Was halten im Deutschland lebende Aserbaidschaner vom Konflikt um Berg-Karabach
Ein Gastbeitrag von Asif Masimov und Matthias Wolf
Seit dem 27.9.2020 tobt im Südkaukasus erneut ein Krieg. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach gilt seit dem Waffenstillstand von 1994 als ungelöst. Im Zuge dieses Konfliktes kam es zu einer humanitäre Katastrophe, bei der in beiden südkaukasischen Ländern ein großer Flüchtlingsstrom entstand.
Hierbei war Aserbaidschan noch damit konfrontiert, über 650.000 Binnenvertriebene aus Berg-Karabach und den umliegenden sieben Provinzen aufzunehmen. Dies führte in der Folge zur Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung von Armenien und Aserbaidschan. Heute ist Armenien mit 98% armenischer Bevölkerung quasi ein monoethnisches Land. Im Vergleich dazu ist Aserbaidschan jedoch ein multiethnisches und multikulturelles Land, in dem unterschiedliche Nationalitäten zusammenleben und gemeinsam ihre Tradition und Kultur weiterentwickeln. Darüber hinaus gibt es auch eine große aserbaidschanische Diaspora im Ausland, die ebenfalls ethnisch vielfältig ist.
Während an der Frontlinie die Kämpfe zwischen den armenischen und aserbaidschanischen Truppen andauern, werden im Internet, quasi im virtuellen Raum, noch Falschmeldungen auf beiden Seiten verbreitet, um die Bevölkerung in Panik zu versetzen. Der sogenannte „Vorsitzende der Nationalversammlung“ der selbst-proklamierten Republik Berg-Karabach (arm. „Artsakh“) Artur Tovmajan rief die aserbaidschanischen Minderheiten zur Passivität auf. In seinem Appell warnte Tovmanjan die aserbaidschanischen Minderheiten vor einer Beteiligung an den Kämpfen.
Gleichzeitig versprach er ihnen bei Bedarf humanitäre Hilfe. Bei vielen Aserbaidschanern, bzw. aserbaidschanischen Minderheiten wurde dieser Appell als sarkastisch wahrgenommen, denn Armenien hatte als monoethnisches Land alle Minderheiten bereits in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts vertrieben.
Wir sprachen mit einigen Aserbaidschanern die auch Angehörige aserbaidschanischer Minderheiten sind und derzeit in Deutschland leben. Befragt wurden sie bezüglich der letzten Ereignisse an der Frontlinie im Kaukasus.
In Aserbaidschan lebt eine große russische und ukrainische Community. Diese Community ist insbesondere in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und um die Stadt Sumqayıt herum konzentriert. Russisch gilt sogar als zweite wichtige Verkehrssprache in Baku. Wir kontaktierten Marina Zlogodukhova, um ihre Position zu den jüngsten Gefechten an der Frontlinie zu erfragen.
Zlogodukhova ist in Baku geboren und aufgewachsen. Zurzeit studiert sie in Deutschland. Zum aktuellen Konflikt meint sie, dass „seit fast 30 Jahren Armenien aserbaidschanische Territorien unter illegaler Besatzung hält und die Aufrufe der Weltgemeinschaft ( u.a. der UN) zur Befreiung bzw. Räumung aserbaidschanischer Territorien ignoriert“. Armenien müsse „seine Truppen aus den aserbaidschanischen Territorien abziehen, damit das Blutvergießen aufhört“, so Marina.
In Aserbaidschan existieren drei unterschiedliche jüdische Gemeinden, von denen die größte die der Bergjuden ist. In Deutschland, in Frankfurt am Main, gibt es ebenfalls eine solche bergjüdische Gemeinde, die momentan von Herrn Avi Shefatja geleitet wird. Avi spricht fließend Aserbaidschanisch.
Zum Konflikt um die Region Karabach kritisiert Shefatja die „westliche Berichterstattung“:
„Bedauerlicherweise muss ich einen Mangel an objektiver Berichterstattung, die zu den Grundbedingungen demokratischer Gesellschaft gehört, feststellen. Seit dem Aufflammen des Konfliktes kursieren in der Medienlandschaft die Wortverbindungen wie ´das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan´ – ´das islamisch geprägte Aserbaidschan´ – ´christliche Karabach- Armenier´. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich ausschließlich um einen territorialen und nicht um einen religiös-motivierten Konflikt handelt, möchte ich zum Ausdruck bringen, dass solche ´Hilfswörter´ zur Verbesserung der Situation im Südkaukasus keinen positiven Beitrag leistet.“
Des Weiteren hat Shefatja hervorgehoben, dass Aserbaidschan „ein säkularer und multinationaler Staat ist, wo unterschiedliche religiösen, ethnischen Gruppen seit Jahrhunderten friedlich zusammenleben“.
„Die hiesigen Medien stellen Aserbaidschan als Invasoren und Aggressor und die Armenier stets als Opfer dar. Dabei ist Bergkarabasch Teil Aserbaidschans, wie können wir Invasoren unseres eigenen landes sein?“, kritisiert auch Aslan Mammedov, der seit 30 Jahren in Dortmund lebt.
In der aserbaidschanischen nördlichen Provinz Zakatala leben unterschiedliche ethnische Gruppen wie Zachuren, Awaren und Lesgier. Laman Gurbanova stammt aus dieser Region. Ihre Mutter ist Zachurin, ihr Vater ein Aserbaidschaner. In Aserbaidschan sind oft solche gemischte Familien anzutreffen, wobei die Religion kaum die Rolle spielt.
„Aserbaidschan ist unser Land und unsere Heimat. Wir sehen jeden Angriff auf die aserbaidschanischen Territorien als einen Angriff auf uns und sind bereit, jeden Angriff gemeinsam zu überstehen“, so Laman Gurbanova.
Im Norden Aserbaidschans leben die Lesgier, die zur kaukasischen Volksgruppe gehören. Mahammad Rahmanov gehört zur lesgischen Volksgruppe in Aserbaidschan. Er studiert Computerwissenschaften in Göttingen. Im Gespräch betont Mahammed, dass „wir alle Aserbaidschaner sind, egal von welcher Ethnie oder Nationalität wir abstammen: Aserbaidschaner, Lesgier oder Talyschen. In dieser Zeit müssen wir alle für Aserbaidschan zusammenhalten und zur Befreiung Karabachs unseren Beitrag leisten.“
Aserbaidschan führt seiner Meinung nach einen Befreiungskrieg, denn die UN-Resolutionen, so Rahmanov, seien seit 27 Jahren nicht implementiert und angewendet worden.
Ramin Shikhiyev kommt aus dem südlichen Teil Aserbaidschans. Im Süden Aserbaidschans leben sehr viele Talyschen, die zur iranischen Volksgruppe gehören. Ramin ist in Deutschland als Arzt beschäftigt.
„In Deutschland gibt es ja sehr viele Ärzte aus Aserbaidschan, ich bin einer von ihnen. Ich bin bereit, als Arzt an der Frontlinie in Aserbaidschan unsere verwundeten Soldaten zu behandeln. Ich habe den Appell der armenischen Seite an die aserbaidschanischen Bewohner gelesen. Als gebürtiger Lenkoraner (eine Stadt im Süden Aserbaidschans Anm. d. Red.) möchte ich betonen, dass alle in Aserbaidschan lebenden Bürger, ganz gleich welcher Ethnie, jederzeit bereit sein werden, unsere Heimat zu schützen“, so Ramin Shikhiyev.
Nijat Rzayev studiert in Deutschland Informatik. Obwohl Nijat in Baku geboren und aufgewachsen ist, weist er darauf hin, dass „Berg-Karabach historisch betrachtet aserbaidschanisches Territorium ist“. Er verurteilt die fast dreißigjährige illegale Besetzung der aserbaidschanischen Territorien sowie die Vertreibung von Aserbaidschanern durch das armenische Militär. Dennoch hofft er, dass „die Aserbaidschaner bald wieder in ihre historisch angestammten Gebiete zurückkehren können und somit im Kaukasus wieder Frieden einziehen wird“.
Am Beispiel der hier getätigten Aussagen ist deutlich zu erkennen, dass die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit keinen Einfluss darauf hat, inwieweit sich Bürger Aserbaidschans zugehörig zu diesem Land fühlen. Wer in Aserbaidschan geboren und aufgewachsen ist, ist und bleibt ein Leben lang Aserbaidschaner und damit natürlich auch dem Land und seinen kulturellen Gegebenheiten verbunden. Auch wer nicht zwingend einer muslimischen Minderheit wie den Russen oder Bergjuden angehört, fühlt sich in diesem Fall als Aserbaidschaner und empfindet damit eine tiefe Loyalität gegenüber seiner Heimat und seinen Mitmenschen. Diese Loyalität ist es auch letztendlich, die die Gesellschaft im Land zusammenhält und die hoffentlich bald einen erfolgreichen Ausgang der Auseinandersetzungen um Karabach für Aserbaidschan zur Folge haben wird.
Asif Masimov hat Internationale Beziehungen und Politikwissenschaften studiert. Er ist Doktorand im Fach Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er bloggt auf masimovasif.net zu historischen und politischen Themen rund um Deutschland, Aserbaidschan und Russland.
Matthias Wolf, geb. 1987 ist Sprachwissenschaftler, Publizist und Dozent für romanische und slawische Sprachen. Er forscht ebenfalls im Bereich der Turksprachen und begann im Zuge dieser Studien, sich mit Aserbaidschan und dessen Kultur und Politik zu beschäftigen. Auch Themen wie „Russland und Europa“, „Aserbaidschan als Kulturraum zwischen den Kontinenten“ und „Musik und Film in der aserbaidschanischen SSR“ gehören zu seinen Arbeitsfeldern.