„Hört endlich auf, weiterhin so zu bauen, wie Ihr baut! Es ist widernatürlich. In unseren Neubauvierteln wird mir speiübel — und nicht nur mir“, rief der Architekt Frei Otto bereits 1977 in einem Festvortrag seinen Kollegen zu. „Wo bleibt die Menschenliebe? Ich bewundere Architektur, doch ich habe die Häuser unserer Zeit hassen gelernt, selbst wenn sie perfekt geplant sein sollten. Wir bauen die Stadt und versteinern die Natur. Wir sind alle von der gleichen Krankheit befallen und haben noch nicht die Medizin dagegen.“
Er träumt von einem Super-Zelt in der Arktis, das einer ganzen Stadt Platz bietet, von gigantischen Luft-Fischen, die umweltfreundlich Menschen und Waren transportieren. Daß diese Visionen keine Wünschträume bleiben müssen, hat er mit Öko-Häusern, riesigen Zelt-Dächern und organisch entwickelten Hallen längst bewiesen: Frei Otto, der geniale Außenseiter der Architektur.
Im Rahmen unserer Architekturtheorie Reihe hier die Anforderungen an eine Architektur der Zukunft von Frei Otto, Teil 1. Diese Dokumentation basiert auf einem vor etwa 10 Jahren verfassten Text, den Frei Otto der Berliner Scharoun-Gesellschaft anlässlich eines Vortrages zur Verfügung stellte. Nach diesen Aussagen ist es notwendig, verstärkt architektonische Lösungen zu finden, bei denen wirklich der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt der Planungen steht. Auch das Umsetzen des Wesens der Bauaufgabe gehört ebenso zum Entwurfsprozess wie die Berücksichtigung ökologischer Belange. Seine Anforderungen widersprechen damit grundsätzlich dem Konzept des kürzlich präsentierten Parametrismus.
„Die Architektur des kommenden Jahrtausends ist ebenso wenig vorhersagbar wie die des nächsten Jahrhunderts. Prognosen können mit abnehmender Gültigkeit 10 bis 25 Jahre erfassen. Darüber hinaus können nur Visionen weiterführen. Die Jahrhundertwende bringt keine Wende im Bereich der Baukunst. Sie ist eine Zeitmarke, mehr nicht.
Kunst, auch Baukunst, kennt keine Entwicklung zu irgendeinem Ziel oder zu steigender Qualität. Baukunst hat aber eine Geschichte, kennt Höhen und Tiefen. Techniken und Hilfsmittel dagegen entwickeln sich stürmisch. Entwicklungslinien lassen sich in Grenzen extrapolieren, Vorhersagen sind möglich.
Die Bautechnik ist auf hohem Niveau und wird es halten. Die Arbeitsmaterialien des Architekten sind Erde, Stein, Lehm, Ziegel, Beton, Holz, Glas, Stahl, Textilien oder Luft. Sie sind nur durch die Grenzhöhen und Grenzspannweiten von Hüllen, Dächern, Brücken naturgesetzlich begrenzt. Die heute möglichen Höhen für Türme und Hochhäuser sowie die möglichen Spannweiten für Brücken sind dermaßen groß, dass sie nur selten ausgenutzt werden können. Man könnte Brücken und Dächer kilometerweit spannen und Türme ebenso hoch bauen.
Innerhalb der naturgesetzlichen Grenzen aber bleibt eine unendlich große Variabilität. Man wird auch in Zukunft immer größere Brücken und Türme unterschiedlichster Formen bauen, doch nur dann, wenn sie unumgänglich sind. Nicht so sehr die Rekordsucht des 19. Jahrhunderts wird das Bauen bestimmen, sondern auch wie zu allen Zeiten die Sucht der Reichen und Mächtigen nach Ruhm und Prunk. Besonders bei Geschäftshäusern, Banken und Sportarenen wird protzig angelegtes Geld baukünstlerische Qualität durch Übermaß erdrücken. Die Architektur der nächsten zwei Jahrzehnte wird durch zahlreiche reale Aufgaben geprägt, die heute bereits akut sind. Einige von vielen Beispielen seien hier genannt:
Weltweite Katastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Stürme, Großbrände, Atom- und Chemieunfälle und andere sind weiterhin zu erwarten. Sie erfordern nicht nur katastrophenfestes Bauen, sondern auch die Einsatzbereitschaft von Sofort-Wohnstätten in ausreichend großer Zahl, die in wenigen Stunden am Ort sein können und den Geretteten eine angemessene Lebensqualität bieten.
Die mitteleuropäischen Auen wurden mit Gebäuden und befestigten Flächen sterilisiert. Dies rückgängig zu machen und die Auen wieder zu befeuchten, ist notwendig.
Es wurden mehr Straßen und Brücken als je zuvor gebaut. Doch die gestalterische Qualität von Autobahnen, Straßen und Fahrwegen ist auf dem niedrigsten Niveau aller Zeiten. Sie müssen ästhetisch und ökologisch besser werden.
Unverändert bleibt der Wohnungsbau eine der ganz großen Aufgaben, deren Erfüllung in der Zukunft nicht mehr an der Anzahl, sondern nur an der erreichten Lebensqualität gemessen werden wird. Insbesondere das Entwerfen, Finanzieren und Bauen von Häusern auf gemeinnützigem Grund mit erneuertem Erbbaurecht für Familien mit Kindern erfordert das Engagement der jungen Architektengeneration.
Die Architektur ist im Grunde frei wie ihre Schwestern, die Malerei und die Bildhauerei. Unendlich viele Formen könnten gemalt, geknetet, gegossen und gebaut werden. Jeder Mensch dieser Erde könnte ein eigenes Haus haben, das keinem anderen gleicht, heute, in hundert Jahren, in tausend Jahren. Diese Weite der Möglichkeiten sprengt jedes Vorstellungsvermögen und erschwert den Blick voraus, weil unvorhersehbar viel geschehen kann durch Menschen, die mit subjektiven Visionen ihre eigene Welt gestalten.
Die heutige Gesellschaft gibt sich vielerorts bereits zufrieden, wenn sie wenigstens einigermaßen zutreffend erfährt, was in den nächsten Jahren geschehen könnte. Sie möchte unter anderem auch wissen, wie die kommende Architektur aussieht und ob sie schön ist und gut wirkt oder ob sie die Umwelt noch unwirtlicher machen wird. Sie möchte wissen, ob es überhaupt noch Baukunst geben wird, ob man noch Architekten braucht oder ob diese vielleicht von Computern ersetzt werden, die vermeintlich schneller und fehlerfrei planen können.
Architekten wird es immer geben, solange Menschen die Erde besiedeln. Heute wird viel gebaut, doch nur selten entsteht Baukunst. Unsere Gesellschaft weiß dies. Sie versucht krampfhaft, Bauwerke zu erhalten, von denen sie meint, dass sie wertvoll seien. Wir wandeln zunehmend zwischen Antiquitäten. Über eine Million Architekten arbeitet weltweit und baut unzählige Häuser. Doch nur einige hundert im Jahr erlangen internationale Aufmerksamkeit und kaum mehr als 30 schreiben Baugeschichte. Viele Menschen sind an der Zukunft der Baukunst nicht sonderlich interessiert. Sie wohnen und arbeiten in Gehäusen, zu denen die innere Beziehung fehlt. Sie leben schlecht und recht zur Miete in Häusern, die andere gebaut haben, um damit Geld zu verdienen. Wenn jemand endlich einmal sein lang ersehntes eigenes ,,Traumhaus“ verwirklichen möchte, dann bremsen ihn viele Vorschriften zur Lage, Orientierung, Dachneigung und Farbe. Es verbleibt vielleicht noch die Gestaltung der Eingangstür oder der Tapeten.
Bislang schrumpft das Interesse der Gesellschaft an Baukunst auf ein touristisches zusammen. Man besucht alte Städte und Baudenkmäler und bewundert die alten Baumeister. Im Bereich der Denkmalpflege wird zur Zeit überproportional viel getan. Es wird ein Wandel einsetzen, man wird Baudenkmäler kritischer betrachten und bald nur noch solche erhalten, die die Gesellschaft wirklich liebt. Die anderen Gebäude wird man würdig „sterben“ lassen oder aber den Zeitläufen anpassen, denn nur das anpassungsfähige Haus, das jeden Tag „up to date“ ist, hat die Voraussetzung für ein langes Bestehen. Die wirklich Epoche machenden Werke der Baukunst waren zu allen Zeiten neu, waren vorbildlos, waren geistige Produkte, die zu geformter Materie wurden. Sie waren oft voller Fehler, Aber sie hatten die besondere Ausstrahlung des „Urerlebens“. Sie zeigten sich denen, die sich ihnen öffneten. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht auch in Zukunft wieder so sein kann.
Jede Kunst lebt von Vorbildern. Die Malerei und die Bildhauerei fanden sie früher vor allem in der Natur, die spannungsvoll unvollendete Vollkommenheit und vor allem unerklärbare Schönheit zeigte. Die Baukunst aber hat Natur nur sehr selten zum Vorbild genommen. Rückwärts blickend ist sie sich selbst Vorbild. Historische Bauten werden oft imitiert oder nachempfunden. Die Aufgabe des Bauens ist bis heute der Schutz des Menschen vor den Gewalten der Natur, die man inzwischen zunehmend beherrscht. Endlich erkannt man auch den Umfang der Vernichtung von Natur durch Bauten. Langsam entwickelt sich ein neues Verständnis für eine Symbiose des Menschen und seiner Bauten mit der Natur.
Am ehesten können Architekten die Zukunft des Bauwesens der nächsten drei bis fünfzehn Jahr vorhersagen. Sie planen heute für morgen. Was heute konzipiert wird, ist in wenigen Jahren Gegenwart. Die effektivsten Kurzzeit-Zukunftsmacher sind die großen Stars, die ständigen Wettbewerbsgewinner, die mit größtem Geschick bekannte Elemente der Bautechnik und Baukunst blitzschnell so gut neu arrangieren, dass sie weltweit nachgeahmt werden. Sie sind in der Regel Interpreten und Arrangeure von Ideen, die andere vor ihnen hatten, die sie nicht selbst entwickelt oder erfunden haben. Dazu fehlt ihnen die Zeit, wenn sie von einem Projekt zum nächsten eilen. Sie gestalten zwar die Stadt von morgen und dokumentieren doch nur das Gestern, allenfalls das Heute. Die eigentlichen Avantgardisten der Architektur sind die Visionäre, die Forscher und Erfinder, denen es gelingt, neue Ideen in die Nähe der Realisierbarkeit zu bringen. Ideen, Erfindungen, Forschungen sind der wirkliche Motor des Bauens, sind die Grundlagen für die Baukunst. Ideen brauchen viel Zeit, bis sie endlich verstanden werden.
Um die Gegenwart zu erfassen, ist die Kunst- und Architekturkritik von großer Bedeutung. Ideen müssen erkannt, echte Werke der Baukunst als solche entdeckt werden. Wir haben zu wenig und noch weniger gute Architekturkritiker. Kritik verlangt Kennen und Können und ist selbst eine Kunst. Die Geschichte kann zwar Hinweise für mögliche Weiterentwicklungen der Bauwirtschaft und Bautechnik geben, doch keine zuverlässigen Hinweise im Bereich der Künste, die sich zwar verändern, aber nicht entwickeln, zumindest nicht qualitativ. Die vor fünfzig Jahren entstandene Geschichte der modernen Architektur versuchte bis zur Gegenwart vorzudringen. Sie versuchte einerseits die Gegenwart zur Geschichte zu machen und andererseits durch Fortführung von Trends die Zukunft vorzuzeichnen. Sie versuchte die Extrapolation von Geschichte im Bereich der Kunst, ein im Ansatz hoffnungsarmes Unterfangen. Bisher ist es keinem jener modernen Baugeschichtler, die faszinierende Zukunftsbilder an Hand ihrer eigenen Vorbilder malten, gelungen, mit eigenen Bauten selbst wirkliche Baukunst zu schaffen. Die direkte Extrapolation der Geschichte in der Zukunft scheint verbaut.
Unzählige Vorschläge zur Anhebung des Niveaus der kommenden Architektur werden zur Zeit diskutiert. lm Mittelpunkt steht das Wettbewerbswesen und die zunehmende Erkenntnis, dass es grundsätzlich nicht möglich sein kann, die Qualität von Baukunst zu messen. Architekten entscheiden als Geheimrichter über die Arbeiten von Kollegen, die dann bald auch wieder Juroren sind. Es entstehen geschlossene Zirkel der,,Gerechten“, die Runde für Runde Arbeiten aussortieren, die Interpretationen von Ideen anderer darstellen und unvergleichbar sind. Die Arbeit mit den geringsten Schwächen ,,siegt“. Nur ganz selten wird ein großer Entwurf gekürt. Oft wird das Entstehen von Baukunst bereits durch die Ausschreibung verhindert. Dann angeln Juroren in Teichen ohne Fische. Das Wettbewerbswesen muss von Grund auf erneuert werden.
Den Bauherrn in Person, der weiß, was er will und dafür einsteht, gibt es kaum noch. Er wurde durch einen im Namen anderer handelnden Vertreter ersetzt. Die „Als-ob-Bauherren“ nutzen zwar ihre Kompetenzen, aber tragen selten wirklich Verantwortung. Sie spielen Bauherr. Oft werden sie während einer Planung ausgewechselt. Noch ist das Bauherrenamt ein Privileg für Vorstände, Bankiers, Investoren oder Politiker. Als Bauherrn der Zukunft stelle ich mir im kommenden Bereich einen parlamentarisch beauftragten, wirklich kompetenten Bevollmächtigten vor.
Größten Einfluss auf die Architektur der kommenden Jahre werden Schlagworte haben. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die „menschlichen“ Bauten propagiert. Als aber jeder Architekt seine Bauten als menschlich bezeichnete, verlor der Begriff seine läuternde Wirkung. Es wurde nicht menschlicher gebaut als vorher. Der Ruf nach Menschlichkeit wurde in den siebziger Jahren abgelöst durch den Ruf nach einer neue Ästhetik, obwohl man sich bewusst war, dass auch schöne Bauten böse Auswirkungen haben können. Einen gültigen Maßstab für Schönheit in der Architektur wird es nicht geben. Maßstäbe werden zwar von Zeit zu Zeit neu erfunden und manchmal über längere Zeiten in Gesellschaften tradiert. Jede Stilepoche des Bauens hatte eine eigene Lehre vom Schönen, die Ästhetik. Zur Zeit versuchen einige selbsternannte Apostel unter den Architekten, ihren Kollegen den eigenen Maßstab aufzudrücken und werden es weiterhin versuchen.“
Fortsetzung folgt im Teil 2: Architektur der Zukunft 2