothek zu Berlin

Wie beeinflusst Kleidung die Art, wie Menschen wahrgenommen werden? 

Für mich ist Kleidung wie eine zweite Haut ‒ sozusagen ein „Final Layer“, den man sich überwirft. Deswegen nannte ich meine letzte Kollektion auch „Veneer“. Sie formt Haltung, Bewegung und sogar Selbstwahrnehmung. Wenn zum Beispiel ein Kleidungsstück Gewicht hat ‒ durch die Stofflichkeit oder durch das Volumen ‒, verändert das ja auch den Gang. Und wenn ein Outfit mehrere Schichten besitzt, verändert es das optische Bewusstsein von Nähe und Distanz. Mich interessiert der Punkt, an dem Kleidung Kontrolle ausübt, aber gleichzeitig auch Freiheit schafft. Ich glaube, darin liegt eigentlich die Kraft von Mode ‒ sie verändert, wie wir uns selbst und andere sehen.

Was wünschst du dir, wenn Menschen deine Mode sehen oder tragen? 

Ich wünsche mir, dass sie eine Art Präsenz spüren ‒ ein Bewusstsein für ihren eigenen Körper im Raum. Und das mag jetzt erstmal für Irritation sorgen, genauer hinzusehen und etwas zu hinterfragen. Aber meine Arbeit ist keine Mode im Sinne von Dekor, sondern ein Mittel, um über Identität, Erinnerung und auch Verletzlichkeit nachzudenken. Wenn jemand das Gefühl von Individualität oder einen Moment des confidence boost durch die Kleidung erlebt, dann hat meine Arbeit ihren Sinn erfüllt.

Was kann man in Zukunft von dir erwarten? 

Ich möchte noch nicht zu viel verraten. Ich sehe meine Arbeit als fortschreitendes Kontinuum mit Kollektionen, die aufeinander aufbauen und die Stimmungen weitertragen.

Foto: Paula Reschke; Vanessa Baernthol auf den Fashion Positions 2025

An Vanessa Baernthols Arbeit lässt sich beobachten, wie Kleidung unsere Wahrnehmung von Raum verändert ‒ und umgekehrt. Ihre Entwürfe machen sichtbar, dass Raum kein Gefüge ist, sondern ein Frame ‒ eine Erfahrung, die sich mit jedem Schritt, jedem Stoff, jeder Bewegung neu formt. Mode wird hier zum Medium, das zeigt, wie sehr Wahrnehmung und Präsenz von materiellen, körperlichen und emotionalen Räumen abhängen. Wir bleiben gespannt, welche neuen Räume, Formen und Gedanken in ihrer kommenden Arbeit Gestalt annehmen.

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