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zurück auf dem Land. Im Bauwagen. Die Sonne scheint durch das neu eingebaute Seitenfenster. Ihre Strahlen fallen duch die Blätter der siamesischen Baumzwillinge – eine Ulme und eine Robinie, die sich in ihrer Jugend so verschlungen haben, dass ihre Stämme zusammengewachsen sind. Die Schatten ihrer Blätter huschen als Muster über den Laptop. Ich versuche, die Formen der Ulmenblätter von denen der fiedrigen Robinienblättchen zu unterscheiden – aber da ist schon wieder eine Wolke vor der Sonne und stellt das Bild unscharf.
In der letzten Woche blieb Ch. an Schläuchen. Mal mehr, mal weniger. Die Lunge kriegt Sauerstoff durch den Schlauch, der Magen das Essen durch eine Nasenleitung. Am Hals werden Medikamente durch eine verzweigte Batterie von Anschlusshähnchen zugeführt. Am Ohr, wo die Haut dünn ist, wird der Puls genommen. Unten wird das Ausgeschiedene aufgefangen und abgeleitet. Aber das ist nicht genug. Auf der anderen Halsseite wird das Blut rausgeleitet und in einen Dialyseapparat gewaschen und dann wieder reingeleitet.
Während Ch.’s Blut durch die Apparate gefiltert und angereichert wird, räume und putze ich in seiner Wohnung. Sedimente von 15 Jahren haben sich abgesetzt. Weil alles noch mal gebraucht werden könnte, alles noch mal angeguckt werden müsste. Die Ereignisse der 90er Jahre ziehen an mir vorbei, als ich die Sterns und Spiegels, die ausgerissenen Seiten aus Tagesspiegel und BZ, die Sonderdrucke und Spezialausgaben in die Hand nehme, durchblättere und dann wegwerfe. Immer neue Stapel kommen in der vielwinkligen Einzimmerwohnung zum Vorschein. Die Staubschichten darauf und darunter sind tektonische Hinweise für die geschichtliche Einordnung.
Darf ich das überhaupt? Er hat mich beauftragt, für ihn zu entscheiden, wenn er das nicht mehr kann. Auch entscheiden, wegzuwerfen? Er kann das hier alleine nicht mehr auflösen, denke ich, entscheide ich. Er braucht einen Neuanfang, wenn er aus dem Krankenhaus zurückkommt. Jedes Mal, wenn es ihm ein bisschen besser geht, gehe ich nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus anders vor. Dann ordne ich die Stapel um: Das sollte er noch mal angucken, das sollte er dann selbst entscheiden! Nein, die Kiste mit den Nippes schiebe ich erst noch unter den Podest! Aber wenn es ihm wieder bedrohlich schlechter geht, denke ich: bloß weg mit allem, was das Leben so belastet und schwergängig macht.
Ich bin der Dialyse-Apparat für Ch.’s Geschichte. Ich wasche raus, was er selbst nicht ausscheiden kann. Ich bin die Lungenmaschine für seine Zukunft: ich sauge, wische, putze die Fenster, stelle die Regale um, dass er überall gut rankommt, beschrifte Kästen, damit er alles wiederfindet. Ich sichte riesige Mengen getragener und sauberer Wäsche, hänge das saubere auf Bügel oder falte es zu Päckchen. Nach dem fünfzigsten Slip fange ich an, jeden zweiten wegzuwerfen. M. und M., die Nachbarinnen, helfen mir. M. übernimmt einen Wäschehaufen. Andere nehme ich mit aufs Land.
Auf dem Rückweg noch einmal in die Charité. Christian kann zum ersten Mal ein bisschen reden. Vielleicht schafft er es jetzt, selbst zu atmen ohne vor lauter Angst panisch zu werden. Er will ne Cola, sagt er. Ich sage: „bei dir zuhause steht eine, die wartet auf dich“. Er lächelt mit geschlossenen Augen. Ich besinne mich: „Ehrlich gesagt, ich habe sie gestern mit M. ausgetrunken. Aber ich kaufe eine neue für dich.“