Der Hinflug nach Malaysia sei viel schlimmer als der Rückflug, sagte man uns vor dem Abflug. Die sechs Stunden Zeitunterschied seien nur schwer nachzuholen. Da der Flug auch wegen des Umfliegens der Ukraine, was ihn zwei Stunden länger macht, zwölf Stunden dauert, kommen wir, mit Umsteigen in Singapur, erst um vier Uhr morgens in Kuala Lumpur, der Hauptstadt von Malaysia, an. Wir haben eine schlaflose Nacht hinter uns, denn das Geräusch des Flugzeugs macht es uns unmöglich, zu schlafen. Das geht aber seltsamerweise nur uns, den einzigen Europäern hier im Flugzeug und zwei Elternpaaren mit ihren pausenlos schreienden Kleinkindern so. Die restlichen Reisenden, die so aussehen, als kämen sie aus asiatischen Ländern, schließen schon kurz nach dem Lunch um 13h die Augen und öffnen sie erst um 23h wieder, als es Frühstück gibt. Sie schlafen den Schlaf der Seligen. Fällt es Menschen aus Asien leichter, schon Mittags einzuschlafen? Wenn ich das nur könnte!! Ich schließe während des Fluges immer mal wieder auch die Augen und versuche vergeblich, mir vorzustellen, wie es wohl so in Malaysia so aussieht und wovon die vielen schlafenden Menschen im Jumbojet von Singapur Airlines gerade träumen…
Als wir in Kuala Lumpur ankommen, kommt mir am Flughafen erst einmal alles gar nicht so exotisch vor, wie ich es mir gedacht habe. Wir werden abgeholt und fahren mit einem kuriosen chinesischen Taxi erst lange durch Dattelpalmenplantagen, die den hier ursprünglichen tropischen Wald längst ersetzt haben und nähern uns immer mehr dem Stadtzentrum. Schon in den Vororten staunen wir über riesige Hochhaussiedlungen. Dass K(äi) (Äl)L, wie Kuala Lumpur von Einheimischen genannt wird, nur etwas mehr als zwei Millionen Einwohner haben soll, erstaunt mich sehr. Es wirkt fast so groß, wenn nicht sogar größer als Istanbul, die 20 Millionenstadt, mit der es der vielen Autobahnen und der Architektur wegen eine gewisse Ähnlichkeit hat. Aber bei all den Hochhäusern, die zu drohenden hohen Schatten werden, je mehr wir ins Zentrum kommen, fehlt doch etwas: Wo ist hier bloß normales Leben, wo Kultur? frage ich mich im Vorüberfahren. Es sind kaum Fußwege zu sehen und wenig Menschen auf den Straßen. Ich denke wieder an Istanbul, das so voller Leben ist, voller Menschen und voller Gerüche, voller Moscheen und Kirchen und voller Geräusche. KL hingegen wirkt vom Auto aus wie eine surreale und fast bedrohlich futuristische und doch ein wenig heruntergekommene Kulisse für einen Sciencefictionfilm. Diese vielen Hochhäuser, die durchzogen sind von Autobahnen, Autobrücken und Tunnel erinnern mich vor allem an einen Film: Blade Runner; auch wenn die Menschen, der Qualm und die offenen Feuer fehlen. Das wird hier ersetzt durch dicke Luft. Als wir aus dem Auto steigen, sind wir von der Wärme erst einmal wie erschlagen. Unser Hotel ist fast 40 Stockwerke hoch, und die Rezeption ist auf dem 40. Stock. Der Fahrstuhl, der uns in wenigen Sekunden bis nach oben bringt, hat nur zwei Stopps. Oben haben wir einen spektakulären Ausblick auf die ringsum liegenden Hochhausriesen Mit einem anderen Fahrstuhl fahren wir dann in unser Zimmer im 34. Stock, das ringsum verglast ist und von dem aus man die Petrona Towers, das ehemalige Wahrzeichen der Stadt, die höchsten Zwillingstürme der Welt, direkt vor der Nase hat. Ganz weit unten fahren wie Spielzeuge die kleinen Autos, alle auf der linken, der englischen Seite. Malaysia war lange britische Kolonie. Und anders als in Istanbul sprechen hier alle Englisch. Aber ich habe trotzdem zwei malayische Wörter gelernt. Danke heißt terima kasih. Und das habe ich hier heute schon oft gesagt. Denn Dienstleistung wird groß geschrieben.
Wie ist das eigentlich hier in Malaysia mit den verschiedenen Volksgruppen, frage ich später. Wir haben ca. 85 Prozent Malaien, die muslimisch sind, denen gehört 90 Prozent des Landes, höre ich dann. 10 Prozent sind Chinesen, die machen das fette Geld und profitieren von 90 Prozent des Landes. Und der kleine Rest sind Inder, das sind die, die vor allem arbeiten, sie schuften schwer und verdienen nicht genug zum leben und zum sterben. Und auch wenn die Volksgruppen sich so gut wie gar nicht untereinander mischen, ist das Leben hier ruhig, es gibt wenig Konflikte, was wohl auch an dem mehr oder minder autokratischen Regime liegen mag; alle fünf Jahre ist einer der Sultane der verschiedenen Regionen der jeweilige Herrscher. Junge Menschen, die nicht malayischer Herkunft sind, müssen allerdings im Ausland studieren, weil sie in Malaysia, das malaiischstämmige Menschen bevorzugt behandelt, keinen Studienplatz bekommen. Seiner Geburt entgeht man hier in Malaysia nicht. Denn die „Rasse“ wird bei den Malaien im Ausweis eingetragen. Das finde ich irgendwie gruselig…
Die verschiedenen Menschen und Völker haben einen enormen kulinarischen Reichtum nach Malaysia gebracht. Als wir essen gehen, können wir uns an der Mischung aus malaiisch-chinesisch-indischem Essen kaum satt sehen. Alles wird frisch gekocht, es gibt die exotischsten Früchte und Gemüse, deren Namen ich nie gehört habe und sofort wieder vergesse und das Essen riecht und schmeckt nicht nur köstlich, sondern sieht auch phantastisch aus. Aber nicht nur das Essen ist eine Mischung aus den drei hier vorkommenden Volksgruppen, sondern auch die malaiische Sprache, in die Wörter aus dem Indischen, Chinesischen und sogar aus dem Niederländischen eingeflossen sind. Zum Nachtisch gibt es die malaiische Eisspezialität: Ais Kacang: Geschabtes und mit Rosenwasser aromatisiertes Eis mit Kidney- und Tonkabohnen und lauter anderen bunten Dingen, die ich nicht benennen kann.

Eine Mittagsmahlzeit kostet 2 Euro und Das Durchschnittseinkommen beträgt 800 Euro im Monat. Benzin ist sehr billig und wir sehen nur neue Autos auf den Straßen. In Malaysia gibt es 3 Prozent Superreiche. Diese 3 Prozent haben es hinbekommen, dass die Stadt Kuala Lumpur im Zentrum wie eine Superreichenstadt wirkt. In unserem Viertel reiht sich ein Hochhaus an das andere, ein jedes mit einem Luxushotel von einer der vielen Luxushotelketten, die es auf der Welt gibt und die in Istanbul in großen prächtigen alten Palästen am Bosporus untergebracht sind und hier in in den Himmel ragenden Hochhäusern, die überhaupt nicht so wirken, als würden sich Menschen in ihnen aufhalten. Die Straßen sind sehr sauber, der Verkehr ist gewaltig, der nahe KL-Park gepflegt und jeder der dort wachsenden exotischen Bäume mit Nummer und Karte registriert. Rings um den Park sind Wolkenkratzer, die es hier vor dreißig Jahren noch nicht gab; nur mit viel Glück wurden diese kleinen Grünflächen vor der Bebauung gerettet, heißt es dann. Wir gehen ein wenig spazieren, bei 35 Grad und Wolken, es ist extrem stickig und riecht ein wenig wie im Tropenhaus. Im nahe gelegenen KL-Park, der von künstlichen Seen und Springbrunnen durchzogen ist, treffen wir die trotz der Temperaturen herumflanierenden Menschen, die bis auf wenige Ausländer sehr züchtig angezogen sind. Alle hier sind sehr freundlich und ich werde von wildfremden Menschen angelächelt und gegrüßt, selbst von Männern, was ich sonst in muslimischen Ländern selten erlebe.
Als wir wieder vor dem Hotel ankommen, ist dort alles voller Polizei und Menschen im Anzug und mit schwarzen Kopfbedeckungen. Was ist hier los? Der Sultan von Brunei ist heute im Hotel zu Besuch. Er ist der Besitzer des Hotels und kehrt zuweilen mit seiner Entourage ein. Das sind ca. 30 Herren in schwarzen Anzügen, mit Schlipsen und Kopfbedeckungen. Das lässt sich nur aushalten, wenn man sich von einer Klimaanlage zur nächsten fortbewegt. Ein roter Teppich ist ausgerollt, er wird gerade gestaubsaugt. Ich hätte den Sultan auch gerne gesehen, aber wir gehen weiter, so richtig traue ich mich nicht, zu warten. Auf Fotos sieht er eigentlich ganz normal aus, ein kleiner, unauffälliger Mann, der schon 50 Jahre regiert, der dienstälteste Monarch der Welt und wohl auch der Reichste, wenn nicht sogar der reichste Mensch der Welt, das weiß niemand genau. Seltsam, dass er sich dann in so einem Hotel einquartiert und nicht ständig in Palästen wohnt. Die Vorstellung, heute nacht mit ihm unter einem Dach zu schlafen, ist irgendwie lustig.
Korruption und Bestechung gibt es in großem Ausmaß in dieser Stadt, die auf mich wie eine nicht wirkliche Stadt wirkt, sondern wie eine Mischung aus Traum und Film. Die Wirtschaft hier boomt wohl auch wie verrückt. Das liegt unter anderem daran, dass die chinesische Wirtschaft nicht mehr boomt wie verrückt und dass viele Chinesen inzwischen ihre Waren in Malaysia produzieren lassen, das Label „made in malaysia“ verkauft sich besser als „made in china“. Trotzdem haben sie hier alle Angst vor einer Machtübernahme der Chinesen. Taiwan wollen die Chinesen 2027 einnehmen, höre ich und auch, dass Covid nur eine Übung für die Chinesen gewesen sei, um rauszubekommen, wie autark sie sein können im Falle eines Krieges. Wieder einmal muss ich mich wundern über meine eurozentrische Sicht. Denn dieses ist viel schlimmer als meine Amokphantasien aus dem Blog von gestern und ein Schreckensszenario, von dem man in Europa, das sich vor allem auf Trump und seine Politik und noch ein wenig auf Putin und seine Politik konzentriert, und das auf einmal so weit weg ist, kaum einmal Erwähnung findet…