vonSabine Schiffner 07.10.2024

fremdeln

Sabine Schiffner dichtet und denkt über sich und andere nach.

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Eigentlich fahre ich heute morgen nur deshalb zum Bremer Hauptbahnhof, weil ich gestern mein Handy dort verloren habe. Es soll laut meiner Suchfunktion, die bei Apple automatisch eingerichtet ist, im Café hinter dem Hauptbahnhof sein, wo ich gestern noch einen Kaffee getrunken habe. Ein wenig schäme ich mich immer für mein iPhone, weil es so ein riesiger fieser Konzern ist, der es baut und auch, weil es in China hergestellt wird. Denn dass wir so überschwemmt werden mit chinesischen Produkten, gefällt mir nicht. Noch gestern hörte ich, dass es einen Einfuhrzoll auf Elektroautos in Deutschland geben soll, dass aber die Politik hier nicht mitspielen will und las, dass die jungen Menschen in Deutschland sehr viel weniger Probleme mit dem Kauf von in China hergestellten Dingen haben als wir Älteren. Macht sie denn das Schicksal der Uiguren nicht betroffen? Und die vielen Hinrichtungen? Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte die Jüngeren nicht mehr verstehen. Das bedeutet wohl, dass ich inzwischen wirklich alt geworden bin. Älter jedenfalls als meine Großeltern, als sie mich das erste Mal sahen und die sich auch immer darüber beklagten, dass sie die Jugend nicht mehr verstehen würden.

Heute Morgen bin ich froh, dass ich ein chinesisches I-Phone habe das, wie mir mein zweites und ausrangiertes I-Phone anzeigt, hoffentlich auch heute morgen noch in dem Café liegt, das gestern Abend, als ich den Verlust feststellte, schon geschlossen war. Als ich am Bremer Hauptbahnhof ankomme, wundere ich mich sehr über die unglaublich vielen Menschen, die sich durch den Hauptbahnhof drängen. Als erstes gehe ich zum Rossmann, denn ich habe kein Bargeld mehr. Im Rossmann spreche ich eine Verkäuferin an, sie sagt, ab 10 Euro Einkaufwert könne man Geld abheben. Ein älterer Mann steht neben uns, er hat gehört, was ich bezüglich des Geldabhebens gesagt habe „Wer heutzutage Geld abheben kann, dem geht es gut!“ , sagt er und lacht mich an. Recht hat er, denke ich und schäme mich fast dafür, dass ich Geld abheben kann und dafür auch noch zehn Euro ausgebe.

Mein altes Handy, das ich zur Ortung des Verschwundenen mitgenommen und mit dem ich mich im Rossmann online eingeloggt habe, so dass ich kontrollieren kann, dass mein Handy noch in dem Café liegt, klingelt.

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Mein bester Freund, den ich noch aus unserer gemeinsamen Bremer Jugend kenne, hat mir geschrieben: „Du musst unbedingt ins Überseemuseum gehen. Meine Sänfte ist jetzt ausgestellt“ Der Gatte meines Schulfreundes, der vor zwei Jahren verstorben ist, war ein leidenschaftlicher Sammler. Er liebte unter anderem chinesische alte Gegenstände und hatte seine Wohnung in Köln damit komplett vollgestellt, sie war ein richtiges Kuriosenkabinett. Ich erinnere mich daran, dass dort eine Sänfte stand und dass ich mich gerne einmal hineingesetzt hätte, aber dass sie viel zu klein war für einen großen heutigen Menschen wie mich und dann fällt mir ein, dass mein Jugendfreund mir erzählt hatte, dass er sie dem Überseemuseum stiften wollte. Er bittet mich, dort hinzugehen und Fotos von der Sänfte zu machen, er sei in Paris und schaffe es nicht, nach Bremen zu kommen.

Als ich den Rossmann verlassen will, steht der ältere Mann von vorhin neben einer Verkäuferin und entschuldigt sich, dass er sie anspricht, während sie gerade Waren einräumt: „Ich bin Frau, ich bin Multitasking“, antwortet sie. Ich denke, dass ich auch so eine Art Schreib-Multitaskerin bin, auf der Suche nach beschreibbaren Erlebnissen hin- und herschweifend, zwischendurch telefonierend und Whatsapp schreibend. Sind denn nur Frauen Multitaskerinnen? Sind nicht wir heutigen Handymenschen nicht alle handygedrungen Multitasker*innen? Und habe ich nicht oft das starke  Bedürfnis, wieder handylos leben zu können? War nicht das handylose Leben besser als das heutige Leben? Wünsche ich mir nicht manches Mal, dass ich mein Handy verlieren und mir dann kein neues mehr besorgen würde?

Ich gehe weiter, schlängele mich durch die Menschenmassen am Bahnhof. Wir gönnen es euch, wenn ihr heute gewinnt, höre ich Teilnehmer einer kleinen grünweißbeschalten Gruppe zu welchen mit den Farben von Freiburg sagen. Wie freundlich die Fans doch hier in Bremen miteinander umgehen!! Polizei sehe ich trotz der Menschenmassen nicht.

Vor dem Überseemuseum sitzen wie so oft sehr verelendet aussehende Menschen. Ein alt aussehender Mann mit Hut hat seine Beine entblößt, sie sind mit verschorften und offenen Wunden übersät. Drei Personen kommen zu der Gruppe, in der er sich aufhält. Sie prosten sich mit ihren Bierflaschen zu und begrüßen sich mit Dobr Djenj. Sind es Russen? Oder Ukrainer? Ich kann es nicht beurteilen, aber es macht mich traurig. Vorhin habe ich noch in der Zeitung gelesen, dass alleine dieses Jahr in Hamburg  24 obdachlose Menschen verstorben sind, die Hälfte davon auf der Straße, fast alle an Lungenentzündung.

Wer heutzutage noch 13,50 Euro zahlen kann für den Eintritt im Überseemuseum, muss genug Geld haben, denke ich, die sich nur eine Sänfte ansehen will. Vor allem, wenn gerade Umbauarbeiten sind und die Hälfte des Museums nicht betretbar ist. Ein wenig bereue ich meinen Besuch schon. Hätte ich das Geld nicht besser eben den bedürftigen Menschen auf dem Vorplatz gegeben, die mich dort nach Geld gefragt haben, anstatt es für Fotos von einem Luxusobjekt der Vergangenheit auszugeben? Aber das Museum ist immerhin gut besucht. Das freut mich.

Über hässlichen blauen Linoleumboden gehend erreiche ich, als ich in Richtung der Abteilung Seidenstraße gehe, bald das Objekt meiner Suche: Ein Prunkstück der Sammlung, schreibe ich meinem Jugendfreund und schicke ihm verschiedene Fotos. Vor ungefähr fünfundvierzig Jahren war ich zuletzt im Überseemuseum, das heute immer noch dieselben Ausstellungsstücke hat wie damals (plus einer neuen Brautsänfte), was mich seltsam berührt. Aber sie sind nicht mehr so prächtig und schön ausgestellt wie früher und mit lebensechten Dioramen aus exotischen Weltgegenden versehen, sondern wurden wegen der Umbauarbeiten in einer Ecke mehr oder minder zwischen Baustellen zusammengequetscht. Trotzdem fällt mir, als ich die anderen Gegenstände der Sammlung sehe, sofort wieder ein, wie fasziniert ich schon als Kind insbesondere von der chinesischen Abteilung war. Vor allem ein sehr langer, mit kleinen Figuren nachgestellter Hochzeitszug hatte es mir damals schon angetan. Fasziniert stehe ich davor und betrachte die Details und fühle mich plötzlich doch nicht mehr wie meine Großeltern, sondern bin wieder das Kind, das mit den Großeltern hierherkam.

Ich verlasse das Überseemuseum wieder und gehe nun endlich zu dem Café, wo sich laut meinem I-Phone immer noch mein anderes I-Phone befinden soll. Ich bin aufgeregt. Natürlich möchte ich mein Handy wiederhaben, es war zu teuer, als dass ich es einfach verlieren wollte. Als ich einen Kellner anspreche, führt er mich zur Kasse. Der Mann dort guckt mich erst so an, als wisse er nicht, dass ein Handy abgegeben worden sei. Dann fragt er mich mit belehrender Miene, was denn auf dem Bildschirm zu sehen sei. Mir fällt im ersten Moment nicht ein, was auf meinem Handybildschirm zu sehen ist. Warum fragt er mich so etwas? Es habe eine blaue Hülle, sage ich und einen Aufkleber. Da fasst er gnädig in eine Schublade und holt mein Handy heraus! Das ist ja nochmal gut gegangen! Ich bin sehr erleichtert, bestelle mir einen Cappuccino, setze mich an einen Tisch und schreibe das folgende Gedicht:

 

den bach runter gehen

da draußen schreit wer nun schon drei minuten

ein mann der seinen anschluss nicht mehr

kriegts beschwert sich dann bei mir als wäre

ich dafür verantwortlich er sagt

in deutschland geht es so

den bach runter

da im café da sitzt ein

mann im roten poloshirt ihm

gegenüber eine frau in

modischem froschgrün

ich zieh mir

einen capuccino suche mir einen freien stuhl

höre die ganze zeit

wie einer schreit und weiß nicht was

er schreit es ist gewiss nicht der mit

dem nur einen bein der eben in der

tür stand als ich eintrat und auch

nicht der im rollstuhl

mit dem er dort zusammen stand und ganz

nervös in richtung schreien guckte

warum der draußen wohl so schreit warum

der mann nicht  damit aufhören kann

die drogis stehen immer noch vor der tür

und gucken so nervös

und auch hier drinnen kommt jetzt

unruh auf dann blinkt ein blaulicht

das beruhigt der mann in rot die frau in

grün stehen schnell auf und gehen raus

ich trinke meinen kaffee aus

und gehe auch zur kasse hin da

seh ich ihn

umringt von polizisten

kniet er auf dem boden

ein polizist drückt hilflos blickend seinen kopf

nach unten das tut mir furchtbar leid

aber er hört immer noch

nicht auf und schreit und schreit

und schreit

 

 

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