Während das Leben der Einheimischen auf Lesbos in normalen Bahnen läuft, Restaurants und Läden offen haben, müssen Flüchtlinge einen weiteren Monat in Europas größtem Flüchtlingscamp Moria ausharren. Und das obwohl es keinen einzigen bestätigten Fall des Coronavirus im Camp gibt, ganz im Gegensatz zum Rest der Insel. Was bedeutet der Lockdown für die Menschen hinter den Toren des Camps?
Die Organisation „Médecins Sans Frontières (MSF)“ bietet medizinische Hilfe auf der Insel Lesbos an und berichtet in der aktuellen Presseerklärung: „Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit […] haben sich als toxisch für die tausenden Menschen erwiesen.“ Die Konsequenzen der extremen Restriktionen zeigen sich auf viele Ebenen.
Über Monate hinweg sind die Geflüchteten eingesperrt – eingesperrt auf engstem Raum, ohne diesem Albtraum für ein paar Stunden täglich entkommen zu können. Selbstverständlichkeiten wie Lebensmitteleinkäufe, Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmittel, um Medikamente in der Apotheke zu besorgen, oder einfach nur ein Spaziergang sind unmöglich und das seit Monaten. Was das in der Realität bedeutet zeigt sich täglich an Fällen wie der drei Jahre alten Amal*, die an chronischem Husten leidet. Ihre Mutter bekommt keine Erlaubnis, um benötigte Medikamente zu besorgen. Bleibende Lungenschäden sind dadurch für das afghanische Mädchen nicht auszuschließen.
Toxische Zustände in Flüchtlingscamps
Die Fälle häuslicher Gewalt haben drastisch zugenommen. Gerade Frauen und Kinder sind besonders gefährdet. Erwachsene Frauen schlafen mit selbstgebastelten Windeln, denn sie müssen befürchten, ausgeraubt oder vergewaltigt werden, wenn sie nachts das Zelt verlassen. Eine reale Gefahr, wie leider immer wieder festzustellen ist.
Aber auch Polizeigewalt wird zu einem immer größeren Problem. Der Zugang zu juristischem Beistand ist extrem beschränkt, sodass die Polizist*innen mit keinerlei Konsequenzen rechnen müssen. Menschen in Moria sind purer Willkür und Gewalt ausgesetzt. Gerade unbegleitete Minderjährige werden oft Opfer von Gewalt, da sie in abgeriegelten Sektionen leben. Neben den offensichtlichen physischen Konsequenzen dieser Übergriffe, sind die psychischen Effekte besonders einschneidend.
Kinder, die vor Krieg fliehen, werden nun auf europäischem Boden wieder und wieder traumatisiert. Europa war ihre große Hoffnung auf Sicherheit, doch auch hier sind die Gewalt ausgesetzt. Sie haben keine Vertrauensperson und müssen im Grundschulalter schon Entscheidungen über Leben und Tod fällen. Teilweise nicht nur für sich selbst, sondern auch für jüngere Geschwister oder kranke Eltern.
Gewalt nimmt zu
Der Lockdown hat aber nicht nur die Situation in Moria selbst verschärft, sondern auch Projekte für und mit Geflüchteten mussten seit Monaten eingestellt werden: Schulen, Frauenhäuser, Spielplätze, Nähwerkstätten, Schwimmkurse, Therapiegruppen. Aber nicht nur Projekte aus dem Bereich der Sozialarbeit wurden untersagt. Ironischerweise wurden auch Einrichtungen wie Becky‘s Bathouse (BBH) gezwungen zu schließen und das obwohl die Organisation Duschen für Frauen zu Verfügung stellt und Hygienepakete verteilt.
„Wir sind davon überzeugt, dass dies eine Taktik ist, um das Camp vom Rest der Insel zu separieren, da Griechenland Tourismus priorisiert. Und um Geflüchteten ihre Rechte zu nehmen.”, erklärt eine Sprecherin von BBH. Der Mangel an sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung würde den Kampf gegen die Pandemie nahezu unmöglich machen.
„Covid-19 ist eine Ausrede, um Menschen auf den griechischen Inseln wegzusperren“ schlussfolgerte auch MSF vor wenigen Tagen. Die Einschränkungen seien diskriminierend und nicht haltbar. Die Menschen seien keine Gefahr, sondern ganz im Gegenteil, durch die Stigmatisierung in Gefahr. Verdachtsfälle, wie Menschen mit Husten, Fieber und anderen coronatypischen Symptomen, wurden bisher gescreent und in einem Zentrum vor Moria isoliert. Doch zum gleichen Zeitpunkt als die griechische Regierung die Verlängerung des Lockdowns für Flüchtlinge bekanntgab, erzwang die Regierung die Schließung dieses Zentrums. Die offizielle Begründing der Schließung und hohen Strafzahlungen: Ein Verstoß gegen Bauvorschriften.
Covid-19 Zentrum gezwungen zu schließen
MSF hatte das Zentrum Anfang Mai aufgebaut. „Es ist unfassbar, dass wir von den Behörden daran gehindert werden, die Menschen zu schützen, die am gefährdeten sind. Wir beobachten eine Verletzung der Würde der Menschen, die in unmenschlichen Bedingungen gefangen sind.“, so Oberreit von MSF. Der Head of Mission führt fort: „Das öffentlich Gesundheitssystem würde nicht in der Lage sein, einen Ausbruch des Virus in Moria zu Händeln – deshalb sind wir vorangeschritten… Und jetzt sind wir gezwungen die zentrale Komponente zu beenden.“
Eine Alternative haben die Behörden bisher noch nicht gefunden, doch MSF musste Patient*innen von einem Tag auf den anderen entlassen. Was jedoch fest steht, der Lockdown wird mindestens bis Ende des Monats andauern. Und eine Verlängerung? Scheint nicht unwahrscheinlich.
*Der Name wurde zum Schutz der Privatsphäre geändert.
Von Romy Bornscheuer, Europeans For Humanity
Fotos: Yousif Alshewaili