Im Zug von Bremen nach Frankfurt treffen mein Mann und ich gute Freunde aus Köln. Wohin des Weges? Nach Hause! Und Ihr? Nach Malaysia und Borneo. Zu den Waldmenschen? Ja, das war ursprünglich tatsächlich mal meine Idee. Aber jetzt spende ich lieber etwas für die Orang Utans und gucke mir stattdessen die lustigen Videos an, die ich seit einigen Wochen, als ich einmal nach Orang-Utans Ausschau hielt, ständig und jeden Tag auf meinen Socialmediaaccounts finde. Irgendwie erscheint es mir nicht mehr richtig, mir die Tiere in freier Wildbahn und erst recht nicht in irgendwelchen Gehegen anzugucken. Ich bin doch nicht Jane Goodall bzw. Biruté Galdikas, wie die von Louis Leakey nach Borneo geschickte und noch lebende Primatenforscherin heißt, sondern nur eine von vielen weißen Touristen auf der Suche nach exotischen Sensationen. Weißt Du, fragt mich der Freund aus Köln, was die Menschen in Borneo über die „Waldmenschen“ (Orang Utans) sagen? Nein, sage ich. Man sagt dort, sie würden nicht sprechen, damit sie nicht arbeiten müssten. Als er das sagt, muss er sehr lachen und auch wir fangen an zu lachen und können gar nicht mehr aufhören. Mit Sprechen wollen wir natürlich auch nicht aufhören und so werden wir immer weiter arbeiten müssen in unserem Leben, das uns nun gerade von der alltäglichen Arbeit weg in paradiesische Gefilde führen soll. Und weißt Du auch, fragt mich mein kluger Kölner Freund, dass es nur ein einziges malayisches Lehnwort im Deutschen gibt? Nein, sage ich. Amok! sagt er. Wir hören auf zu lachen. Denn Amok ist etwas, womit wir in letzter Zeit durch die Medien und die von ihnen berichteten Taten auch in Deutschland häufiger zu tun haben. Ob Amok in Malaysia gehäuft auftaucht? Sprache gehört nicht zu Amok, er kann ganz ohne Worte auskommen, wie ich aus dem Film „Elephant“ von Gus van Sant weiß. Er stammt aus dem Jahr 2003 und beschreibt den Amoklauf zweier Schüler an der Columbine High School, bei dem sie 12 Schüler und einen Lehrer erschossen und sich selber töteten. Der Ton des Films besteht aus den Aufnahmen eines Psychiaterkongresses und der Mondscheinsonate von Beethoven. Stimmen und Gespräche sind nicht zu hören. Diesen Film habe ich nie vergessen, er hat sich mir sehr eindringlich eingeprägt und noch heute, wenn ich wieder von einer Amoktat erfahre, höre ich die Geräuschkulisse des Psychiaterkongresses und sehe es wieder vor mir, wie die beiden jugendlichen Täter durch das Schulgebäude gehen und unterschiedslos auf ihre Mitmenschen schießen. Auf einmal erscheint mir die Reise nach Malaysia mit seinen sanften Orangutans, die nicht arbeiten wollen, gar nicht mehr so attraktiv, wie noch bisher. Gibt es dort in der Nähe nicht auch Piraten, die Schiffe kapern? Und ist Amok (lauf) womöglich eine malaysische Spezialität? Ich lese auf Wikipedia nach.
„Das Wort Amok kommt vom Kriegsgeschrei der sogenannten Amucos ab. Diese Elitekrieger im hinduistischen Indien verpflichteten sich ihrem König gegenüber rituell zum bedingungslosen Kampf bis zum Tod. Gegner vermieden es, den König zu töten oder zu verletzen, um nicht der bedingungslosen Rache der Amucos anheimzufallen. Später übernahmen malaiische und javanische Krieger den indischen Begriff und das einschüchternde Kriegsgeschrei „Amok! Amok!“. Im Zuge der Islamisierung des malaiisch-indonesischen Kulturkreises im 14. Jahrhundert wurde der Amoklauf gegen „Ungläubige“ zu einem Akt religiösen Fanatismus und der so gefundene Tod galt im Gegensatz zum Muslimen verbotenen Suizid als Allah wohlgefällig. Ungefähr zu dieser Zeit versuchten sich zahlungsunfähige Schuldner ihrer unweigerlich drohenden Versklavung dadurch zu entziehen, dass sie so lange töteten, bis sie selbst getötet wurden. Dies war auch eine Form des sozialen Protestes, denn die Drohung eines Amoklaufes bei grober Ungerechtigkeit konnte einen Machtmissbrauch durch Herrscher verhindern. Ab Ende des 17. Jhds. erfuhr man auch in Europa von dem Begriff Amok. Im Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1888 hieß es noch:
„Amucklaufen (Amoklaufen, vom javanischen Wort amoak, töten), ist eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, und besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Dolch bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden.“
Ein Amoklauf ist typischerweise die Tat eines einzelnen Täters. Daher beziehen sich die üblichen Definitionen auf „einen Täter“ oder sogar ausdrücklich auf „einen einzelnen Täter“. Im tatsächlichen Sprachgebrauch wird jedoch die Bezeichnung Amoklauf mittlerweile auch auf gemeinschaftlich begangene Taten angewendet, wenn sie in den sonstigen Merkmalen einem Amoklauf entsprechen.“
Inzwischen ist man hier in Deutschland ja reichlich an Amokläufe mit Messern gewöhnt, muss ich denken. Die letzte war vor einer Woche am Bahnsteig in Hamburg, von wo es nach Bremen geht, und dann muss ich denken, dass es in Malaysia schon nicht schlimmer sein wird als in unserem Heimatland, in dem uns die DB heute tatsächlich ohne Verspätung zum Flughafen nach Frankfurt bringt. Glück gehabt also schon zu Beginn dieser Reise in die Ferne.